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Spätausgabe des„ Vorwärts
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127 45. Jahrgang.
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Meldungen, daß ganze Familien an Grippe Der Kulturskandal Der Kulturskandal der Todesstrafe.
zu Bett liegen.
In einzelnen Stadtbezirken, besonders im Westen, sind die Erkrankungserscheinungen so häufig, daß Geschäfte, die sonst sechs bis acht Personen beschäftigen, sich mit ein bis zwei Verkäufern behelfen müffen, die anderen find frank geschrieben. Einzelne Theater, wie z. B. die Staatsoper, mußten Umstellungen in der Rollenbejehung und im Spielplan vornehmen. Die von uns befragten medizinischen Stellen führen die Häufigfeit der Grippeertranfungen auf das abnorme Wetter zurück. Der schnelle Umschlag von falt auf warm und umgekehrt, der sich besonders in den letzten Tagen zeigte, hat zu einer starken Vermehrung der Erkrankungen geführt. Im allgemeinen gilt freilich der Monat Februar für Erkältungen als besonders fritisch, während in den Sommermonaten, pon Juni bis August, nur ein Minimum pon derart gelagerten Krankheitsfällen zu verzeichnen ist. Uebereinftimmend wird uns mitgeteilt, daß gerade in den letzten Tagen die Zahl der Grippetranten gestiegen ist. Von einer Epidemie fann freilich zurzeit noch nicht gesprochen werden.
Die Gesundheitsämter in den Bezirken halten sich dauernd auf dem laufenden. Wie man uns mitteilt, find die Ber liner Krankenhäuser zur Zeit ziemlich start befeßt. Man zählt annähernd 12 000 Patienten. Allgemein ist aufgefallen, daß die Zahl der an Erkältungen und Halsentzündungen Leidenden besonders hoch ift.
Das Hauptgesundheitsamt
ist gleichfalls der Ansicht, daß die Schuld auf das wechselnde Better zurüdzuführen ist. Heute Regen, morgen Sonnenschein, das
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ift für die physische Verfassung des Körpers eines Großstadtmenschen schymer tragbar. Im Vergleich zu früheren Jahren ist die Zahl der Erkrankten in diesem Monat deshalb besonders hoch. Es sei aber ausdrücklich betont, daß im Augenblid zu Befürchtungen fein Anlaß Dorliegt. Zumeist handelt es sich um leichte Fälle und um Patienten, die sich durch ihren Beruf nicht genügend vor den Gefahren der Witterung schützen fönnen. Die gewohnten Begleiterscheinungen der Krankheit hohe Temperatur, Neigung zum Erbrechen, Ermattung und Betlemmungen auf dem Magen und auf der Brust geben feinen Anlaß zu besonderer Besorgnis.
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Erkrankungen ernsterer Natur sind bisher nicht festgestellt worden. Bei den Ortstrantenfassen sind nach den letzten uns vorliegenden Ziffern 27 000 Mitglieder trant gemeldet, d. h. gemessen an der Mitgliederzahl, etwa 5% Proz. Diese Ziffer ist über das ganze Jahr 1928 gleichmäßig geblieben.
Auch weiterhin ist die Erkältungsepidemie Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit der Gesundheitsbehörden. Es sei erwähnt, daß an den Litfaßsäulen ein Anschlag der Staatsoper am Platz der Republik angebracht ist, auf dem zu lesen steht:
Wegen mehrfacher Erkrankungen wird an Stelle der, Luisa Miller " der Freischüß" aufgeführt.
In den städtischen Schulen sind verschiedene Fälle von Diphtherie zu verzeichnen. Hier ist die Kontrolle im Augenblick besonders fchwierig, weil ja die Schulen zurzeit wegen der Pfingstferien ge= schloffen sind. Aber auch hier sind Fälle, die zu besonderer Besorgnis Veranlaffung geben, bisher nicht bekannt geworden.
Man darf annehmen, daß beim Vorschreiten der sommerlichen Witterung die Krankheitsziffern sehr bald zurückgehen werden.
Serbenfeindschaft in Venedig . Studentendemonstration gegen serbischen Dampfer. Benedig, 2. Juni.
Bei der Ankunft des füdslawischen Dampfers Cosovo", der den regelmäßigen Berkehr zwischen Dalmatien und Venedig versieht, kam es troß des umfassenden Sicherheitsdienstes zu stürmischen Kundgebungen. Der Zugang zum Hafen war durch Infanterie, Miliz und Zollwachen abgesperrt. 200 Studenten drangen jedoch auf einem Umwege durch eine Fabrik in den Hafen ein. Sie trugen eine dalmatinische Fahne mit sich und versuchten an Bord des Dampfers zu gelangen, was ihnen jedoch wegen der scharfen Bewachung des Schiffes durch Truppen nicht gelang. Auf Anordnung der Behörden mußte der Dampfer schließlich in einer gewissen Entfer nung vom Ufer Anfer werfen. Die Studenten bestiegen dann ein kleines Dampfboot, um zu dem Dampfer zu gelangen, aber auch dieser Plan wurde durch Zollkutter und Polizisten vereitelt. Später veranstalteten die Studenten eine Protesttundgebung auf dem Martusplay.
Wir haben eine Reihe von Artikeln veröffentlicht, in denen der Kultursfandal der Todesstrafe behandelt wurde. Daß auch heute noch in..zivilifierten Ländern mittelalterliche Zustände herrschen, zeigt
unser Bild: Bor dem Gefängnis in Pentonville( England) wartete vor einigen Tagen eine riefige Menge auf den Schlag der Glode, die ihr ankündigte, daß ein Todeskandidat gehängt worden sei.
Am Justizmord vorbei!
Der Fall des Maurers Leister in Eisenach .
Am Justizmord vorbei.
Bom 4. bis zum 6. Juni findet vor dem Landgericht in Eisenach die Wiederaufnahmeverhandlung in Sachen des Maurers Johann Ceifter statt. Das Landgericht in Eisenach hatte ihn im März zum Tode verurteilt. Auf dem Gnadenwege ift dieje Strafe in lebenslängliches Zuchthaus umgewandelt worden. Der glüdliche Zufall fügte es, daß ein Juftizirrtum nicht zu einem Juffizmord wurde. Ein Zivilgerichtsverfahren war es, dem es zu verdanken ist, daß es überhaupt zu einem Wiederaufnahmeverfahren kommen wird, dessen Endergebnis bereits in diesem Augenblick nicht zweifelhaft sein fann: es wird zu einem Freispruch führen. In aller Kürze der Sachverhalt:
Am 30. August 1922 wurde der Maurer Johann Leifter, der mit Bruder, Frau und drei Kindern ein Häuschen in Bremen , einem Dorfe in der Rhön , wohnte, von Schreien seiner Frau aus dem Schlaf gewedt. Als er die Treppe hinunterstürmte, um nach der Ursache ihres Schreiens zu schauen, sah er, wie ein Mann zum Hause hinaussprang. Auch einen zweiten Mann glaubte er davonlaufen zu sehen. Er versuchte, die beiden einzuholen, gab aber sein Vorhaben als zwedlos auf, fehrte zum Hause zurück und fand hier seine Frau blutend in ihrem Bette liegen. Auch fein Bruder, den er schon früher gemedt hatte, befand sich bereits am Bette feiner Frau.. Kurz darauf starb sie.
Die Bernehmung der Hausbewohner und der Nachbarn führte zur Berhaftung Leifters. Die Hauptbelastungsmomente gegen ihn waren erstens, daß die Nachbarn nur Leister selbst aus dem Hause hatten laufen sehen, ferner, daß er mit einer Frau 2. Beziehungen unterhalten hatte, und man annehmen konnte, daß cr fich feiner Frau habe entledigen wollen, um diese zu heiraten. Troß diefer Belastungsmomente beantragte der Staatsanwalt, ihn außer
Berfolgung zu feßen. Die Straffammer erklärte sich damit nicht einverstanden, sondern eröffnete gegen Leister das
Hauptverfahren wegen Mordes.
In der Hauptverhandlung wurden in der Hauptsache zwei Me mente gegen ihn verhängnisvoll. Es ergab sich, daß er in dem Scheidungsprozeß der Eheleute Lindner unter seinem Eide den Geschlechtsverkehr mit der Frau Lindner geleugnet hatte, während diese in der Verhandlung gegen Leister den Geschlechtsverkehr zugab und zweitens, daß er in Wirklichkeit eine Armee pistole besessen hatte, während er den Befig einer Baffe beftritten hatte. Nun schienen dem Gericht auch seine übrigen Angaben unglaubwürdig. Es kam zu einem Schuldig und Johann Leister wurde
zum Tode verurteilt.
In der Urteilsbegründung wurde sowohl die besondere Unmenschlichkeit und die furchtbare Roheit der Gesinnung unterstrichen, die noch dadurch erhöht werde, daß die Tat in Gegenwart des achtjährigen Töchterleins geschehen konnte, die mit der Mutter in einem 3immer schlief, als auch der Umstand, daß er feine Spur von Scham und Reue gezeigt habe.
Dieses Urteil wurde von drei Berufsrichtern gefät. die auf Grund der Emmingerischen Sparverordnung an Stelle des alten Schwurgerichts getreten waren Das neue ,, Schwurgericht" aus drei Berufsrichtern und sechs Laien begann erst im April 1924 feine Tätigkeit. Sowohl Revision als Wiederauf nahmeantrag blieben erfolglos., Das einzige, was erreicht werden fonnte, war die Begnadigung zu lebenslänglichem Zucht. haus.
Ganz unerwartet tam aber den Bemühungen der Berteidigung, ein Wiederaufnahmeverfahren herbeizuführen, die Erbunmur. digteitstlage, die die minderjährigen Rinder gegen ihren