Morgenausgabe
Nr. 281
A 144
45.Jahrgang
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Vorwärts
Berliner Boltsblatt
Sonnabend
16. Juni 1928
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Stockende Verhandlungen.
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Um die ,, Gleichzeitigkeit" der Umbildung in Preußen.
Die Stodung in den Verhandlungen über die Regierungsbildung, die durch das Verlangen der Deutschen Volkspartei nach der gleichzeitigen Umbildung der preußischen Regierung entstanden ist, dauert an. Erst in den Abendstunden trat die Deutsche Volkspartei zu einer Fraktionssizung zusammen, ging aber ohne Beschluß aus einander. Ueber ihre Verhandlungen wird mitgeteilt, daß man nach wie vor trotz des Eingreifens Dr. Strese manns an der ursprünglichen Forderung bezüglich der Regierungsbildung in Preußen festhält, aber zur Fortfetzung der Verhandlungen über die materielle Baraussetzung der Schaffung der Großen Koalition bereit sei. Selbverständlich hält auf der andern Seite die Sozialdemokratie an ihrer Auffassung fest, wonach das Reich und die Barteien des Reichstags sich in die inneren Angelegenheiten Preußens nicht einzumischen haben. Wenn also jetzt die Vorstände der preußischen Koalitionsparteien sich in den nächsten Tagen mit der Frage der Umbildung des preußischen Kabinetts beschäftigen werden, so ist das ihre Sache, und wir haben abzuwarten, zu welcher Entscheidung sie gelangen
werden.
Da Genosse Müller den größten Wert darauf legt, die Berhandlungen nicht völlig versumpfen zu lassere und sie trotz der Schwierigkeiten, die aus dem preußischen Problem entstanden sind, weiter zu treiben, hat er für Sonnabend vormittag die Verhandlungskommission der für die Große Koalition in Frage kommenden Gruppen zu einer Sigung einberufen, in der über die übrigen Fragen, deren Beantwortung die, sachliche Grundlage für die Regierung und ihre Arbeit bilden soll, gesprochen wird.
Der Reichstag hat sich gestern vertagt. Der Präsident wird ihn einberufen, sobald eine neue Regierung da ist und eine Erklärung abzugeben bereit ist.
Die sozialdemokratische Reichstagsfrat tion hielt gestern eine ganz furze Sigung ab. Die nächste ist erst wieder am Dienstagnachmittag 3 Uhr.
Alles bleibt beim alten.
( Eigenbericht.)
Am 20. Juni tritt die Regierung Held zurüd, das heißt fie stellt ihre Aemter dem tags darauf zusammentretenden neuen Landtag zur Verfügung. Die Bayerische Volkspartei ist eifrig an der Arbeit, in ihren eigenen Reihen eine Klärung herbeizuführen; die ist notwendig, weil tatsächlich in den weitesten Kreisen der Bayerischen Volkspartei starte Strömungen gegen die Wieder aufrichtung der alten Koalition bestehen. Sie wollen
Gie predigen in leeren Kirchen.
Aber sie fordern die chriftliche Schule.
Die Kreuz- Zeitung " betrachtet in ihrer gestrigen Morgenausgabe die Reichstagswahlen vom firchlichen Standpunkt. Sie muß das gleiche, was fürzlich die„ Germania " für die katholischen Wähler festgestellt hat, auch für die evangelischen feststellen: fie find den christlichen Parteien in Scharen davongelaufen. Der Ausfall der politischen Wahlen belegt die deutschen Christen, mit Müdig feit und Berdrossenheit".
Das christlich- konservative Organ versucht, seine Leser aus dieser Müdigkeit und Berdrossenheit wieder emporzuheben. Es verweist auf die herrlichen Leistungen der evangelischen Oberhirten im Dienste des Glaubens, die den Kirchenmitgliedern ein Ansporn sein müffen. Da heißt es wörtlich:
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,, Es verdient die Bewunderung aller, wie unsere evangelischen Prediger in den leeren Kirchen Sonntag für Sonntag das Evangelium verkündigen....
Also vor leeren Kirchen predigen die Prediger der evan gelischen Kirche! Das ist ein wertvolles Eingeständnis, das Geständnis einer immer wieder bestrittenen Tatsache. Es gibt also nur noch ein geringes Gemeindeleben in der protestantischen Kirche, die Massen der Gemeindemitglieder haben kein Interesse mehr an den kirchlichen Veranstaltungen.
Wie aber verträgt sich die Leere der Kirche mit den Ansprüchen der Kirche? Chriftliche Eltern besuchen zugestandener maßen die Kirchen nicht mehr; da follen wir es glauben, daß ihnen an einer„ chriftlichen Erziehung" ihrer Kinder soviel liegt?
Es sind nicht die Eltern selbst, die für die Elternbeirats pahlen, christliche Listen" aufstellen. Alle diese Bestrebungen, Aufrufe, Ermahnungen, Randidatenliften gehen nicht von Eltern, fie
zum größeren Teil eine neuerliche Zusammenarbeit mit dem Bauernbund, der seine ganze Wahlarbeit gegen die Bayerische Boltspartei eingestellt habe und davon auch den Nußen einer Berdoppelung seiner Mandate gezogen hat. Die politisch links stehenden Elemente der Bayerischen Volkspartei , die zahlenmäßig allerdings nicht sehr start sind, haben aber auch grund. fägliche Bedenken gegen eine Wiederverbrüderung mit den Deutschnationalen, da sie einzusehen beginnen, daß die Deutsch nationalen der böse Geist in der bayerischen Politik der letzten Jahre gewesen sind und es für die Bayerische Bolkspartei im eigenen Interesse an der Zeit ist, aus der schwarzweißroten Umflammerung herauszukommen.
Diese Entwicklung ist aber noch nicht im Stadium praktischer Die sogenannte Liquidationspolitik des Auswirkung. Ministerpräsidenten Dr. Held, auf die er selbst so stolz ist, bezog fich lediglich auf eine zeitweise Eindämmung der Hitlerei, während fich die innere Stellung zu den bayerischen Schandmethoden der Jahre 1920 bis 1923 nicht wesentlich geändert
hat. Heute noch spielen maßgebende Führer der Bayerischen Boltspartei mit dem ruchlosen Gedanken, die sozialistische Arbeiterschaft durch die Schergen des bunt zusammengewürfelten Faschismus in Bayern niederzutreten und womöglich auszu rotten, und Tausende von kleinen Funktionären der HeldPartei dürfen nach wie vor in den sogenannten vaterländischen Birkeln der 1923er Politik der Kahr- Knilling huldigen. Dazu werden diese kleinen Geister noch besonders ermuntert durch die enge Fühlung und Frendschaft, die der Parteioberste Held mit dem deutschnationalen Justisminister Gürtner hält, der zu seinem einstigen Bekenntnis steht: Die Nationalsozialisten find Fleisch vom deutschnationalen Fleisch. So sieht in Wirklichkeit die Liquidation
der staatsverbrecherischen Kahr - Politik aus.
Unter diesen Umständen scheint, ganz abgesehen von den partifularistischen Tendenzen der Bayerischen Bolts. partei, die Zeit noch nicht gekommen, wo diese Partei für die Sozialdemokratie in Bayern foalitionsfähig wäre. Die Bayerische Bolkspartei möge ihre Ehefreuden mit den Deutschnationalen, die ihren Höhepunkt in einer
noch ungefühnten hochverräterischen Staatspolitik
fanden, zur vollen Neige austosten und erst nach dieser Läuterung die Sozialdemokratie vor die Frage einer gemeinsamen Regierungsbeteiligung stellen. An eine wesentliche Aenderung der bayerischen Regierungspolitit ift für die nächste Zeit nicht zu denken. Die Taft. versuche der Bayerischen Boltspartei- Bresse für eine neue Koalitions politit verfolgen nur den 3wed, den Deutschnationalen Angst ein. zujagen und sie für die Neubildung der Regierung und des Koalitionsprogramms gefügiger zu machen. Für die Charakterisierung der neuen Regierung genügt es vollauf, zu wissen, daß ihr Chef wiederum held, und ihr Justizminister wiederum Gürtner heißen wird, derselbe Deutschnationale, der nach den Enthüllungen im parlamentarischen Untersuchungsausschuß nur durch die ihn schützende Hand des Ministerpräsidenten der Verantwortung vor dem Staatsgerichtshof entgangen ist!
gehen von den Beamten der evangelischen Kirche selbst aus. Die Eltern find gar nicht mehr die Träger des religiösen Lebens in Kirche und Schule, das sind die Prediger, die ,, Sonntag für Sonntag in ihren leeren Rirchen das Evangelium verkündigen". Hinter all diesen Forderungen stehen nur die Pastoren und Prediger! Das follten die Freunde der fortschrittlichen Schule ben Eltern ins Gedächtnis rufen, die sich von den„ Christlich- Unpolitischen" einfangen lassen wollen.
Schutz vor Giftgas!
Die fozialdemokratische Reichstagsfrattion hat folgende Anfrage eingebracht: Am 20. Mai d. 3. ift. auf der Insel Peute bei Hamburg in der Lagerstätte der Müggenburg A.-G. ein mit Giftstoffen gefüllter Keffel explodiert. Die freigewordenen Gase sind nach HarburgWilhelmsburg gezogen und haben dort eine große Anzahl Todesfälle und viele schwere und leichte Gaserkrankungen hervorgerufen. Zeitungsmeldungen zufolge lagern bei der Müggenburg A.-G. fowie an anderen Orten des Reiches weitere Mengen ähnlicher Giftstoffe.
Wir richten an die Reichsregierung die Frage: 1. Welche Arten von Giftstoffen waren bzw. find in Harburg - Wilhelms burg gelagerf? 2. Aus welchen Beständen stammen diese Giftstoffe und für welchen 3wed find sie bestimmt? 3. Sind an anderen Orten des Reiches Stoffe ähnlicher Art gelagert? 4. Welche Borkehrungen sind von der Reichsregierung getroffen, um ähnliche Katastrophen wie in Harburg- Wilhelmsburg unter allen Umständen zu verhindern? 5. Welche Maßnahmen hat die Reichsregierung eingeleitet, um die von der Katastrophe mittelbar oder unmittelbar Betroffenen zu entschädigen?"
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Bostichedkonto: Berlin 37 536. Bankkonto: Bank der Arbeiter, Angestellten und Beamten Wallstr. 65. Diskonto- Gesellschaft, Depositentasse Lindenstr 3
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Vertrauen zur Führung. Politik des Möglichen. Bon May Westphal.
Bom 3. bis 10. Juni fand in Stockholm , in dem erst vor furzem neu erbauten schönen Konzerthaus", der Parteitag der Sozialdemokratie Schwedens statt. Es war der erste Parteitag nach dem Tode Brantings und Thorssons, der beiden hervorragenden Führer der schwedischen Arbeiter= bewegung. Von der Bedeutung und Popularität namentlich Brantings können wir in Deutschland uns nur eine Vorstellung machen, wenn wir uns der Persönlichkeit Auguſt Bebels erinnern. Mit starker innerer Bewegung lauschten die Teilnehmer an der Eröffnungsfeier des Parteitages den Worten, mit denen der Genosse Ber Albin Hansson der verstorbenen Führer gedachte, die der schwedischen Arbeiter= schaft durch Jahrzehnte hindurch den Weg und Ziel gewiesen haben.
Die fast 400 Delegierten( einschließlich Parteivorstand und Fraktionsvertretungen) hatten eine außerordentlich um= fangreiche Tagesordnung zu erledigen, so daß trok der siebentägigen Verhandlungszeit noch Spätsigungen anberaumt werden mußten. Unsere schwedischen Parteigenossen halten nämlich nur alle vier Jahre, immer furz vor der Neuwahl der Zweiten Kammer des Reichstags, einen Parteitag ab. Die pier Jahresberichte des Parteivorstandes und der Fraktionen sind dann ein guter ,, Grundstock" für die Verhandlungen, zu dem die zahlreichen Anträge hinzufommen. Die Tagesord= nung des diesjährigen Parteitags enthielt nun außer den Berichten und Anträgen als besondere Berhandlungsgegenstände noch die Feststellung einer Richtlinie für das Berhalten der Partei aur Regierungsfrage und einige Abänderungsvorschläge zum allgemeinen politischen, zum Agrarund Kommunalprogramm der Partei. Bei diesen legieren Vorschlägen handelte es sich nicht um grundsätzliche Fragen, sondern im wesentlichen um Ergänzungen der Gegenwartsforderungen, die durch die politische Pragis nötig geworden find.
Der
Die Beratungen sind sehr gründlich. So werden die Bes richte zuerst einem vom Parteitag gewählten größeren Aus schuß zur Vorprüfung überwiesen und danach erst auf der Grundlage des schriftlich vorgelegten Befundes im Plemum diskutiert. Die Anträge zum Parteitag müssen fünf Monate vor dessen Stattfinden( der Parteitag wird sieben Monate por Stattfinden einberufen) beim Parteivorstand eingereicht fein. Die Anträge werden vom Parteivorstand beraten; er legt seine Stellungnahme zu jedem Antrag schriftlich fest und übermittelt dann die Anträge nebst seiner Meinungsäußerung drei Monate vor dem Parteitag den Ortsgruppen. Parteitag seht dann die Debatte über das Für und Wider fort, wobei jeder Antrag besonders behandelt wird. Bemerkenswert ist, daß ein Antrag, den Parteitag in Zukunft alle zwei Jahre stattfinden zu lassen, mit sehr großer Mehrheit abgelehnt wurde. Diese Entscheidung muß wohl in erster Linie gewertet werden als ein Ausdruck der politischen Geschloffenheit der Partei. Ihre politische Linie ist nicht umftritten. Das tam auch bei den weiteren Verhandlungen immer wieder zum Ausdruck. Aber diese Entscheidung darf auch gewertet werden als ein starkes Vertrauens= votum für die Parteileitung; denn es gibt zwischen dem Parteitag und dem Parteivorstand keine 3wischeninstanz, so daß dem Parteivorstand in der vierjährigen Pause zwischen den Parteitagen die Führung der Partei und ihrer Politit allein anvertraut ist. Diese Regelung, die noch aus der Zeit stammt, in der die Partei wesentlich fleiner war als sie heute ist, soll mun aber den veränderten Berhältnissen angepaßt werden. Es ist diesmal dem ParteiDorstand ein Antrag zur weiteren Bearbeitung überwiesen morden, der die Schaffung einer Zwischeninstanz, etwa in der Art unseres Parteiausschusses, wünscht. Als Uebergangsmaßnahme wurde beschlossen, die Zahl der Parteivorstandsmitglieder zu erhöhen, so daß jetzt 7 Bertreter aus Stockholm ( bisher 5) und 22 Vertreter( bisher 16) aus den Landesorganisationen gewählt wurden. Bei der Vorstandswahi wurde Per Albin Hansson einmütig als Nach= folger Brantigs im Amte des Vorsitzenden bestimmt.
Die Jahresberichte der Partei zeigen einen außerordentlich günstigen Stand der Bewegung. Seit Ende 1923 hat sich die Organisation um 352 Ortsvereine und 64 828 Mitglieder vergrößert. Schwedens Sozialdemokratie musterte Anfang 1928 in 1397 Ortsvereinen 203 338 Mitglieder. Das ist int einem Lande mit einer Bevölkerung von rund 6 Millionen eine respektable Macht. Dabei ist noch zu bemerken, daß eine fozialdemokratische Jugendorganisation mit gegenwärtig 748 Ortsgruppen und 41 000 Mitgliedern( von denen etwa ein Drittel auch schon als Parteimitglieder gezählt find) be= steht, die außerordentlich rege arbeitet und mit der Partei zu engster Kampfgemeinschaft verbunden ist. Der Landeszentrale der Gewerkschaften find Organisationen mit zusammen 440 000 Mitgliedern angeschlossen. Außerdem gibt es noch einige Gewerkschaften, vor allem Staatsarbeiter und Beamtenorganisationen, die der Landeszentrale aus taktischen,