Morgenausgabe
Nr. 209 A 106
4S.Iahrgang
WSch-ntNch 85 Mg.»u»aMch z,« Hl im soraus zahlbar Poflbe�ug<N M. einschl. Lesi«llg«u>, ilimlnnvsabonne- mnil 8.—<DL pa Monat. * Dar.Bormärt** enchctat wocheatSg- lich zweimal, Sonntag» mä Montag» einmal, die Äbendausgaben für kerlin und im Handel mit dem Titel.Der kbend*?lluftrierte Keilas en.kalt und Zeit* und.kindersreuml*. Ferner .Unterhaltung und Dillen*,.grauen» sHmtne*»Technik*.Dlich in die Büchennelt* and.Jugeud-Lormär!»*.
G. Nerlinee Volksblatt
Zreiiag 4. Mai 1928 Groß-Äersinlypf. Auswäris 15 pf.
Die einspaltige Nonpareillezeile 80 Pfennig. ReklamexeUe 5.— Reichs- mark. Kleine Anzeigen" das fettge- druckte Wort 25 Pfennig(zulässig zwei settoedruckte Worte), jedes weitere Wort 12 Pfennig.»Stellengesuche das erste Wort 16 Pfennig, jedes weitere Wort 10 Pfennig. Worte über 16 Buchstaben zählen für zwei Worte. Arbeitsmarkt Zeile S0 Pfennig. Familienanzeigen für Abonnenten Zeile 40 Pfennig. Anzeigen» annahm« im Hauptgeschäft Linden» straßeZ. wochentägl. von 8�/, bis 17 Uhn
JenttZawVsan der Goziawemotvatttchen Vavtei Neutschtands
Redaktion und Verlag: Berlin SW 68, Lindenstraße 3 �erilsprcch«: Tönhofs 292—297 lelegrtmim-Zldr.: Sozialdemokrat Berli»
Vorwäris-Verlag G.m.b.H.
Postschetkkonto: yerlw 87 öSS,— Bankkonto: Lank der Arbeiter, Angestellt« und Beamten Wallstr. KS, MSkonto-Gesellschaft. Depositenkasse Lindenstr. 8
DorbemertungderRedattion:Inden folgen- den Ausführungen gibt unser Kollege Victor Schiff , einer der besten Kenner Frankreichs und der französischen Politik, persönliche Eindrücke wieder, die er in einer ausführlichen Unterhaltung mit Herrn P o i n c a r� erhalten hat. Er knüpft an sie eine Erörterung über die künftige Regierung Deutschlands und ihre Politsk. Es versteht sich von selbst, daß sein Artikel, soweit er über allgemein Bekanntes und Gültiges hinausgeht, sein persönliches geistiges Eigentum ist. Allgemein bekannt ist. daß Herr Poincor6 auch schon in der Vergangenheit der letzten Jahre kein Hindernis für die Verständigungspolitik B r i a n d s gewesen ist. Wgemein gültig für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist die Anerkennung der Notwendigkeit, die Verständigungs- Politik auch nach den Wahlen erst recht fortzusetzen. Sie liegt im wahrhaft nationalen Interesse beider Völker und im Jnter- esse der ganzen Menschheit. Darum ist die Vernichtung der alten„Erbfeind�-Ideologie und die Zurückdrängung natio» nalistischer Einflüsse hüben und drüben die wichtigste außen- politische Ausgabe für die Sozialisten auf beiden Seiten. In diesem Sinne führen wir den Wahltampf für das deutsche Volk gegen die Deutschnationalen. So besteht über die Grundlinien unserer Politik in der Partei und in der Redaktion dieses Blattes volle Ueberein- stimmuna. Was Genosie Schiff darüber hinaus an p e r s ö n- l i ch e n Eindrücken wiedergibt und was er aus ihnen folgert, oertritt er selber an dieser Stelle mit seinem Namen.
pari». 2. Mai. Die deutschnationake Presse hatte die Ergebnisse des ersten Wahlgangs mit Jubel aufgenommen, weil sie sich davon für die neue Leputiertenkammer eine Mehrheit nach dem Vorbild des früheren.Nationalen Blocks" versprach. Inzwischen dürste den deutschen Nationalisten das Ergebnisder Stichwahlen eine gewisse Enttäuschung bereitet haben: das neue französisch« Parlament wird sich von seinem Vorgänger nicht wesentlich unterscheiden. Dennoch werden die Deutschnatlonolen nicht verfehlen, das Schlagwort.P o i n c a r e" für die eigene Wahlpropaganda bis zum 20. Mai zu verwenden. In Ermangelung zugkräftiger Parolen werden sie behaupten, daß die von den deutschen Linksparteien und besonders von der Sozialdemokratie geforderte V e r st ä n d i- gungspolitit Schiffbruch erlitten habe, da die Regierung Poin- cart aus der Wahlschlacht wenn nicht gestärkt, so doch durch die Mehrheit der Stimmen und durch die Verteilung der Mandate zu- mindest bestätigt hervorgegangen ist. Es muß demgegenüber gesagt werden, daß das Argument .Poincare", dessen sich die Deutschnationalen bei den Reichstags- wählen von 1924 mit unbestreitbarem Erfolg bedienten— zu einer Zeit, in der das Ruhrgebiet noch besetzt war und wo die ersten An- zeichen einer deulsch-französischen Entspannung noch gar nicht in Sicht waren—, heutzutage keinerleiWert mehr besitzt. Dieses Argument vermag in keiner Weise eine noch so geringfügige Aendernng der deukschen Außenpollklt zu rechtfertigen, die in L o n d o n für die Regelung des Reparations- Problems eingeleitet, in L o c a r n o für die Lösung der Sicherheits- frage fortgesetzt und seither in Genf für die eigentliche deutsch - französische Annäherung und für den Ausbau des allgemeinen Friedens welter verfolgt wurde. Es ist leider unbestreitbar, daß dl« Fortschritte dieser Politik in den letzten 18 Monaten sehr langsam und wenig sichtbar waren. Wer ttägt die Schuld daran? Dies« Frag« ist außer» ordenllich kompliziert, und es spielen in sie sogar gewiss« Faktaren hinein— zum Beispiel die Hallimg der Vereinigten Staaten gegenüber dem interalliierten Schuldenproblem— die weder von dem Willen Deutschlands noch von dem Willen Frankreichs ab- hängen. Daß die Stockung, ja der Rückschlag in der Verständigungs- Politik stark mitbeeinfluht wurde durch die Rechtsschwenkung in Deutschland bald nach der Zusammenkunft von Thoiry, das ist eine Auffassung, die wir seil jeher vertreten haben. Rur eine Lintsreglerung, auf die die Sozialdemokratie den entscheidenden Einfluß ausübt, wird dem Ausland und besonders dem französsschen Volk das notwendige Vertrauen in den Friedenswillen des deutschen Volkes aufzwingen— ein Vertrauen, das zuletzt ge- fehlt hat und weiter fehlen wird, solange die Anhänger des Grafen Westarp irgendeinen Einfluß auf die Geschicke Deutschlands ausüben. Indessen beschäftigt uns hier vor allem d i e Frage, ob die Tat- fache, daß P o i n c a r e nach den Neuwahlen an der Spitze der französischen Regierung verbleiben wird, für Deutschland oder viel-
mehr für die Annäherung?- und Versöhmmgspolittk ein« wirkliche Gefahr darstellt. Es ist hier in den letzten Wochen wiederholt «ine gegenteilige Auffassung entwickelt worden, besonders nach der Rede Poincares in Carcassonne . Denn diese Red« bewies nicht allein in unseren Augen, sondern auch nach dem Urteil der franzö- fischen Linkspress« und namenllich unserer sozialistischen Freunde, daß Poincarä sich in die Richtung eines außenpolitischen Programms entwickelt, als dessen geradezu symbolischer Gegner er bisher galt— ob zu Recht oder zu Unrecht, bleib« dahingestellt. Wir hoben bereits den Artikel Leon Blums im.Populaire" ausführlich wieder- gegeben, der die außenpolitischen Stellen der Rede von Carcassonn« als die wesentlichsten dieser wichtigen politischen Kundgebung be» zeichnete und der, am Vorabend des ersten französischen Wahlgangs. von vornherein das Argument widerlegte, das erwartungsgemäß die Deutfchnationolen nach dem Wahlsieg Poincares in den deutschen Dahlkampf geworfen haben. Kürzlich hat Poincare in einem an eine französisch« Zeitschrift gerichteten Brief betont— und wir glauben versichern zu köiknen, daß dieser Brief vor allem eine Antwort auf die Kommentar« des „Vorwärts" über seine Rede in Carcassonne bildet«—, daß nicht e r, sondern die deutsche Politik seit der Ruhrbesetzung sich geändert habe. In dieser Behauptung steckt sicher ein Kern von Wahrheit, ober wir wiederholen, daß sie nur einen Teil des Problems erfaßt. Entscheidend ist jedoch, daß die Rede von Earcassonne für viele Menschen— nicht nur in Deutschland — eine angenehme Ueberraschung gewesen ist. Jetzt Hondell es Kch nur darum, aus dieser Tatsache die Konsequenzen zu ziehen, die für fen« Poll- ttk des Friedens und der Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich am vorteilhaftesten sind, der sich die Sozialisten Frank- reich? und Deutschlands gewidmet haben und auf der unsere g e- samt« Außenpolitik beruht. Die Frag«, vor der wir stehen und die nach den französischen Wahlen und am Vorabend der deutschen Wahlen von entscheidender Wichtigkeit ist, ist vor allem die: Wünscht poincar« aufrichtig die Fortschritte der deutsch » französischen Entspannung, wünscht er sogar die deuisch. französische Annäherung? Diese entscheidende Frage will ich hier unumwunden bejahen. Ich tue es Im vollen Bewußtsein der Verantwortung, die ich damit übernehme. Und ich füge hinzu: ich hie es, indem ich unterstreiche, daß die.Vorwärt»"-Redaktion in den letzten zehn Jahren einmütig die Politik sehr scharf verurteilt hat, die— zu Recht oder zu Unrecht soll hier nicht entschieden werden— Poincar« bis zu den französischen Wahlen von 1924 verkörperte. Ja, mehr noch: als vor etwa Jahresfrist die ersten Anspielungen auf Möglichkeiten einer deutsch -sranzösischen verfkäodiguagspoNtit im Zeichen PoincorSs zu unserer Kenntnis gelangten, zunächst als mündliche Zlnregungen, später als gedruckte Behauptungen, da haben wir diese Auffassung zurückgewiesen: denn wir vermuteten dahinter französische innerpolitische Intrigen, durch die Poincar« gegen Briand ausgespielt werden sollte, zum Nachteil des persön- lichen Vertrauens, das sich letzterer sowohl in Deutschland . wie in Frankreich erobert hatte. Nach diesem Geständnis bin ich wohl um so mehr in der Lag«, «ine These zu verfechten, die mir selbst noch vor wenigen Monaten unhaltbar erschienen wäie: nämlich die Behauptung, daß eine deutsch » französische Annäherung mit Poincarä als Partner nicht nur möglich ist. sondern auch daß es sein eigener Wunsch ist. an einer Verständigung zu arbeiten! Diese Behauptung beruht nicht etwa auf bloßen Gerüchten oder auf mehr oder minder sicheren Kombinationen: sie stützt sich vor allem aus eine sehr lange Unterredung, die mir der französische Ministerpräsident gewährt hat. eine Unterredung, in deren Verlauf wir fast olle Probleme erörtert haben, die Deutschland und Frankreich besonders berühren. Da Herr Poincart grundsätz- l i ch niemals Interviews gibt— weder französischen noch ausländischen Journalisten— so bin ich nicht in der Lage, öffent- kich Aeußerungen wiederzugeben, die er mir gegenüber im Rahmen eines privaten Gespräches unb einer sehr freimütigen Diskussion getan höh Unter Berufung auf meine Erfahrungen im Verkehr mit französischen Staatsmännern und auf ein durch viele Konferenzen der Nachkriegszeit gesteigertes sournalisttsches Verantwortungsgefühl kann ich zunächst das ein« sogen: ich habe von Herrn Poinearö einen wesentlich anderen Eindruck er- hallen als den, den ich«inst vor dem Krieg« gewonnen hatte, alz ich ihn oft im Parlament reden hörte, und den ich nach dem Kriege
empfand, als ich seine Reden aus der großen räumlichen und moralischen Entfernung las, die Paris von Berlin tten-nte. Wohlgemerkt: ich gebe mich keinerlei Illusionen hin. Ich bin mir nach diesem Gespräch durchaus der Läng« und der Schwierigkeiten des Weges bewußt, den wir in der Richtung der deutsch -französischen Verständigung mit Poincari als Gegenspieler werden gehen müssen. Er verbreitet nicht jene ansteckend« Wärme, die Briand auf jeden überträgt, der mit ihm zu wn hat. P o i n c a r 6 ist gewiß viel nüchterner(wenn auch die Schilderungen, die von ihm in der Presse, in Büchern und in gewissen Schlüsselromanen erschienen, offenkundig verzerrt sind) Aber in dieser Nüchternheit liegt vielleicht eine größere„S o l i d i- t ä t", gerade im deutschen Sinne des Wortes. Frellich, die juristischen Argumente spielen nach wi« vor in seinem Gehirn eine vorherrschende Rolle. Es wird uns daher jedesmal sehr große Mühe kosten, ihn davon zu überzeugen, daß ein„Rech t", dos im Friedensvertrag verzeichnet ist, keines- wegs gleichbedeutend ist mit einem„Vorteil" oder auch nur mit einem„Interesse" seines Landes. Nur durch ein wachsendes Vertrauen, das man Poincare durch die Gradlinigkeit und Kon- tinuität der deutschen Politik wird aufzwingen müssen, wird es gelingen, ihn von der Notwendigkeit zu überzeugen, im gemein- 'amen Interesse beide? Länder- auf den Buchstaben des Versailler Vertrages zu verzichten. Schon jetzt ober scheinen die ersten Vorzeichen solcher Zugeständnisse, sowie die Er- kenntnis der Interessengemeinschaft, in feinem Kopfe zu keimen und den juristtschen Panzer anzugreifen, hinter den er sich seit Kriegsende verschanzt hatte.' Das Fortschreiten dieser Entwicklung hängt allerdings zum großen Teil von uns selbst ab! Der Einfluß, den die früher herrschenden Schichten in Deutsch - land wieder erlangt haben, ist eine der Tatsachen, die geeignet sind, auf das Urteil Poincarö» und ganz Frankreichs ein« ebenso wesent- liche wie verhängnisvolle Wirkung auszuüben. Hinzu komfrit noch ein anderer Punkt, der in diesem Zusammen- hang hervorgehoben werden muß: es wird notwendig sein, daß unsere zukünftige Politik jeden Verdacht hinsichtlich der wirklichen Art unserer Beziehungen zu Sowjet- ruß land zerstreut. Daß solches Mißtrauen erklärlich ist, können wir um so eher bestätigen, als wir oft genug in der Vergangenheit auf die Gefahr solcher Mißdeutungen hingewiesen haben. Wenn die Wilhelmstrahe wüßte, welche sehr schädlichen Rückwirkungen die Haltung des Grafen B e r n st o r f f auf der letzten Abrüstungs- tagung in Genf ausgelöst hat, dann würde sie sicherlich eine Taktik vermieden haben, die den Anschein erweckt hat, als befänden wir uns im Schlepptau von Litwinoss: eine Taktik, die geeignet war, jenen Verdacht aufzufrischen, der seit R a p a l l o niemals ganz geschwunden ist und der um so bedauerlicher ist, als er sich nicht' ein- mal auf eine zielbewußte Politik bezieht, sondern auf einen diplomatischen Bluff, durch den wir nichts anderes er- reichen als uns zu kompromittieren. Diese beiden hauptsächlichen Vorbehalte vorausgesetzt, glaube ich fest an eine zwar etwas langsam, aber sicher und stetig fortschreitende Verständigungspolitik zwischen einer deutschen Linksregierung und einer s r a n z ö s i- schen Regierung unter Poincar�, die sich dabei auf die Kräfte der Linken stützen würde. Und hier möchte ich hinzufügen: Ich sage nicht:„Sogar unter Poincare ", sondern ausdrücklich:„v o r allem unter Poincarö". Gewiß: eine ausgesprochene Linksregierung in Frankreich mit unseren sozialistischen Freunden am Ruder würde wohl schneller ans Wert gehen können und jedenfalls mit mehr innerem Glauben, mit mehr Begeisterung. Aber solch eine Regierung erscheint in der kommenden Zeit wenig wahrscheinlich. Sie konnte— leider— nach den Wahlen vom 11. Mai 1924 nicht gebildet werden, wo sie Zweifel- los möglich war, sie ist also höchst unwahrscheinlich während der kommenden Legislaturperiode. Ich meine aber, daß, so wie die Dinge liegen, eine Annähe- rungspolitik unter Poinrarä als Leiter der französischen Regierung um so eher möglich ist, als er dank seiner ganzen Vergangenheit und dank seiner unbestreitbaren Autorität gewisse Initiativen ergreifen und gewisse Abkommen unter- zeichnen kann, zu denen Herriot und Briand die Kraft fehlte, weil ihnen eine zu starte nationalistische Opposition gegenüberstand. Gegen Herriot und Briand konnten die Nationalisten Argumente ins Feld führen, die Poincarö gegenüber wirkungslos sind. Wenn also Poincare die Verständigungspolitik will— und ich glaube tatsäch- lich, daß er sie wünscht—, dann wird sie mit größerer Sicher- heit unter ihm zum Ziele führen als unter jedem anderen! Victor Schiff.