Beilage
Freitag, 8. Juni 1928
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19 Der Abend
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Dommernd fährt der von Osten tommende Zug über die Hohen zollernbrücke , diesem gespreizten und überladenen Bauwerk aus der wilhelminischen Epoche. In wenigen Minuten tritt man aus der weiten Halle des Hauptbahnhofs auf einen von zahlreichen Straßenbahnlinien durchschnittenen ansteigenden Platz, auf dem die eifrigste Buddelei im Gange ist. Dazwischen durch flizen Autos mit ohrenbetäubendem Gehupe. Der Strom der Passanten staut sich an den Haltestellen der Straßenbahnen oder ergießt sich längs aufgestellter Bauzäune. Wie eine kostbare Filigranarbeit erhebt sich, graublau und unwirklich, über dem Trubel der Kölner Dom , eingeengt durch die stattlichen Bauten, die in den letzten Jahren um ihn herum entstanden sind. Wandervögel in schlichter Kleidung, Fremde mit Sportmügen und Knickerbockers und fromme Frauen steigen die Stufen hinauf, um in dem gewaltigen Mittelportal zu verschwinden. Drinnen, in dämmriger Rühle, tönt verschwebender Gefang. In den bunten Glasfenstern leuchten Ritter, Heilige und Wappentiere. Dauerndes Kommen und Gehen der kein Ende nehmenden Besucherschar bringt Leben in die Stille. Endlich verstummt der Gesang und eine stattliche Schar junger Novizen verläßt im Gänsemarsch den Dom, ein lebendiger Anachronismus im Trubel des Verkehrs.
Mit wenigen Schritten ist man am Rhein unten. Prächtig der Blid rheinaufwärts zur Hängebrücke, die sich leicht und elastisch über dem breiten Strom spannt und Köln mit Deutz verbindet. Wie plump und progig dagegen wirkt die Hohenzollernbrüde mit ihrem
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Die Hängebrücke nach Deutz . ,, historischen" Krimskrams! Zwischen beiden Brücken am linksrhei nifchen Ufer das älteste Röln. Da drängt sich an der Frankenmerfi eine ganze Reihe von schmalbrüftigen, hochgebauten Giebelhäusern. Wunderliche schieffizende Fenster, die ganz erstaunt auf die gegen überliegende breite Rheinfront der Bressa" zu blinzeln scheinen, altertümliche Dachrinnen, seltsame Borbauten, überragt von dem mächtigen viereckigen Turm von Groß St. Martin und den schlanken Spigen des Doms, geben ein reizvolles Bild.
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Man begreift, daß das Kölner Organ der Sozialdemokratischen Partei, die Rheinische Zeitung ", in diesem weihrauch durch schwängerten Milieu feinen leichten Stand hat. Aber in Deutz und Mülheim drüben ragen die Schornsteine der Industrieanlagen in den Himmel, Symbole der neuen Zeit und unter den weitläufigen Ausstellungshallen der„ Bressa" steht stolz und selbstbewußt das Haus der Arbeiterpresse. Ja, reich an Gegensägen
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Alte Häuser am Filzengraben.
Komm
ist Köln ! In die Fenster der Redaktion der Rheinischen Beitung" guckt der liebliche Turin von Sankt Ursula, trostreiches Symbol für jene sozialdemokratischen Redakteure, die vor dem Kriege wegen Pressevergehen auf der anderen Seite im Staatsgefängnis faßen. Aber auch die Schicksalsbrücke, über deren Geleise im August 1914 innerhalb einer Woche zwei Millionen deutscher Soldaten nach Belgien rollten, fann man von da oben sehen. Dort, hart an der Bahn, am Lauta - Ring, steigt der Riefenbau eines Hochhauses empor. Als Gegenbeispiel wohl hat man am Filzengraben traurig aussehende säulengeſtüßte Häuserbaracken stehenlassen, deren blinde und ausgeschlagene Fenster Wind und Regen Einlaß gewähren. Freundlicher wirken da die behaglichen Gaststätten mit den schwer übersetzbaren Aufschriften Em Boßhöönche",„ Em isere Boor", und man erinnert sich plötzlich an den alten mittelalterlichen Spruch, den ein von dem guten Leben in Köln begeisterter Chronist geprägt haben mag: ,, Coelen eyn Kroyn, boren allen Steden schoyn."
H. K.
Spalausgabe des Vorwärts
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Der Eiserne Gustav" ift in Paris eingezogen. Er ist wie ein Fürſt" empfangen worden. Er hat seinen Wagen durch Clodius, ferner der Direktor des" Paris Midi", sodann der ein Spalier begeisterter Pariser zwängen müssen. Legationsra: zurzeit in Paris weilende Chefredakteur der„ B. 3." haben auf sein Wohl getrunken und ihm freundliche Worte gesagt. Ein Mann hat sich an den Wagen gedrängt und laut gerufen:" Es lebe Deutsch land ! Das sage ich als franzöſiſcher Soldat." Er hat also offenbar angesichts des wackeren Berliner Droschfenfutschers sein politisches Damaskus erlebt. Festbankette sind vorgesehen. Die deutsche Botschaft, die angloamerikanische Presse geben ein Essen.... Da muß man schon sagen, daß die Sache mit dem Völkerfrieden fluscht. Das meistgelesenste Blatt Deutschlands , die„ Berliner Morgen= post", spricht es denn auch in einem sich über sechs Spalten erstreckenden und auf der Kopfseite beginnenden Artikel furchtlos aus: Gustav Hartman aus Berlin - Wannsee , der Berliner Fuhrherr, der innerhalb zweier Monate mit seinem Gaul Grasmus die Strecke Berlin - Paris bewältigte, ist nichts mehr und nichts weniger als ein„ Sendbote der Versöhnung"... Tja, es geht uns famos. Wohin man spudt, machen wir moralische Eroberungen. Köhl und Hünefeld haben uns Amerika zu Füßen geworfen; auf der Amst er damer Olympiade haben wir uns durch Kalb ( Süddeutschland ) und Hofmann( Meerane ), die Führer unserer Fußballelf( auch wenn sie wegen unmanierlicher Holzerei aus dem Spielfeld verwiesen werden mußten), mit der Welt verständigt, und nun reichen wir dem„ Erbfeind" jenseits des Rheines gar durch den Eisernen Gustav endgültig die Bruderhand.
Kein Zweifel, daß der neunundsechzigjährige Gustav Hartmann aus Wannsee ein liebenswerter Greis ist, ein schlichter und mert voller Mann des Volkes. Kein Zweifel, daß es eine lustige Idee war, am Ende eines, von der Romantik eines absterbenden Gewerbes umwitterten Berufslebens, gen Westen zu futschieren und sich mal ein bißchen in Paris umzugucken. Aber was ist das bloß für ein Urfug, pie Anmut eines Juges durch säuerliche Pathetik zu vernichten! Deputierte, Botschafter, Verlagsdirektoren, Chefredar. teure.... Lieber Gustav Hartmann : Du hast ein Leben lang treue Arbeit geleistet. Es hat kein Hahn nach dir gekräht, so wenig, wie sich um deine Arbeitskollegen daheim jemand kümmert, die in hoffnungsloser Konkurrenz gegen die Autos verkümmern. Jezt reden sie dir ein Loch in den Bauch und tun furchtbar leutselig und meinen in Wahrheit gar nicht dich, sondern ihren eigenen Rummel, den sie inszeniert haben, und deren zufälliges Werkzeug du bist. Dja, es gibt Sendboten der Versöhnung, aber sie gehören nicht jener champagnertrinkenden Internationale der Festessen an, in die du feierlich aufgenommen worden bist, sondern jener anderen Internationale der Arbeit. Insofern du freilich auch deren Mitglied bist, bist du in Wahrheit ein Völkerversöhner, und es hätte nicht einmal deiner Fahrt nach Paris bedurft, um das zu bekräftigen. Hans Bauer.
Hinter Mauern.
Veraltete und moderne Fürsorgeerziehung.
Richt ganz so reizvoll mögen die Wohnverhältnisse in biefem hauptsächlich von Proletariern bewohnten Biertel sein. Buttermartt und Rothenberggaffe find schon von peinlich wirkender Enge und der Mangel an Licht und Luft mag nur für die erträglich sein, die fich daran gewöhnen mußten. Hier ist das Paradies für„ Gelegenheitsfäuse", aber auch die Prostitution angelt vor mancher Tür und in manchem Fenster nach Opfern. Hier steht auch das Haus, in dem Robert Blum , der 1848 in Wien erschossen wurde, gewohnt hat. Eine einfache Marmortafel mit Relief und Inschrift, umfränzt von einer Guirlande aus Tannenzweigen, erinnert an den Die Erziehung verwahrlofter, geistig minderwertiger, verbreche Märtyrer. Buntes Markttreiben umfängt uns auf dem Heurischer Kinder und Jugendlicher ist eine pädagogische Aufgabe, deren martt. Gegen die stattlichen weißen Bagen der Borortbahnen, die hier ihre Ausgangsstation haben, wirken die grünen Wägelchen der Größe und Schwierigkeit schon seit geraumer Zeit erkannt wurde, deren wirkliche Lösung wir aber erst in den allerlegten Jahren um Straßenbahn beluftigend flein . einiges näher gekommen sind. Noch heute sehen weite Kreise in Gesellschaftsordnung deren Unerschütterlichkeit in Frage stellte, einen jedem, der durch einen Verstoß gegen die Geseze der bestehenden Es ist noch nicht lange her, daß diese Auffassung auch bei der Be Verbrecher, an dem diese Gesellschaftsordnung gerächt werden muß. handlung verwahrloster Jugendlicher die Grundidee bildete. Härteste förperliche Züchtigungen und ausgeflügelte seelische Wartern wurden in sogenannten„ Besserungsanstalten" im Zeichen des Christentums über die Geftrauchelten verhängt. Den Büßern öffnete dann die Kirche die Arme und versprach ihnen ewiges Heil im Jenseits. Was erreichte man mit dieser Methode? Im besten Fall wurden aus den willensschwachen, schmer lentbaren Kindern Dudmäuser, innerlich haltlose Menschen, Heuchler im schlimmsten Fall Verbrecher.
Tiefe Häuserbreschen in dem angrenzenden alten Viertel und ver nachlässigte Baupläge beweisen, daß auch das alte Köln den gesteigerten Ansprüchen des Verkehrs Rechnung tragen möchte, aber fich über den rechten Weg noch nicht flar zu sein scheint. Während rund um die Stadt auf den ehemaligen Festungswällen breite Ring: straßen laufen und die Bororte immer weiter hinausstreben, drängt und schiebt sich das Bolt durch die schmalen Gassen der Altstadt. Namentlich in der hohen Straße, die gleichzeitig eine Ge
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Blick aus der Redaktion der ,, Rheinischen Zeitung ". schäftsstraße ersten Ranges ist, erreicht das Menschengewimmel seinen Höhepunkt. Seitab träumen versteckt uralte Kirchlein von den glanzvollen Zeiten unter den Kölner Erzbischöfen. Selten trieft eine Stadt so von historischen Erinnerungen wie das heilige Köln ". Bon der Colonia Agrippina", in der die Schritte der römischen Legionen dröhnten, bis zur heutigen Großstadt mit 700 000 Einwohnern ist ein weiter Schritt. An die Zwischenzeit erinnern die zahllosen mittelalterlichen Ueberbleibsel, einige hundert Kirchen, seltsam klingende Straßen und Hausbezeichnungen und die Macht des Klerus, die sich bei feierlichen Anlässen so prunfvoll manifestiert. Sogar der Geist des großen Erzbischofs Anno( 11. Jahrhundert) spukt als Berniprechamisbezeichnung in bas nüchterne Alltagsleben,
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Die theoretische Erkenntnis, daß solche Erziehung schlechter ist als gar keine, und daß ein seelisch schwaches oder frankes Geschöpf nicht durch Gemaltmaßnahmen, sondern nur durch sorgsame, verständnisvolle Pflege gefräftigt und geheilt und damit zu einem nüzlichen Glied der menschlichen Gemeinschaft gemacht werden kann, hat sich gegenwärtig wohl fast allgemein Bahn gebrochen. Daß dieses Biffen sich leider vorläufig in sehr bescheidenem Maße auf die Praxis auswirkt, liegt aber sicher nicht am mangelnden guten Willen. Doch obwohl die Notwendigkeit einer zweckmäßigen Heilbehandlung durch aus unbestritten bleibt, ist man sich über das Wie" dieser Behandlung noch recht uneinig. Dem Verein preußischer An staltspädagogen" gebührt die Anerkennung, daß er sich eifrig bemüht, Richtwege für die Praxis zu finden. Auch seine 3. öffentliche Tagung diente diesem Ziel. In eingehenden Referaten wurde über das fürsorgebedürftige Kind, den inneren Aufbau der Erziehungsanstalten und die Erziehungsmethoden gesprochen und dabei in der Hauptsache die praktischen Ergebnisse berücksichtigt.
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Wenn man wirklich helfen will, so hat es feinen Sinn, sich mit pielen Erörterungen über ein zurzeit unerreichbares Ideal aufzu halten. Am Klarsten betonte diese Tatsache der Psychoanalytiker Dr. Bernfeld, der über Strafe und Disziplin in den Erziehungsanstalten" sprach. Er wies darauf hin, daß es zwedlos jei, einzelne besonders gut geleitete Anstalten als Vorbild hinzustellen. Die Bersönlichkeiten, die ihnen den Stempel aufbrüden, fehlen an anderen Orten. Dem pädagogischen Genie follte es stets freigestellt bleiben, eine Anstalt nach seinen Ideen aufzubauen. Richtlinien sind dagegen für alle nicht durch hervorragende erzieherische Begabung ausge zeichneten Anstaltsleiter nötig. Nach seinen eigenen Erfahrungen hält es Dr. Bernfeld für das beste, wenn Erziehungsgewalt und Strafgewalt so getrennt werden, daß die erstere von den Pädagogen, die andere aber von der Schülerfelbstverwaltung ausgeübt wird
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natürlich nur, wenn es sich nicht um geistig sehr minderwertige Kinder handelt. Der Erzieher tann sich leichter das Vertrauen der Kinder erringen, wenn er darauf verzichten darf, gegen sie die Strafen zu verhängen. Aeußere Ordnung an einer Anstalt ist noch keine innere Disziplin. Dr. Bernfeld betonte, daß eine gewisse äußere Ordnung für das Gemeinschaftsleben sicherlich notwendig sei, daß sie aber für den Grad der inneren Entwicklung erst dann etwas aussage, wenn sie von den Jugendlichen aus eigenem Antrieb aufrechterhalten wird.
Für größte persönliche Bewegungsfreiheit der 3öglinge trat Pastor Wolff ein. Die Anstaltserziehung muß die Menschen für das wirkliche Leben vorbereiten. Tut sie das nicht, so ist sie finnlos. Es ist die erste Hauptaufgabe des Anstaltspädagogen, den jungen Menschen seinem Einfluß zu gewinnen. Aber dann muß er die zweite, noch größere Aufgabe lösen, ihn auch wieder davon frei zu machen und auf sich selbst zu stellen. Sonst wird sich der Zögling wohl in der Anstalt bewähren, aber im Leben versagen. Wie mittelalterlich manche Fürsorgeanstalten noch beschaffen sind, zeigte die Schilderung, die Pastor Wolff von einem Erziehungsheim für 500 verwahrlofte schulentlassene Mädchen gab. Sie schlafen in drei riesigen Sälen, arbeiten in drei Gruppen zu etwa je 170 zusammen. Die Freizeit verbringen sie in einem Hof mit 3 bis 4 Meter hohen Mauern, ohne Grün, völlig abgeschlossen von der Außenwelt. Wie sollen sich diese Mädchen einmal im Leben wieder zurechtfinden, in das sie verbittert und erlebnishungrig hinaustreten? An seinem Knabenerziehungsheim hat Pastor Wolff mit bestem Erfolg eine große Bewegungsfreiheit eingeführt. Die Jugendlichen können Bereine gründen, sich auch großen Sportverbänden außerhalb der Anstalt anschließen und an ihren Veranstaltungen teilnehmen. Sie gehen als Lehrlinge in die umliegenden Fabriken. Gerade die berufliche Er. tüchtigung ist in den Fürsorgeanstalten vielfach vernachlässigt worden. Der Bögling wurde zur Landarbeit gezwungen, die dem Großstadtfind fast immer widerstrebt. Er entlief ihr, sobald er konnte, murde ungelernter Arbeiter oder Verbrecher. Die Erfahrungen, die man bisher mit den Fürsorgezöglingen als Lehrlinge außerhalb der Anstalt machte, sind die denkbar beften.
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Anstaltslehrer Leutte zeigte, welche Rolle ,, die Anstaltsschule in der Anstaltserziehung" spielen muß. Pädagogisch unausgebildete Erzieher leiten heute in den meisten Fällen noch die Fürsorgezöglinge. außerhalb der Schulzeit. Diatonen der Inneren Mission, die eine fehr unzulängliche Ausbildung haben, dürfen die 3öglinge sogar unterrichten. Die Anstaltspädagogen fordern, daß der Ministerialerlaß aus dem Jahre 1863, auf Grund dessen diese Zustände möglich find, aufgehoben wird und die vorgesetzten Behörden überhaupt mehr Intereffe für die Ausbildung der Anstaltslehrer zeigen. Erst wenn Anstaltsschule und Anstaltserziehung völlig ineinander verschmelzen, fann wirklich fruchtbare Arbeit an den Zöglingen geleistet
werden.