(Beilage Montag, 4. Juni 1928
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Tragödien im Polareis.
5n Unruhe und Spannung wartet die Welt auf Nachricht über das Schicksal der„Italia ". Werden General Nobile und seine Leute noch einmal wiederkehren, harren sie noch der Erlösung oder sind sie schon der Uebermacht feindlicher Naturgewalten im Polargcbiet zum Opfer gefallen— wie so viele vor ihnen? Jahrtausende alt ist ja der Drang der Menschheit nach dem „Ende der Welt", seit dem ersten Vorstoß der Phönizier auf ihren Hochschnäbeligen Schiffen bis zu den britischen Inseln und seit Pythias von Marsilia , der im Zeit- alter Alexanders bei dem geheim- nisvollen Lande Thüle an den Chetlandsinseln umkehrte, weil Nebel und Schneesturm und das .geronnene Meer" ihm Halt ge- boten. Seicher wetteiferten immer wie- der die seefahrenden Nationen auf dem Wege zur Antarktis , die Nor- -mannen gründeten auf ihren Wikingerfahrten ihre Siedlungen auf Grönland , irische Glaubens- boten trugen das Kreuz bis in den hohen Norden, Beutelust und Tatenwille trieben allerlei Aben- teuervolk bis ins Polargebiet, und unzählige Opfer fielen den Stür- men, der Kälte und dem Hunger in unwirtlicher Eiswüste onheim. Im 16. Jahrhundert ist der Hol- lönder Barents mit seiner Ex- pedition als erster genötigt, zu überwintern, sein Schiff geht oer- loren, die Rückfahrt aus den Schrecken der Polarnacht muß in offenen Schaluppen angetreten werden, Barents selbst stirbt auf der Heimfahrt, aber 12 seiner Ge- fährten kommen mit dem Hilfs- schiff des Cornelius Rijp glücklich zurück und werden in ihrer Hei- mat als Helden gefeiert. Eine echte Eroberernatur, eigenwillig und zäh, aber vielleicht gerade wegen seiner persönlichen Eigenschaften glücklos und ewig um den Erfolg betrogen, ist der Engländer Hudson, den es immer wieder seit dem Jahre 1607 zurücktreibt in Sturm und Eis, trotz des Widerstandes der Mannschaft, die ihn wiederholt zur Umkehr zwingt, bis er schließlich nach harter Ueberwinterung von den Meuterern mit seinem Sohn und wenigen Getreuen im offenen Boote ausge- setzt wird und für immer den Augen der Mitwelt entschwindet, um fortan als Sagengestalt in der Phantasie der Seefahrer fortzuleben. Ein besonderes schauerliches Kapitel in der Geschichte der Polar- fahrten ist der Rückmarsch der Expedition Franklin von der Eoronation-Bucht nach Fort Providence(1819). Die Rückwanderer, zu Tode erschöpft und von rasendem Hunger gepeinigt, nähren sich von Tierkadavern, sie saugen das verfaulte Mark aus den Tier- skeletten, ein indianischer Jäger tötet heimlich seine Gefährten und bringt ihr Fleisch als Wolfsfleisch zurück, die Mannschaften sind zu schwach, um die Kanus weiterzuschleppen, die kostbaren Fahrzeuge werden als Brennholz verseuert, von 29 Mann, die den Rückmarsch angetreten haben, kommen nur 7 ans Ziel. Das hindert aber den kühnen Führer nicht, anderthalb Jahrzehnte später im Alter von fast 60 Jahren noch einmal nordwärts zu ziehen— um niemals wiederzukehren. Expedition auf Expedition wird ihm fortan nach- gesandt, hohe Preise werden von der englischen Regierung und von
noch 1878 auf King-Willams-Land von der stolzen und wohlgerüsteten Expedition aufgefunden wird. Im gleichen Jahre verschwindet N o r d e n s t j ö l d mit der „Wega", er kommt zurück: aber das Hilfsschiff„Jeanette" geht ver- loren. der Kapitän de Long erreicht mit seinen Leuten auf Hunde- schlitten übers Eis das Festland, mit Booten kommt er bis zur Lena- Mündung, dort werden sie von wütenden Stürmen auseinander-
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gejagt, ein Boot oerschwindet, das zweite unter Ingenieur Melville rettet sich, de Longs eigenes Boot läuft auf, zwei seiner Matrosen stoßen zu Melville, man versucht, den unglücklichen Führer und seine übrigen Begleiter zu retten. Ihre Leichen sind in Schneewehen be- graben, bei de Long findet man ein Tagebuch, dessen letzte Seiten ein erschütterndes Wahrzeichen menschlichen Heldentums, mensch- lichen Leidens sind. Einer der Gefährten nach dem anderen erliegt den unerhörten Anstrengungen und Entbehrungen: zuletzt haben sie nur noch Glyzerin mit heißem Wasser, dann Tee aus Weidenzweigen zu trinken, nähren sich vom Leder ihrer Stiefel und verschneiden das Zelt, das ihren letzten Schutz gegen Sturm und Kälte bildet, um daraus Schuhe zu fertigen. Dies sind die letzten Aufzeichnungen,
wie sie H. Houben in seiner ausgezeichneten Geschichte der Polar- fahrten„Der Ruf des Nordens" wiedergibt: Freitag, 21. Oktober: 131. Marschtag: Um Mitternacht log Ka- merad Kaach tot zwischen dem Doktor und mir. Sonnabend, 22. Oktober: 132. Tag: Der Doktor Collins und ich tragen Lee und Kaach bis zum Hügelrand, dann wurde ich ohnmächtig. Wir können die Leichen nicht mehr bis aufs Eis schaffen. Sonntag, 23. Oktober:. 133. Tag: Alle immer schwächer. Suchten vor Dunkelheit noch etwas Holz, ich las ein Stück Sonntags- andacht vor, leiden alle entsetzlich an den Füßen, keine Schuhe. Montag, 24. Oktober: 134. Tag: Furchtbare Nacht. Dienstag, 2S. Oktober: 133. Tag: Trostlos. Mittwoch, 26. Oktober: 136. Tag: Kälte, Hunger, krank. Donnerstag, 27. Oktober: 137. Tag: Jverson ganz kraftlos. Freitag, 28. Oktober: 138. Tag: Jverson starb in der Frühe. Sonnabend, 29. Oktober: 139. Tag: Heute starb Dreßlev. Sonntag, 39. Oktober: 149. Tag: Boyd und Goertz sind in der Nacht gestorben. Collins liegt im Sterben. Damit schließt das Tagebuch. Grausig sind auch die Leiden des Leutnants Greely und seiner Leute, die im Juni 1884 von Kapitän Schley auf der Insel Pim aufgefunden werden. Sie hatten die Anlage einer amerikani- schen Beobachtungsstation an der Lady-Franklin-Bucht übernommen, ein Trupp von Soldaten, die bei strengstem Drill wie in der Ka- ferne lebten: aber die Ablösung blieb zwei Jahre aus, der Proviant ging auf die Neige, die Not stieg, die erzwungene Disziplin ließ nach, man riß sich um die kärglichen Lebensmittel, der Expeditions- arzt gab das übelste Beispiel: er wurde dabei ertappt, wie er die kärglichen Brocken veruntreute, die die Soldaten sich für ihren Kameraden Elison absparten, der sich Hände und Füße abgefroren hatte: das Lebensmitteldepot wurde heimlich erbrochen, ein Offizier erzählt, daß er wie ein Hund eine Stelle aufkratzte, wo man ver- schimmeltes Hundebrot vergraben hatte. Als die Retter über Schnee- gräber und unbegroben« Leichen in das Zelt eindrangen, fanden sie neben der Tür einen Sterbenden in der Agonie, dem der Unterkiefer herabhing, die Augen starrten ihnen glasig entgegen, daneben lag Elison ohne Hände und Füße, an seinen Armstumpf war ein Löffel gebunden, Greely lag auf Händen und Knien mit langem verfilzten Bart und sunkelte sie mit düsteren irren Blicken an. Bon den Leichen waren Fleischstücke heruntergeschnitten. Aber diese Männer, die so Unsagbares ertragen hotten, besaßen einen eisernen Willen: Greely selbst hat noch lange gelebt und hat es in seinem Vaterlande selbst zu hohen Ehren gebracht. So ist auch die Hoffnung auf die Wiederkunft des Ge- nerals Nobile mit seiner Mannschaft noch nicht verloren: und auch im anderen Falle wird sein Schicksal so wenig wie das seiner Vorgänger ehrgeizige Forscher und Abenteurernaturen wohl nicht davon zurückschrecken, aufs neue den Weg zum Pol anzutreten— mag auch der Menschheit letzten Endes daraus kaum noch ein nennens- werter Nutzen, eine neue ernsthafte Erkenntnis erwachsen! Karl Blanck.
BarenU -Hülte. Hohsehnitl nach einer zeitgenössischen Zeichnimg. der Gattin des Verschollenen ausgesetzt, endlich nach fünf Jahren stößt man aus die ersten Spuren der Vermißten, ein Winterlager wird entdeckt, sonst aber scheinen alle Anzeichen über ihren Verbleib verwischt. Erst nach weiteren fünf Jahren findet man auf der Montreal - insel Bootsteile, Instrumente und Totcngebein, und die erste un- mittelbare Nachricht von Franklin und seinen Offizieren wird erst 1838 am Kap Victory gefunden: Franklin selbst ist 1847 gestorben. das Schiff mußte aufgegeben werden: sonst nichts. Verschwunden »lle Aufzeichnungen, unsichere Angaben der Eskimos über tote und sterbende Männer, denen sie begegnet sind, menschliches Gebein» Jiniformreste, Münzen und verstreute Gerät«— das ist alles, was
3n der Nummer vom Donnerstag der vorigen Woche brachten wir einen kurzen Aufsah:„Die letzten Sklaven von Birma." Franz lloses Furtwängler. dessen au». gezeichnetes Buch„Das werktägige Indien" wir in den nächsten Tagen besprechen werden, sendet uns nun folgende Mitteilungen: Jener Aufsatz berichtet, wie in Birma , der nordöstlichen Grenz- provin; Britisch-Jndiens, englische Expeditionstruppen seit 1927 wiederholt Kreuzzüge unternehmen, um eine angeblich im Landes- inner« herrschende Sklaverei zu unterdrücken. Leider richtet diese— von Ihnen sicher in gutem Glauben aufgenommene— Schilderung sich in Wirklichkeit in ihrer Rechtfertigung der„Strafexpedition" gegen eine Bewegung, die unsere ganze Sympathie und Unterstützung ver- dient, nämlich gegen die antiimperialistische Bewegung im dir- manischen Volke. Denn diese, inid nicht eine sagenhafte Sklaverei, sollte durch die militärischen Expeditionen unterdrückt werden. Die Bewohner von Birma— blutmäßig stark mit den Süd- chinesen vermischt— sind kulturell aufs engste mit dem Jndertum verbunden. Von den 13 Millionen Landesbewohnern bekennen 11 Millionen sich zu einer Form des Buddhismus , die als die reinste und kultivierteste Form dieses Glaubensbekenntnisses zu bezeichnen ist. Unter den britisch-indischcn Provinzen hat Birma— das erst 1883 von China weggenommen wurde und sich bisher eine hohe Eigenkultur bewahren konnte— eine der höchsten Schulbildung?- zifscrn. Do bei diesem Volke die Sklaverei dominieren soll, überlege ich mir vergebens. Hat doch Indien , unter dessen Herrschern Birma schon vor Jahrhunderten einmal stand, die Sklaverei in seiner ganzen von uns übersehbaren Geschichte nie gekannt. Als ich übrigens vor Jahresfrist die Legende zum erstenmal hörte, hieß es, daß es sich um Sklaverei im chinesisch-tibetanischen Grenzgebiete handle. Tatsächlich waren die„Strasexpedirioncn" nur der Vorwand zur D c r st ä r k u n g der englischen Militärmacht in Birma , als die Bevölkerung dieser Grenzprovinz aufbegehrte gegen den mit Eifer betriebenen Bau strategischer Eisenbahnen, auf denen indische Truppen trocknen Weges gegen Südchino befördert werden sollten. Der„Vorwärts"(„Forward"), das große indische Freiheitsblatt von Kalkutta , der die Birmaner auf die ihrer Heimat zuge- dachte Rolle als militärisches Aufmarschgelände gegen China in einem Leiartikel ausmerksam machte, wurde daraufhin für ganz Birma verbalen, viefe Bewandtnis hat es mit dem Kreuzzug ge-
! gen die Sklaverei! So sentimental ist das imperialistische England wirklich nicht, um entlegene„Wildnisse" unter Lebensgefahr für ganze Truppenkörper nach Formen etwaiger Menschenbedrückung zu durchforschen. Braucht es ja auch garnicht! Die in Kalkutta vesidie- rende„Vereinigung englischer Teepslanzer"— brave Etonboys und Oxfordstudenten christlich-puritanischen Glaubens— beschäftigt in den Gebirgen Asiams und Bengalens eine Million Sklaven: Männer. Frauen, Kinder, die von ausgedienten Soldaten und betrunkenen Feldwebeln zur Arbeit getrieben, mit Hunden gehetzt, mit Leder- peitschen traktiert werden. Die Teekuli arbeiten für 33 Pfennig täglich, um die Reichtümer christlicher Sklavenhalter zu türmen. Keine Militärexpedition wäre nötig, dies„recruitinx s/stem" ab- zufchaffen. Es besteht dennoch und wird sogar von Regierunge- behörden verteidigt, da es ja gar keine Sklaverei sei: der Kuli , der weder lesen noch schreiben kann, drückt nämlich seinen gefärbten Daumen auf ein bedrucktes Blatt Papier , ehe er sich und seine Fa- milie damit lebenslänglicher Zwangsarbeit ausliefert. Es handelt sich also um einen„freien Arbeitsvertrag" Auch ist — würden die Verteidiger z. B. dem Völkerbund gegenüber er- klären— die Zwangsarbeit> nicht lebenslänglich, sondern dauert nur je fünf Jahre. Nur sind eben die Existenzbedingungen der ein- mal Eingesangenen und die Entfernungen der Plantagen von der übrigen menschlichen Gesellschaft derart, daß kaum einer der Un- glücklichen je wieder aus den seligen Gefilden dieses„freftn Ar- beitsvertrages" zurückkehrt. Wie harmlos muß neben dieser Masten- schinderei durch ein christliches Volk die sagenhafte„Sklaverei" irgendwo in einem tibetanischen Grenzstreifen sein, mir der die europäische Oeffentlichkeit über militärische Unternehmungen irre- geführt wird! Aber es ist immer so: je weiter die Entfernung zwischen den Fabrikanten solchen Humbugs und den Objekten der Verleumdung, desto länger die Stelzbeine der Lüge. Wie wäre es sonst möglich, daß man heute noch, wenn man in Indien erzählt, deutscher Feldsoldat im Kriege gewesen zu sein, von harmlosen braunen Geschöpfen gefragt wird, ob denn die aus Leichen fabri- zierte Margarine nicht recht garstig schmecke? In all diesem Northclisse- und Bottomley-Humbug steckt aber auch für uns eine sehr ernste Lehre: wollen die international orga- nisierten Arbeiter der Welt den wirklichen Frieden und die gegen- seitige Achtung der Völker erstreben, so werden sie— koste es was es wolle— sich bald dazu ausschwingen müssen, ihren eigenen Nachrichtendien st in den großen Reibungsgebieten des Im- perialismus von heute zu organisieren. Wohl denen, die bei diesem Wert« mit Helsen ! Franz Jost! Furtwängler.