!®el,a*e SprMpnd Dienstag, 5. Juni 1928
Jedem Kinde eine Erholungsreise i Die Eltern sollen wissen: Die Jagendämter helfen.
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20 Prozent, in den Arbeitervierteln sogar 40 Prozent der Ber - liner Schulkinder sind nach den Untersuchungen der Schulärzte unter- ernährt oder im Wachstum zurückgeblieben. Aber auch die übrigen Kinder unserer Großstadt bedürfen einer Erholungsreise im Jahre dringend. Der hohe gesundheitliche Wert einer mehrwöchigen klimatischen Veränderung sür die Entwicklung des Kindes bedarf keiner näheren Begründung. Ist doch der körperliche, geistige und seelische Erfolg einer Erholungsreise nur allzu deutlich sichtbar. Kinder, die einige Wochen an der See. im Gebirge oder auf dem Lande in vernünftiger Weise verbracht haben, zeigen sich nicht nur körperlich gekräftigt, sondern auch geistig reger und aufnahmefähiger als vorher. Die entstandene Schulversäumnis haben sie im allge- meinen sehr schnell wieder ausgeholt. Aber die Frage ist: wie kommt das Kind zu seiner Erholungsreise? Das Landesjugendamt und die 20 Bezirtsjugendämter Berlins bemühen sich fest Jahren nach Kräften, so viel wie möglich Kinder an die See, ins Gebirge oder aufs Land zur Erholung zu schicken. Im vorigen Jahre wurde 60 000 Kindern diese Wohltat zuteil, das sind, da im Mai vorigen Jahres Berlin 380 400 Schulkinder zählte, 15,8 Proz. aller Kinder. Gegenüber der Vorkriegszeit ein schöner Fortschritt! Freilich genügt er nicht. Berlin , das im vorigen Jahre 908 000 M. für die Verschickung von Kindern ausgegeben und in diesem Jahre bisher nur 643 000 M. bereitgestellt hat, muß bedeutend mehr Mittel für diese vorbeugende Fürsorge im besten Sinne auf-
zieherische Wert, der in dem Zusammenleben der Kinder unter pädagogischer Leitung liegt. In den Bauernhaushalten können sich die Pflegeeltern nur in sehr sellenen Ausnahmefällen der besonderen Aufmerksamkeit des fremden Kindes widmen. Ueber- Haupt passen in das Milieu eines Bauernhauses nur körperlich, geistig und seelisch robuste Kinder hinein. Die Großstadtkinder sind aber im allgemeinen sehr sensibel oeranlagt. Die Landarbeit, zu der die Kinder gewöhnlich herangezogen werden, ist ihrer allseitigen Entwicklung durchaus nicht dienlich. Aus allen diesen Gründen wer- den von den Jugendämtern nur noch wenige geeignete Landpflege- stellen beschickt. Vom gesundheitlichen und pädagogischen Gesichts- punkte aus betrachtet ist der Unterbringung der Kinder in einem guten Kinderheim selbst gegenüber einer Reise mit den Eltern der Vorzug zu geben. Wenn alle betelligten Faktoren: Jugendämter, soziale Versiche- rungsanstalten und Elternschaft zusammenwirken, dürfte das er- strebenswerte Ziel zu erreichen sein: Jedem Linde im Jahre eine Erholungsreise!
Glückliches Ende und Geschichte. Der Direktor des Moskauer Künstlertheatcrs. Dantschenko, hielt kürzlich nach der Rückkehr von seiner amerikanischen Studienreise in Moskau einen Vortrag, in dem er über seine Erlebnisse und Er- fahrungen in Hollywood berichtete. Wie bekannt, wollen die amerika - nischen Filmhersteller von dem tragischen Ausgang eines Films nichts wissen, halten vielmehr darauf, daß die Dinge zur Genug- tuung der Zuschauer gut ausgehen. Hierüber teilte Dantschenko einen typischen Fall mit. Man war dabei, einen Film zu drehen, der das abenteuerliche Leben des berühmten Aufrührers Pugatschew zum Gegenstand der Handlung hatte. Als man zu der Szene ge- kommen war, in der Pugatschew in einem eisernen Käfig auf den Richtplag transportiert wird, um dort exekutiert zu werden, pro- testierten die Produktionsleiter energisch gegen diese historische Dar» stellung und forderten, daß Pugatschew nicht hingerichtet werde, sondern daß er vielmehr die Gunst der Kaiserin Katharina II. er- ringen und als deren rechtmäßiger Gatte sein Leben beschließen solle.„Die Geschichte stellt die Dinge zwar wesentlich anders dar/ bemerkte Dantschenko,„aber nach der Theorie der Amerikaner braucht sich der Film um die historische Wahrhest nicht zu kümmern: es sei vielmehr sein gutes Recht, die Geschichte zu korrigieren im Sinn« eines befriedigenden und den Zuschauer in guter Stimmung ent- lassenden Ausganges."
Jugendrepublik„Rote Wacht".
Berliner Kinder im Ostseebad Carlshagen . wenden. Mehrere tausend Kinder mußten im vorigen Jahre zurück- bleiben, weil die Eltern keinen Beitrag zu den Verschickungskosten leisten konnten. Und das traf gerade die bedürftigsten der Kinder. Die hierfür ausgegebenen Mittel werden Ersparnisse in der Gesund- heitssürsorge erwirken. Das sollten sich aber auch die Eltern sagen! Was sie für die Verschickung ihrer Kinder an Mitteln auswenden, werden sie, viel- leicht noch darüber hinaus, an Arzt- und Arzneikosten ersparen können. Denn es hat sich, man kann fast sagen, in jedem einzelnen Falle gezeigt, daß Kinder, die vorher oft kränkelten, nach einer Er- holungsreise auf Monate hinaus von einer Krankheit verschont blieben. Auch die sozialen Versicherungsanstalten, insbesondere die Krankenkassen, sollten im eigenen Interesse das von den Jugend- ämtern eingeleitete Verschickungswerk nach Kräften unterstützen. Es ist eine kurzsichtige Politik, die einzelne, besonders die kleineren Kassen betreiben, wenn sie die Leistung eines Beitrags zur Ver- schickung von Kindern ihrer Mitglieder ablehnen. Die Jugendämter verschicken in erster Linie die von den S ch u l- ä r z t e n ausgewählten Kinder. Sie übernehmen ober auch gern die Vermittlung der Verschickung der übrigen Kinder. Eltern, deren Kinder Nicht. von den Schulärzten vorgeschlagen sind, aber deren Verschickung doch gewünscht wird, sollten sich an des Zugendamt ihres Bezirks wenden. bevor sie ihre Kinder anderweitig unterbringen. Auch in diesen Fällen ist vorher der Arzt zu hören, um das der Natur des Kindes entsprechende Klima auszuwählen. Kindern unbemittelter Eltern gewährt die Reichsbahn bedeutende Fahrpreisermäßi- g u n g e n. Anträge sind an das zuständige Jugendamt zu richten. Wir haben in Deutschland zahlreiche Kinderheime, die eine gute Verpflegung und Betreuung der Kinder gewährleisten. Daneben gibt es aber auch Unternehmungen, die aus rein privatkapitalistischem
Erholungsheim für Berliner Kinder in der Schweiz (Weißenburg , Berner Oberland .) Prinzip aufgebaut sind. Die Ellern sollten ihre Kinder nur in die von den Jugendämtern empfohlenen Heime schicken. Diese, die der Kontrolle der Jugendämter unterstehen, schließen sowohl eine Aus- Nutzung der Eltern wie auch eine schlechte Pflege der Kinder aus. Dein guten Kinderheim ist gegenüber der Einzelpflegestells der Vor- Zug zu geben. Denn in den gutgeleiteten Heimen ist alles auf die natürlichen Bedürfnisse der Kinder eingestellt.. Hier erhallen sie euch«im besonder« Körperpflege. Kazu kommt noch der hohe er»
Ueber di« dunklen Wipfeln des Waldes bei Pctcrsdors leuchtet weit hin sichtbar eine große rote Fahne. Der Wanderer, der an einem der Pfingstfeiertagc die feste Straße von Fürstenwalde zum Scharmützelsee oder aus einsamen schönen Wegen durch di« Rauenschen Berge nach Petersdorf wanderte, sah sie lustig im Winde flattern. Die Blicke der Insassen der zahllosen Autos, die in das teuere märkische Bad Saarow fahren, lenkte sie auf sich: überoll wo man stand, sah man nur die große rote Fahne. Die Soziali st ischc Arbeiterjugend Groß- Berlin hat hier ihr erstes Zeltlager errichtet und die Fahne am langen Mast ist Mittelpunkt des Lagers. Am Freitag vor Pfingsten wird es auf dem freien Platz zwischen Soldatenbergcn und Petersdorser See lebendig. Ein Lost- wagen bahnt sich mühsam den Weg zum Platz. Zwanzig kräftige Hände packen zu und bald liegen die Wohnungen sür dreihundert junge Menschen über den Plag verteilt. Schnell werden die Plätze der Zelle gekennzeichnet und dann beginnt der Aufbau. Schon am Abend, als ein seiner Regen einsetzt, steht der größte Teil der Zelte. Der Rest wird am andern Morgen aufgebaut, der Fahnenmast wird errichtet, das Transparent am Eingang ausgestellt. Inzwischen
Bei der Proviantausgabe. ist auch der Lieferwagen des Konsumvereins Fürstenwolde ange- kommen und Brot, Butter, Wurst, Käs«, Marmelade, Bananen und Apfelsinen werden ins Proviant, zell gebracht. Am Nachmittag ist das Lager fertig. Einunddreißig Zelte stehen im Rechteck um den hohen Fahnenmast und warten auf ihre Be- wohner. Gegen Abend kommen sie mit fliegenden Fahnen angerückt. Am Eingang werden sie vom Arbeitskommando empfangen und der Zug geht hinein ins Lager, im Kreis um den Fahnenmast herum, an dem zum Gruß die rote Fahne emporsteigt. Jeden Abend zur „Polizeistunde" wird sie eingeholt, um am andern Morgen beim Klang der Fanfaren, die die Schläfer wecken, wieder aufgezogen zu werden. Dann geht olles hinunter zum See waschen. Danach ist Proviantau-gabe. Nach dem Frühstück herrscht im Lager und aus dem Sportplatz daneben ein buntes Leben. Hier sitzt ein Kreis und singt bei Lautenbegleitung froh« Wanderlieder oder diskutiert, dort werden Wettspiele durchgeführt, Speer geworfen und gesprun- gen. Andere Gruppen führen Wanderungen in die nähere Um- gebung durch oder gehen zu den in der Nähe liegenden Braun- fohlengruben, bis die Fanfarenbläser di« Mittagszeit ansagen. Dann formiert sich ein langer Zug, der im Gleichschritt mit Musik, die mit Eßlöffeln auf den Näpfen Hervorgerufen wird, zum Dorf zieht zur Ellenausgabe. Der Nochmittag bleibt wieder für die Gruppen frei und am Abend findet eine kleine Feierstunde am Fahnenwall statt, die mit einem gemeinsamen Lied und dem Niederholen der Fahne endet. So vergehen di« Feiertage im Fluge, und der Abend des zwei- ten Feiertages naht heran, an dem die Teilnehmer, begleitet von den Glücklichen, die noch einen Tag länger bleiben dürsen, noch Fürstenwald« zur Bahn zurückmarschieren. Am dritten Feiertag wird das Lager abgebaut und wieder auf das Auto verladen, das die „Häuser" nach Berlin zurückbringt. Iugendrcpublik„Rote Wacht" wurde dieses Lager genannt. Der Zweck des Lagers war nicht nur, dreihundert Jugend- lichen die Möglichkeit zu geben, einige Tage bei herrlichem Wetter frei ur der Natur zu verbringen. Die braunen oder auch roten Ge.
sichter. di« beim Schluß des Lagers nur ungern wieder in die Stadt zogen, verband noch etwas anderes. Der Wille zum gemeinsamen Schaffen wurde lebendiger bei allen Teilnehmern. Gemeinsam hotte man das Lager aufgebaut, gemeinsam in voller Harmonie ohne jeden
Gesamtansicht des Zeltlagers. Mißton die Tage zusammen gelebt, gemeinsam das Lager wieder abgerissen. Solche Tage der Freiheit müssen wir uns, der Jugend, mehr erringen, das war der Wille aller, und die Worte eines jugendlichen Redners bei einer Abendfeier:„Die Anker hoch! Auf an die Arbeit!" wurden zum Gelöbnis aller Teilnehmer, die zurück in die Stadt an die Arbeit gingen. L i n d st ä d t.
Revolution in Duggendorf Pfarrer, Kircfaenchor und fleischfarbene Strümpfe. Diese Geschichte hat den Vorzug, unpolitisch zu sein, wenn auch ihr Held, soweit es sich um Sozialistenfresserei handelt, in höchstem Maße politisch ist. Lauerer heißt dieser Held. Er venrcibt sich die freie Zeit damit, an die Gastwirte Schreibebriefe zu schreiben, in denen er vor Vergebung der Säle an Sozialdemokraten warnt. Pfarrer ist er obendrein. Und zwar in Duggendorf in der Oberpfaiz. Dieser Pfarrer überraschte seine Gemeinde eines Tages mit folgendem Utas: Pom Pfarramte Duggendorf Post Pielenhofen(Ops.). Abschrift. Es ist ollgemein bekannt und wiederholt von der Kanzel aus betont worden, daß die Vorschriften der deutschen Bischöfe hin- sichtlich der Mode im Gewissen verpflichten. Trotzdem werden sündhafterweise die kirchlichen Gebote übertreten, sogar von solchen, welche als Chorsängerinnen bei kirchlichen Ver- rjchtungen, Leichen, Prozessionen usw. direkt mitwirken. Das gilt auch von der Kleidung, den kurzen Rocken, den fleischfarbigen Strümpfen, durchsichtigen Kleidern. von heute mittag an will ich solche nicht mehr sehen. Wer sich nicht anders kleiden will, betritt den Singchor nie mehr. Entweder gilt uns die Kirche und der Bischof etwas oder nicht. Für den katholischen Christen ist nicht die Mode maßgebend, sondern Reli- gion und Sittlichkeit. Gegen Schulpflichtige werde ich mit Strafen einschreiten, gegen die anderen wird es auch noch Mittel geben. Wer die Kirche nicht hört, der sei wie ein Heide, sagt der Apostel. Davon werden hiermit alle Chorsängerinnen gegen Unterschrift verständigt. Dabei wird auch hingewiesen, wie schon bekannt ist. daß. wer öffentliche Tänze besucht, also Bursche». bekanntschaft hat. aus dem Ehor nichts mehr zu suchen hat. Duggendorf, den 17. Mai 1928. Das Kath. Pfarramt Duggendorf. gez. Lauerer, Pf Der Erfolg? Anders als ihn sich Ehrwürden vorzestell: hat. Die Sängerinnen schickten den Ukaz ohne Unterschrift postwendend zurück und traten kurz entschlossen in den— Streik. Ob der . Pfarrer darauf mit dem großen Kirchenbann antwortete, ist nicht be» taimt geworden.