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Beilage is 19

Sonnabend, 2. Juni 1928

216M mus guldst Derabend

Spalausgabe des Vorwärts

Die hellen und dunklen Zahlen.

Ein neuer Führer durch die Weltstadt Berlin .

Im Jahre 1912 fand der Verfasser in den Buchläden der Stadt Raffel einen Reformführer" durch die Stadt. Bei Durchsicht ergab sich, daß der Führer wesentlich von den bisher bekannten abwich. Er stellte nicht mehr wie die Führer alter Art die Baulichkeiten, die Museen mit ihren Bildern, Skulpturen und anderen Samm­lungen in den Bordergrund, sondern versuchte das gesamte moderne Leben einer Großstadt einzufangen und zu spiegeln. Er berücksichtigte vornehmlich die bedeutenden tommunalen und privaten Sozial- und Wohlfahrtseinrich= tungen, die Parts und öffentlichen Anlagen, die Spiel und Sportstätten, die Berkehrseinrichtungen, und, worüber alle Führer mit einer gewissen Verlegenheit hinweggleiten, den Wirtschafts char after einer Stadt, ihre Industrie und deren Besonderheiten, ihren Handel und Verkehr, ihr Handwerk und Ge­werbe. Auf diese Weise erwuchs in dem Führer aus moderner und alter Stadt das Gesamtbild.

Merkwürdig genug, daß die privaten Verleger in Berlin nicht auf den Gedanken famen, einen ähnlichen Führer herauszubringen. Nun ist ihnen wieder einmal eine tommunale Einrichtung zuvor gekommen. Im Auftrag des Ausstellungs, Messe- und Fremdenverkehrsamtes der Stadt Berlin hat Chefredakteur Karl Better einen Offiziellen Führer für Berlin und Umgebung herausgebracht, der sehr wohl als Reformführer in dem oben angedeuteten Sinn angesprochen werden kann. Keineswegs ist darin das alte Berlin vergessen. Wir finden Abschnitte wie diese: Historisches Berlin Bergessene und verschwiegene Sehenswürdigkeiten Theaterstadt Berlin Der Mufitfreund in Berlin . Aber dann gibt es, alles in sehr hübscher plaudernder Form, auch Stücke wie diese: Was zeigt Berlin dem politisch Interessierten? Berlin in Zahlen Berlin als Wirt­schaftsstadt Berlin als Hafenstadt. Der Ingenieur in Berlin Was zeigt Berlin dem Arzt- Berlin als Sportstadt Eine Frau

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in Berlin . Man sieht also, eine ganz andere Anlage als in den bisher bekannten Führern.

Was die Zahlen berichten.

Unsere Zeit schwärmt für Zahlen und für Statistik. Zwei bemerkenswerte Beiträge tommen. dieser Einstellung entgegen. Dr. Erich Busch, unterstützt vom Obermagistratsrat Dr. Kür­ten, zeigt uns Berlin in Zahlen. Wer das Staunen noch nicht verlernt hat, der kann es jetzt ausüben. Berlin mit seinen jetzt 4,2 Millionen Einwohnern beansprucht einen Flächenraum von 880 Quadratkilometern. Das Weichbild, die Grenze Berlins ist 225 Kilometer lang. Wer täglich 8 Stunden zu je 4 Kilometern geht, hätte 8 Tage von Sonntag zu Sonntag zu wandern. Ein Fünftel der Gesamtfläche ist Wald, ein weiteres Fünftel besteht aus Gärten, Biesen und Aeckern , ein ferneres Zehntel entfällt auf sonstige Grünflächen. 58 Millionen Quadratmeter 5800 Het­

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23 200 preußische Morgen werden von 180 000 Kleingärten bedeckt. 11,6 Millionen Quadratmeter find Parkflächen, 7,5 Mil­lionen Quadratmeter beanspruchen die mehr als 300 Spiel- und Sportpläge. Die Stadt hat 28 eigene Güter mit 240 Quadratkilo­

Berlin, die größte Handelsstadt.

Die Sparkasse der Stadt Berlin hat 400 000 Spar: bücher ausgestellt, die insgesamt 180 Millionen Spargelder auf weisen. Reichsbank, Postscheckamt und Berliner Kaffenverein, die Abrechnungsstelle der Berliner Banten feßen täglich fast 14 Mil liarden Mart um. Durch 232 Postämter, 83 Rohrpostämter,

Auch der Konditor- Dom kann im Bild gut wirken.

155 Batetannahmestellen und rund 5000 Briefkästen strömen täg lich mehr als 12,5 Millionen Brieffendungen, 130 000 Batete und 10 000 Rohrpostfachen. Täglich kommen und gehen 26 000 Tele­gramme und täglich werden etwa 14 Millionen Telephongespräche geführt. 60 Berliner Güterbahnhöfe nehmen täglich 210 Güterzüge mit etwa 10 000 Waggons und 35 Millionen Kilogramm Fracht auf. In den Berliner Binnenhäfen laufen täglich 90 Schiffe mit 16 Millionen Kilogramm Ladung ein, die an Kais von einer Länge von 25 Kilometern auf 350 000 Quadratmetern Ladefläche gelöscht werden. Mit diesem Berkehr und seinen 17 000 Großhandels­niederlassungen ist Berlin tatsächlich die größte Handels=

famen bietet, rafft er zusammen und webt daraus einen in allen Abend unter dem phantastischen Sternenhimmel des Planetari­Farben sprühenden Teppich. Da heißt es: Berbringen Sie einen ums......! Sind Sie schon einmal durch den schlummernden trubelfernen Hain der Pfaueninsel gewandelt? Haben Sie schon einmal eine freie Stunde im Neu- Westender Part am Sachſenplag verbracht? Ahnst du, o Landsmann, daß wir über 50 Seen be

figen...? Beftaune die älteste märkische Akazie im Brizer Schloßpark! Durchstöbere die letzten Ueberreste des Scheunen­viertels zwischen Bolfsbühne und Alexanderplatz . Setz dich einen schönen Nachmittag lang auf die Restaurant- Terrasse des Flug­hafens Tempelhof und laß dir die Luftzüge aus aller Herren Länder um die Mokkatasse schwirren. Belausch das melodiöse Glockenspiel der Parochialkirche in der so stummen Klosterstraße. Belächle im Tiergarten das Dentmal Fontanes, weil der große Neuruppiner seinen Rod nach Frauenart links zugeknöpft hat. Belächle den Ritter von Plotho, eine der Begleitfiguren Heinrichs des Kindes in der Siegesallee , zu der Meister 3ille einst Modell ge= standen. Und hast du dich schon je knapp vor 8 Uhr morgens auf dem Potsdamer Platz aufgestellt, stumm den Aufmarsch der Hundert­tausend in ihre Waren- und Geschäftshäuser belauscht?"

Das ist in der Tat das Tempo unserer Zeit. Immer flott, immer eilig, immer ein wenig ironisch, ein wenig sarkastisch. Und das alles beckt im Grunde genommen einen strengeren größeren Ernst, als wie man ihn aus früheren Schilderungen langatmiger und sentimentaler Art fennt.

Was in dem Führer noch fehlt.

Daneben gibt es aber in dem Führer auch das eine und das andere, was einem nicht gefällt. So schreibt ein bekannter Wirt­schaftler an sich sehr anschaulich über Berlin als Wirtschafts­stadt. Eine befannte populäre Weinfirma, ein ebenso populäres Bierquellenunternehmen, ein Zeitungshaus werden namentlich ge= nannt, aber den Namen einer so gewaltigen Verteilerorganisation zu nennen, wie sie die Konsumgenossenschaft Berlin ist, wird unterlassen. Herr Kurt Doerry bringt es sodann in seinem Beitrag über Berlin als Sportstadt nicht fertig, wiewohl er von Boltssport spricht, den bedeutsamen Arbeitersport auch nur zu erwähnen. Eine solche Unterlassung ist unverzeihlich und wird bei einer Neuauflage am besten durch einen anderen objektiven Berfaffer ausgeglichen werden. Daß es sehr wohl möglich ist, auf einem so neutralen Boden wie es ein Städteführer sein soll, allen bedeutsamen Erscheinungsformen der Weltstadt gerecht zu werden, beweist Klaus Bringsheim, der in dem Beitrag: Der Musikfreund in Berlin auch den Arbeiter Sänger bund gebührend erwähnt. Mag Osborn wird den neuen Großfiedlungen und ihrem Architekten Bruno Taut gerecht. Es soll auch nicht unerwähnt bleiben, daß eine gute Karte und vorzügliche und reichliche Abbildungen im Tiefdruckverfahren das Werkchen schmücken, das nun endlich eine lange vorhandene Lücke ausfüllt. So strotzt dieses kleine handliche Buch von Leben, von demselben Leben, das Tag und Nacht um uns ist. Und wenn man als Berliner nun ein bißchen boshaft zu dem Berliner sein wollte, tönnte man sagen, daß die Berliner aus diesem Führer ihr Berlin erst mal richtig kennen lernen können. Die Fremden werden das ohne weiteres tun.

W. T.

stadt des europäischen Festlandes. Die Bevölkerung Die neue Damenmode.

dieser Stadt hat einen täglichen Fleischverbrauch von 700 000 Kilo­gramm. Daneben bilden 144 Millionen Kilogramm Mehl, 1,5 Mil­lionen Brote, 1,4 Millionen Kilogramm Kartoffeln und 1 Million Liter Milch die Hauptbestandteile des täglichen Berliner Lebens­mittelverbrauchs.

Zahlen der Rot und der Trauer.

Benn man diese Zahlen als die hellen, die Zahlen des Lebens, bezeichnen möchte, so muß man die von Dr. Carl Sonnenschein in seinem Beitrag: Zahlen in Bildern ge­nannten als die dunklen hervorheben, die Zahlen der Rot und der Trauer. Im August 1927 murden 123 000 Menschen, Sozial­rentner und Kleinrentner und sonstige Bedürftige laufend unter­stügt. Insgesamt aber gibt es 272 900 Unterſtügte. So groß ist Magdeburg oder Königsberg i. Pr. Für 1926/28 gab die Stadt als Winterbeihilfe 3 Millionen Zentner Rohlen an Bedürftige. Das bedeutet einen Eisenbahnzug von 80 Kilometern Länge. Die Jugendwohlfahrt betreut 21 000 Krüppelkinder, 53 000 Mündel, 16 000 Hortfinder, 9000 Fürsorgezöglinge, 16 000 Pflege­finder, zusammen 115 000 gefährdete Jugendliche. Von den 53 000 Mündelfindern sind nicht weniger als 50 000 unehelich, also eine Armee schwerstgefährdeter Kinder und junger Menschen. Dazu die Folgen des Rrieges: Die Stadt hat 19 000 Schwerfriegs­beschädigte und 88 700 Kriegerhinterbliebene zu betreuen. Bon den legteren sind 3400 Bollwaijen, 48 000 Halbwailen, 2300 Eltern­paare und 35 000 Witwen. Rechnet man zu den 50 000 Unehe­lichen, deren Bäter sich selten um ihre Kinder fümmern, noch die 48 000 Halbwaisen, denen der Bater im Krieg genommen worden ist, so hat man nahezu 100 000 junge Menschen, die ohne die er­zieherische, helfende und sorgende Aufsicht der Bäter heranwachsen. Man wundert sich dann, daß die Berwahrlojung und die Kriminali­tät der Jugendlichen so groß ist. Dr. Sonnenschein weiß noch, daß

So sieht der Photograph das Brandenburger Tor täglich 300 Menschen aus den Berliner Gefängnissen entlaffen

meter Bodenfläche. Dazu 212 Quadratkilometer Waldbesig machen diese Stadt zu einem der größten Grundbesizer. Bon den 4,2 mil lionen Einwohnern gehören rund 1 700 000, also etwa zwei Fünftel, der Arbeiterklasse an, ein Fünftel find Angestellte oder Beamte. Auf der anderen Seite: Berlin hat 530 Millionäre und die Ein­wohner der Stadt verftenern insgesamt 12,5 milliarden Bermögen.

werden, jährlich 110 000. Der Krantenfürsorge dienen insgesamt 195 Krankenkassen mit 1342 000 Mitgliedern. Im Jahre 1925 gab es 46 000 Geburten und 46 700 Todesfälle. Also 700 Lote mehr als Neugeborene. Dazu fagt Dr. Sonnenschein: Berlin ist eine sterbende Stadt". War das zu sagen nötig? Berlin stirbt nicht.

Den Rhythmus und den Stil unserer Zeit aber hat wohl am besten Egon Jakobsohn erfaßt. Die hundert, die tausend­fachen Senfationen und Sensationchen, die Berlin dem Aufmert­

Ein weißes Crépe- de- Chine- Kleid, farbig abgesetzt, das mit dem modernen Knüpftuch getragen wird.