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Rr. 23845. Jahrgang
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Celmert
1. Beilage des Vorwärts
Hungriges
In Berlin , so heißt es, braucht teiner zu verhungern. Freilich soll das schon vorgekommen sein, trotzdem die Volksküchen und ,, Armenfüchen" fast eine ganze Seite im Adreßbuch füllen. Immerhin, wer Bescheid meiß, fann in Berlin billig genug leben, billig genug effen; er muß sich nur einige Meine Vorurteile abgewöhnen.
„ Evangelisches Wohlfahrtsamt."
Draußen an der ehemaligen Dorfaue des westlichen Vororts liegt das graue Gebäude eines ehemaligen Gartenrestaurants, das Jezt allerlei Wohlfahrtszmeden dienstbar gemacht worden ist. Im Erdgeschoß liegt die Küche des evangelischen Wohlfahrtsamtes; eine andere Bolfsküche eristiert im Bezirk nicht. Es ist ja der nationale Bezirk, dessen soziale Fürsorge die deutschnationale Stadträtin Frau Kausler neulich in der Rentnerversammlung so zu loben wußte. Allmittäglich steigt eine sonderbare Prozession die Stufen der kleinen Steintreppe hinauf: Gebückie alte Frauen, mit der vermotteten Pelzstola noch Reste ehemaligen Wohlstandes zur Schau tragend, hier und da ein alter Mann mit peinlich blank gebürstetem Mantel, auch hier und da Frauen in mittleren Jahren, aber alle tragen sie den Stempel der Entgleisten, alle das Merkmal zerstörenden Schidials. Küche des evangelischen Wohlfahrsamtes." Und eines Tages schiebe auch ich mich durch die schmale, gelbe Tür. Mein erster Blick umfaßt einen freundlich blau tapezierten Raum, Tische, mit weißem Wachstuch bespannt; hinter zwei gleichen Tischen die Ausgabe, daneben ein Schild, das ankündigt, daß das Essen munmehr pro Portion 25 Pfennig foftet. Es gibt Linsen, eine dickliche Suppe, aber meine Rose verrät mir, daß die weder mit Speck noch mit guter Brühe angemacht fein fann, denn der Dampf aus dem großen Refsel riecht schal und fade. Emen Augenblick blieb ich stehen. Da knarrt neben mir eine unfreundliche Stimme los: ,, Na und Sie? Was wollen Sie hier?" Berdutzt drehe ich mich um. Da fizt, anzusehen mie ein böser, alter Papagei, ein kleiner Mann vor einem Pult und mustert mich mißtrauisch. Ich möchte mir eine Portion Essen foufen," Das geht so nicht. Hier essen bloß geladene Gäste." ,, Ja," aber. ,, Da müssen Sie erst zu Herrn Pfarrer in die Spred, flunde und drum bitten, und der Herr Pfarrer prüft dann nach." Was prüft denn der Herr Pfarrer?" Na, ob Sie bedürftig find!"
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Lieber Gott ... ,, Ob Sie bedürftig sind!" Als ob sich der ganze Kurfürstendamm , die ganze Kaiserallee um des Herrn Pfarrers Suppentäpfe drängen würde! Als ob nicht mit der Tatsache, daß sich ein Mensch mit so schaler, fader Kost begnügt, seine Bedürftigkeit bemiesen ist. Aber daran liegt dem evangelischen Wohlfahrsamt auch mohl. meniger; Hauptsache ist, daß man mit der Bedürftigkeitsprüfung ,, ran an den Feind" kommt. Das heißt, man hat so seine
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Jack London: Wolfsblut.
Aber auch diese Hungersnot ging vorüber, und die Wölfin brachte wieder Fleisch heim. Es war eine ganz seltsame Beute, etwas ganz anderes, als sie je früher heimgebracht hatte. Es war ein halb ausgewachsener junger Luchs, nicht ganz so groß wie das Wölflein, und ganz allein für ihn. Die Mutter hatte ihren Hunger anderwärts gestillt, denn es wußte ja nicht, daß der Luchs der letzte von dem Wurf sei, der ihr vollständig zum Opfer gefallen war. Auch wußte es nicht, wie verzweifelt die Tat gewesen sei. Nur daß das Kätzchen mit dem Sammetfell Fleisch sei, mußte es, und es verzehrte dasselbe, und bei jedem Bissen wurde ihm wohler.
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Ein voller Bauch führt zur Untätigkeit, und das Wölflein lag in der Höhle dicht neben der Mutter und schlief. Es wachte durch ihr Knurren auf. Nie hatte es sie so fürchterlich fnurren hören. Vielleicht nie im Leben hatte sie einen so furchtbaren Ton ausgestoßen, und sie hatte auch allen Grund dazu, das wußte niemand besser als sie, denn das Lager eines Luchfes wird nicht ungestraft beraubt. Im vollen Licht der Rachmittagssonne fah das graue Wölflein die Luchsin geduct vor dem Eingang der Höhle liegen; sein Haar sträubte sich ihn auf dem Rücken empor. Hier mar etmas Furchtbares, das brauchte der Instinkt ihm nicht erst zu sagen, und wenn Der Anblid allein nicht genügt hätte, so wäre das wütende Geschrei des Eindringlings, das mit Knurren begann und rasch zu heiserem Kreischen wurde, hinreichend überzeugend gewesen. In dem Wölflein regte sich die Liebe zum Leben, es stand auf und stellte sich mit tapferem Knurren neben die Mutter. Allein sie schob ihn verächtlich beiseite und stellte sich vor ihn. Die Luchsin konnte des niedrigen Eingangs wegen nicht in die Höhle hineinspringen, aber als sie behende hineinfroch, sprang die Wölfin auf sie los und drückte sie zu Boden. Das Wölflein sah von dem Kampfe nur wenig, allein es hörte fürchterlich knurren, fauchen und freischen. Die beiden Tiere hieben aufeinander los, die Kaze, indem sie mit den Krallen riß und fragte und auch die Zähne gebrauchte, mährend die Wolfin nur diese als Waffe befaß. Einmal sprang das Wölflein zu und biß der Luchsin in eines der Hinterbeine. Es hielt fest und murrte mütend. Ohne daß es das mußte,
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Lonelin
Dienstag, 22. Mai 1928
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faltgewordene Grühsuppe. Vom Hof holen wir uns mangelhaft saubere Tassen. Dann packt er Delikatessen aus: Die Brote, die die Kranten nicht gegessen haben. In einem Karton liegen durcheinander angebissene Brote mit Wurst, Brotrinden und Brocken... Abhub oom Abendtisch der Kranken. Mich graust's. Aber meine Kameradschaft stürzt sich gierig auf die Delikatessen, die hier geboten werden. Hunger besiegt alle hygienischen Bedenken, wenn die Aermsten überhaupt wissen sollten, was das ist..., im Krankenhaus scheint man das ja auch nicht zu wissen. Nach dem Essen gehe ich den beiden Mädeln nach. Es geht in die Wohlfahrtstüche" in der kleinen Auguststraße. Hier ist die Speisung schon beendet, aber meine Gefährtin hilft die Bänke waschen, wir friegen drum auch gratis einen Napf voll Spinat taum gehadt, ohne Mehl und Fett angerichtet, Restbestand des heutigen Mittagbrotes. Mit uns dürfen noch ein paar Stammgäfte im Zimmer bleiben, das, unerfreulicher Gegensatz zu den Räumen in der Gormannstraße, einen schmu zigen, ja einen verwahrlosten Eindruck macht, gleichwie die Küche. Aber drum zieht sich all das arme Volt hierher, das sich nicht einmal ist hier nicht billiger und sicher nicht besser...
Schäflein immer hübsch an der Strippe, und fann sie zu jeder Ge- mehr in eine gut gehaltene Volksküche hereintraut, denn das Essen legenheit erreichen.
Bolfsküche
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Kranfenfüche.
Eine kurze Schlange steht vor der Tür der Küche in der Gormannstraße an. Bor mir feift eine Frau unbarmherzig über ihre franke Mieterin. Dann schieben wir uns vor den Schalter. Es gibt Griestlöße und Badpflaumen. Ich fordere nur einen halben Liter: kostet dreizehn Pfennig. Nun suche ich einen Platz an einer der sauber mit braunem Linoleum ausgelegten Tafeln. Meine Nachbarn rechts und links machen alle einen sauberen Eindruck, trotzdem man allen an kleinen Defekten des Anzugs ansieht, wie schmer es ihnen fällt, die Kleider so zu pflegen, daß man ihnen die lange Arbeitslosigkeit ihres Trägers nicht anmerkt. Plötzlich gibt es einen Krawall am oberen Tischende. Zwei junge Burschen ringen mit einem alten Mann, der sich seine faft geleerte Schüssel nicht fortziehen lassen wollte.
Ausströmendes Gas!
Fünf Arbeiter betäubt!
Ein schweres Gasunglüd ereignete fich gestern nachmittag in der Eresburgstraße zu Schöneberg . Fünf Arbeiter, die dort mit Rohrlegungsarbeiten beschäftigt waren, wurden durch ausstromende Gase betäubt. Die Feuerwehr leistete den Bewußtlofen die erste Hilfe und forgte für ihre Ueberführung in das Krankenhaus. Auf dem Grundstück Eresburgstraße 22/23 in Schöneberg , in nächster Nähe der Eisenbahnbetriebswerkstätten, wurde vor Wochen frist der Neubau einer bekannten Berliner Brotfabrik beendet. Seit mehreren Tagen ist nun eine Arbeiterkolonne
Gestern nachmittag sollte die Verbindung vom Hauptgasrohr zum Fabrikgebäude hergestellt werden. Während drei Arbeiter in dem Bauschacht mit Dichtungsarbeiten an den Verbindungsstellen beschäftigt waren, bohrten zmei andere das Hauptgas=
Vor der Tür des Krankenhauses staut sich eine Gruppe zerlumpter Gestalten. Hierher kommt alles, was auch die fünfundder Gaswerte mit dem Legen von Gasrohren beschäftigt. 3manzig Pfennig für die Bolfsfüche nicht mehr aufbringen tann. Um halb zwei werden hier am fatholischen Krankenhaus die keffelreste ausgeteilt, zehn Pfennig fosfet der Teller man fann auch doppelte Portion für denselben Preis haben. Frauen dürfen, ebenso wie die Effenholer, schon vorher in den Hausflur. Meine Gefährtinnen sind bis auf eine typische Obdachlose, noch auf der Schneide, die die langfristige Obdachlose von der Benne" trennt, wenigstens die zwei jüngeren. Die eine, Bandarbeiterin, aber schon sehr heruntergekommen und schmutzig. Wir warten im Hausflur. Endlich bringt der auffichtsführende Herr in zwei Waschkannen eine
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lähmte das Gewicht seines Körpers die Bewegung des Beines, und es ersparte dadurch der Mutter manche Wunde. Bei einer Wendung des Kampfes jedoch fam es unter die beiden Kämpfenden und ließ das Bein fahren. Einen Augenblick später trennten sich die beiden Feinde, und bevor sie von neuem aufeinander losstürzten, versetzte die Luchsin dem Wölflein einen Schlag mit der Borderpfote, riß ihm die Schulter bis zum Knochen auf und schleuderte es an die Wand. Nun mischte sich auch sein gellendes Schmerzensgefchrei in den Lärm, aber das Wölflein hatte Zeit, sich auszuheulen und noch einmal mutig einzugreifen, indem es wiederum die Luchsin bei einem Hinterbeine pacte und zornig fnurrend es festhielt, bis der Kampf zu Ende war.
Zwar war die Luchsin endlich tot, aber auch die Wölfin war sehr wund und frank. Sie liebfoste ihr Junges und leckte ihm die wunde Schulter, aber der große Blutverluft hatte sie sehr schwach gemacht, und einen Tag und eine Nacht lag sie bewegungslos und faum atmend neben der toten Feindin. Acht Tage lang verließ sie die Höhle nur, um zu trinken, und hernach noch maren ihre Bewegungen langsam und matt. In dieser Zeit wurde der tote Feind verzehrt, und die Wunden der Wölfin heilten wieder so weit, daß sie auf Raub ausgehen konnte.
Eine Zeitlang blieb die Schulter des Wölfleins nach dem furchtbaren Schlage, den es erhalten hatte, steif und tat sehr mehe, und es hinkte beim Gehen. Aber die Welt hatte sich seitdem für ihn verändert. Es schritt mit erhöhter Zuversicht einher, es fühlte sich als Held. Das Leben hatte sich ihm von einer wilderen Seite gezeigt, es hatte gekämpft, die Zähne ins Fleisch des Feindes geschlagen und war am Leben geblieben. Drum trat es fühner und trogiger auf, und fleinere Geschöpfe jagten ihm feine Furcht mehr ein. Seine Schüchternheit mar verschwunden, wenn auch das Unbekannte ihm immer noch geheimnisvolle Schrecken einflößte.
Fortan begleitete es die Mutter auf ihren Streifzügen, und es sah nicht nur, wie Beute gemacht wurde, fondern spielte dabei auch eine Rolle. So lernte es in seiner Weise das Recht auf Fleisch kennen. Es gab zwei Arten von Leben, das eigene, das auch die Mutter einschloß, und das der anderen. Dies umfaßte all die Geschöpfe, die entweder von ihm und den Seinen getötet und gefreffen wurden, oder die ihn töten und freffen würden, wenn fie es tun tönnten. Und aus dieser Einteilung entstand das Recht, Fleisch war die Grundbe
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rohr an. Wahrscheinlich ist hierbei nicht mit der notwendigen Vorsicht verfahren worden, denn größere Gasmengen strömten aus und betäubten alle fünf Arbeiter. Der Unfall wurde in der wenig belebten Gegend erst bemerkt, als die Arbeiter bereits be mustlos im Bauschachtlagen. Auf den Alarm„ Gasvergiftung fünf Menschenleben in Gefahr, eilte die Feuerwehr mit mehreren Rettungswagen und Spezialfahrzeugen unter Leitung des Oberbranddirektors Gempp und des Baurates Footh an die Unglücksstätte. Erst nach langwierigen Wiederbe. lebungsversuchen mit Sauerstoff gelang es, die Gasvergifteten, den 54jährigen Arbeiter Herbert Kernte aus der Prühß. ftraße 16 zu Mariendorf , den 54jährigen Arbeiter Gustav Haselow aus der Sedanstraße 45 zu Schöneberg , den 59jährigen Arbeiter Jabusch aus der Sparrstraße 20, den 40jähtigen Ar. beiter Striemer aus der Gneisenaustraße 56 und den 27jährigen Arbeiter Steinrüd aus der Winterfeldtstraße 30, ins Leben zurückzurufen. Der Zustand der Berunglückten war jedoch so ernst, daß der gleichfalls zu Hilfe gerufene Arzt der nächsten Rettungsmache die Ueberführung in das Schöneberger Krankenhaus
anordnete.
Arbeitersamariter am Wahlsonntag.
Bom Arbeiter Samariterbund, dessen Mitglieder sich am Wahlsonntag restlos in anerkennenswerter Weise in den Dienst der guten Sache gestellt hatten, wurden weit über tausend Personen, die in Kranken- und Siechenhäusern somie in Heilanstalten untergebracht sind und ohne fremde Hilfe den Weg zum Wahllofal nicht hätten antreten fönnen, der Wahlurne zugeführt. In Berlin waren insgesamt 22 Wachen eingerichtet, die mit durchschnittlich 20 Mann belegt waren. Ein Transport ging sogar bis hinaus nach Buch.
dingung des Lebens, Fleisch war selbst Leben, und so lebte das Leben vom Leben. ,, Friß oder werde gefressen", so lautete das Gefeß. 3war brachte das Wölflein es nicht in einen so flaren bestimmten Satz und dachte auch nicht weiter darüber nach; aber es lebte nach dem Gesetze, ohne darüber nachzudenken.
Es sah, wie das Gesez rings umher in Kraft war. Es hatte einst die Küchlein des Schneehuhns gefressen, und später, als es stärker geworden war, hatte es den Habicht fressen wollen. Es hatte den jungen Luchs verzehrt, und die Luchsin würde dasselbe mit ihm getan haben, wäre sie nicht selber getötet worden, und so ging es immer weiter. Alle lebenden Wesen ringsum lebten nach dem Raubgesetz, und das Wölflein war nur ein winziger Bruchteil davon, ein Fleischfresser wie sie, deffen einzige Nahrung lebendiges Fleisch war, das flint vor ihm herlief, emporflog, auf die Bäume kletterte oder sich im Boden versteckte, oder das den Spieß umkehrte, fich zur Wehr fezte und ihn jagte und verfolgte.
Hätte das Wölflein nach Menschenweise überlegt, so hätte es das Leben als eine gefräßige Gier bezeichnet und die Welt als einen Ort, worin zahllose ähnliche Begierden herrschten, die fich verfolgten, sich jagten, sich gegenseitig vernichteten, all das wirr und blind, gewalttätig und ohne Ordnung, ein wildes Durcheinander, gelenkt nur vom Zufall, plan- und
endlos.
Aber das Wölflein sah die Dinge nicht von so hohem Standpunkte an. Es hatte nur den einen 3wed im Auge, gesetz gab es noch viele andere, weniger wichtige Geseze, die nur den einen Gedanken, die eine Begier. Außer dem Raub= gefez gab es noch viele andere, weniger wichtige Gesetze, die es lernen und befolgen mußte. Die Welt mar voller Leberraschungen. Das eigene Leben, das Spiel seiner Muskeln verursachte ihm unendliches Wohlbehagen, die Jagd auf Beute lebendiges Entzücken. Selbst Zorn und Kampf mar Genug. Sogar der Schred und das Geheimnis des Unbefannten erhöhte das Lebensgefühl.
Und es gab auch Erleichterung und Zufriedenheit. Mit vollem Magen faul in der Sonne zu dösen, das war voller Ersatz für Arbeit und Mühe, während diese Mühe und Arbeit ihre Belohnung in sich selbst fanden. Waren sie doch eine Betätigung des Lebens, das glücklich ist, wenn es fich betätigt So war das Wolfsjunge mit der ihm feindlichen Umgebung nicht unzufrieden, denn es lebte ja, mar glücklich und sehr stolz auf sich jelber.
Fortsetzung folgt)