Beilage
Montag, 23. April 1928
Der Abeno
Spalausgabe des Vorwärts
Soziale Not als Ursache der Verbrechen
Mit dem Sechser fängt es an, mit der Hinrichtung hört es auf von Friedrich Wendel.")
Fast alle Verbrechen haben ihre Ursache in der Unzulänglichkeit sozialer Verhältnisse, meist ist es das materielle Elend, das zu Bergehen und Verbrechen treibt. Goethes berühmtes Wort: Ihr
Der Reiche und der Arme vor Gericht. Karikatur auf die englische Klassenjustiz im 19. Jahrhundert.( Punch", London 1844.)
faßt den Armen schuldig werden, dann überfaßt ihr ihn der Pein" spricht dasselbe aus, was zweihundertfünfzig Jahre vor ihm der große Engländer Thomas Morus zornig gesagt hat:" Bas tut ihr? Ihr macht die Leute zu Dieben, um sie später aufzuhängen!" In der fachlichen Sprache unserer Tage drückte das der angesehene bayerische Nationalökonom Prof. Georg v. Maŋr einmal so aus;„ Man kann nicht anstehen, zu bekennen, es habe so ziemlich jeder Sechser, um den das Getreide im Preise gestiegen ist, auf je 10 000 Einwohner einen Diebstahl mehr hervorgerufen, während das Fallen der Gefreidepreise um einen Gedser bei der gleichen Zahl von Emwohnern je einen Diebstahl verhütet hat." August Bebel („ Die Frau und der Sozialismus") teilt über die große Absatzkrisis der Jahre 1890-93 mit: In Sachsen wurden im Jahre 1890 wegen Bettelei 8815 Personen bestraft, 1891: 10 075 und 1892: 13 120. Aehnlich in Desterreich, wo im Jahre 1891 megen Vagabondage und Bettelei 90 926 Personen verurteilt wurden, im Jahre 1892: 98 998." Frithjof Nansen und andere Geographen und Ethnologen weisen mehrfach auf die Tatsache hin, daß bei Völkerschaften, die ein Privateigentum nur in sehr beschränktem Umfang fennen, Diebstähle und Raube logischerweise überaus selten seien, wie denn die Ziffer auch aller übrigen Berbrechen merkwürdig gering sei. Die soziale und materielle Bedingtheit des Verbrechens Tiegt so flar zutage, daß selbst verbissene Anhänger der Todesstrafe wenigstens diese Erscheinung nicht zu leugnen wagen.
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Und das ist das Furchtbare: Jede Verschärfung einer Notlage infolge Verteuerung der Lebenshaltung nimmt in ihrer verhängnisvollen Wirkung nach unten progressiv zu! Wirkt sich die Steigerung des Getreidepreises um 5 Pf. zunächst in der Kategorie der üblich schlecht bezahlten Arbeiler in an sich harmlosen, aber nichtsdestoweniger strafbaren Diebstählen aus da läßt man ein Stück Metall aus dem Betrieb mitgehen, um es zu verkaufen, dort vielleicht ein Pfund Zucker oder einen Meter Stoff aus dem Lagerbestand, so sieht die Sache in der nächstniedrigen Einkommensfategorie schon bedenklicher aus, um schließlich im Bezirk frasse= sten Elends dort, wo 5 Pf. schon eine große Summe Geldes darstellen! zu frassesten De liften zu führen! Hinzu kommt, daß, je größer und ununterbrochener das materielle Elend ist, um so dumpfer die moralische Atmosphäre sich gestaltet. Ist schon aufgefallen, daß der größte Prozentsatz der Raubmorde( das trifft ganz besonders auf die
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Summen
lich geringer Summen oder Werte willen begangen worden ift? Auch Morde an Geldbriefträgern und Viehhändlern haben den Mör dern durchaus nicht immer jene eingebracht, DON denen eine schlecht informierte Reportage fabelt. Natürlich tommen auch Morde um hohe Werte vor, bei weitem über wiegen aber die Raubmorde um geringe Beträge.
Wie bei den von höchster Not bedrängten Menschen jedes flare Denten aufhört und einer ausgesprochenen Sinnlosigkeit des Handelns Blaß macht, dafür haben unsere Tage ein flassisches Beispiel in dem bekannten D 3ug Attentat von Leiferde geliefert. Drei junge Menschen, feit langem arbeitslos, obwohl ar beitswillig, ohne jede Mittel, ohne Obdach, auf Vagabondage und
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Siehe die Artifel in Nr. 100, 104, 122, 144 und 162.
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Bettel angewiesen, der ihnen meist nur eine Mahlzeit am Tage| Hilfe in einem einzelnen Fall die Quelle des Verbrechens nicht zum einbringt, häufig nicht einmal diese eine Mahlzeit, schlecht gekleidet, Bersiegen gebracht wird! Nur eine Hilfe im großen, eine Minderung schlecht beschuht, zermürbt, verbittert, ohne Aussicht auf beffere Tage, und schließliche Beseitigung des Elends breiter Schichten der Bebeschließen an einem Tage, der ohne Mahlzeit geblieben war, einen Eisenbahnzug zur Entgleisung zu bringen, um sich durch Plünderung des Postwagens und der Reisenden in den Besitz größerer Mittel zu sehen! Das heißt alfo, sie beschließen eine Unmöglichteit! So fürchterlich tatsächlich die Wirkung des Attentats war, eins mußten sich die Attentäter bei flarer Ueberlegung vorher selber sagen: daß die Aussicht, daß alle Reisenden und Beamten ums Leben kommen würden und der beabsichtigte Raub also ungestört und ohne Zeugenschaft vor sich gehen fönnte, von vornherein gleich Null mar. So fiel denn auch den Attentätern nicht ein Pfennig in die Hände, nicht einmal eine Butterstulle, die Plünderung war unmöglich, da genug gesunde Menschen im Zug übrig blieben, im übrigen packte die Attentäter beim Anblick des Trümmerfeldes das Grauen und sie wandten sich zur Flucht. Der ganze Plan weist alle Merkmale einer Hungerphantasie auf, er läßt sich nur aus einer zeitweisen Geistesstörung erklären.
Kostbare Menschenleben wurden in Leiferde vernichtet, eine Reihe von Familien wurde durch die Beseitigung der Ernährer mit einem Schlage wirtschaftlich zurückgeschleudert, riesiger Materialschaden wurde angerichtet und das alles, weil drei junge Menschen von Hungerdelirien befallen worden waren! Preisfrage: wieviel Mark hätten genügt, um einen Schaden von Hunderttausenden von Mart abzuwenden?
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Der Zorn stellt diese Frage. Selbstverständlich, daß mit der
Brüder, laßt die Schwermut fahren, Schwestern, laßt das Trauern sein, Badet euch im kühlen, klaren Frühlingswind die Seelen rein. Hebt die Herzen in die Sonne! Bebt, schon grünen Busch und Strauch! Nach den schweren Winterwochen Zittert, grünt und leuchtet auch. Seht, schon fliegen Schmetterlinge Wundervoll durch allen Duft, Sie zerbrachen leicht die Schlinge Ihrer schwarzen Larvengruft. Ja, so heben wir die Flügel, Ja, so sind auch wir befreit Aus der schwarzen Gruft der Arbei. Hin zur Frühlingsherrlichkeit!
Wenn der Wind in unsern Locken, Wenn der Wind die Herzen kühlt, Stürmen hunderttausend Glocken Und wir werden aufgewühlt, Wandern selig in die Ferne, Himmelstürmer, grün umlaubt, Und des Abends blühn die Sterne Strahlend über unserm Haupt! Jugend trinkt aus goldnem Becher Und spürt schaudernd jede Lust, Und es blühn dem trunknen Zecher Alle Sterne in der Brust. ad Brüder, Schroestern, laßt uns wandern, Bis die Sterne schlafen gehn, Bis der Sonne Flammenpferde Hell am Morgenhimmel stehn!
Der Urberliner.
oid.
Der unermüdlich an der Berliner Chronik bauende Hans Ostwald hat eine neue Folge„ Der Urberliner" im Verlag Paul Franke, Berlin , herausgebracht. Wir entnehmen dem Buch folgende
nette Echerze:
Zugend fann Straucheln..
Die Tochter des Theaterdirektors Dobbelins hatte am Ende
Als
des 18. Jahrhunderts ein intimes vieljähriges Verhältnis mit einem Manne, den sie aus manchen Gründen nicht heiraten konnte dies Verhältnis zum zweiten Male Folgen hatte, machte das Publikum bei ihrem Erscheinen auf der Bühne großen Lärm. Sie mußte von der Bühne abtreten. Das Publikum gab sich nicht zufrieden, bis der Direktor erschien, und zwar etwas erregt, aber mit seinem gewöhnlichen Pathos begaan:
„ Geschätztes Publikum! Tugend fann strauchein. Da rief jemand aus dem Publikum: „ Aber nicht zweimal!"
Unter Lärm und Gelächter mußte Döbbelin abtreten.
Bom grünen Wagen.
Der grüne Wagen" ist bekanntlich jenes berüchtigte Fahrzeug, in dem die Verbrecher oder sonstigen Arrestanten von den Polizeiin dem die Verbrecher oder sonstigen Arrestanten von den Polizei hafträumen nach dem Untersuchungsgefängnis in Moabit gebracht werden. Vom grünen Wagen" wird erzählt, daß ihm einmal
völkerung fann eine Berringerung und schließlich die Beseitigung jener Berbrechen bewirken, die ihre Ursache in der sozialen Not haben.
beide Achsen auf einer Seite gebrochen wären und er sich dadurch ganz schief gelegt hätte. Auf dieser Seite haben nämlich lauter schwere Verbrecher" gesessen, während auf der anderen die„ leichten Bersonen" interniert gewesen seien. Ein Vorübergehender rief, als er diesen Sachverhalt erfuhr, dem begleitenden Polizeibeamten zu: „ Na, denn machen Sie doch die Tür auf und setzen die Leute um. Dieser erwiderte jedoch:
Ich kann ja die Tür nicht aufmachen, da siẞt inwendig ein Buhälter" vor."
Kirchenbesuche.
Schleiermacher war den Berlinern noch außerdem als geistreicher und wißiger Mann besonders lieb, und man pflegte die feinsten und besten Scherze, die in Umlauf famen, ihm zuzuschreiben. Auf die große Zahl der Zuhörer, die sich allsonntäglich, um ihn zu hören, in der Dreifaltigkeitsfirche einfanden, sei er, so erzählt man, gar nicht stolz gewesen, sondern habe einst gesagt:
In meine Kirche kommen hauptsächlich Studenten, Frauen und Offiziere. Die Studenten wollen meine Predigt hören, die Frauen wollen die Studenten sehen. Und die Offiziere kommen der Frauen wegen."
Zwillinge.
Ein fleiner Junge von drei Jahren spielt zwischen den Straßenbahnschienen herum, ein großer Junge von elf Jahren schaut ihm zu. Ich trefe heran und frage den Großen: Ist der Kleine da dein Bruder?" Ja?"„ Dann nimm ihn doch von den Schienen weg, der wird ja da überfahren!"
,, Ach," sagte der große Junge, das macht nichts, wir haben zu Hause denselben noch mal!" とい
For mir!
Eduard Bernstein erzählt folgende Anekdote:
Es ist Markttag. Die Köchin, die eingekauft hat, rechnet mit Frau Gans ab. Bei den Worten Fische( Lachs) einen Taler" unterbricht sie Frau Gane:„ Sieht Sie, jetzt habe ich Sie mal erwischt. Sie betrügt mich!"
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Köchin( in herausforderndem Ton): Wat? Idk betrüge?" Frau Gans: Jawohl, Sie betrügt, Sie hat feinen Taler bezahlt, sondern nur zwanzig Groschen."
Köchin( uneingeschüchtert):„ So, ich habe bloß zwanzig Groschen bezahlt? Woher wissen Sie denn det?"
Frau Gans:„ Ich habe hinter Ihr gestanden und gesehen, wie Sie nur zwanzig Groschen bezahlt hat."
Köchin: Also hinter mir haben Sie gestanden? Na, denn haben Sie wohl auch gehört, was det Fischweib gefordert hat?" Frau Gans: Gewiß habe ich das gehört, das Fischweib hat
einen Taler gefordert. Sie hat aber bloß zwanzig Groschen bezahlt
und zehn Groschen hat Sie abgehandelt."
Köchin( triumphierend):„ Na, ja, wenn ick handle, dann handle id for mir und nich for die reiche Frau Jans!"
Saal und Tribüne.
Im Vortriegsreichstag waren viele Redner, die man auf der Preffetribüne nicht verstehen konnte, die aber nich so wichtig waren, daß die Beitungsberichterstatter sich nother das amtliche Stenogramm geholt hätten, um einen Auszug daraus zu marten Ein alter entrumsmann follte einmal die damals noch nicht bestehende Sonntagsruhe für die Handlungsgehilfen gefordert haben. So oft er nun sprach immer wurde ihm in der Presse dieses Thema zugeschrieben. Da nahm er einmal feine ganze Stimmtraft zusammen. und nach seiner Meinung donnerte er den Journalisten zu: Ich bitte nun aber dringend, zur Kenntnis zu nehmen. daß ich heute über die Frage der geistlichen Schulaufsicht spredje!!!"
Am nächsten Morgen aber stand in fast allen Zeitungen: Abg. X.( 3.) tritt für die Sonntageruhe der Handlungsgehilfen ein." Bom Abg. X. aber ist nur noch zu melden:„ Die Augen saben ihn sinken, hielt teine Rede mehr."