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Beilage

Dienstag, 19. Juni 1928.

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Der Abend

Spalausgabe des Vorwärts

Das werktätige Indien  .

Hungerlöhne und frühkapitalistische Menschenschinderei.

Der Großstreit in der Textilindustrie von Bombay   lenkt wiederum die Aufmerksamkeit auf die sozialen Zustände in dem indischen Riesenreich, von denen man ja sonst so wenig hört. Nun haben im Jahre 1926/27 Vertreter des Deutschen  und des Englischen   Textilarbeiterverbandes Indien   besucht, und zwar nicht als Vergnügungsreisende, die die schönen Gebäude, son­dern die die Menschen sehen wollten. Sie stiegen in die Tiefen des Lebens hinab, wo Elend und Hunger heimisch sind. Und so wird der Bericht der deutschen   Gewerkschaftsfunktionäre zu einer wuchtigen Anflageschrift gegen das unmenschliche Ausbeu= tungssystem, dessen Opfer die indische Arbeiterklasse ist. Bei uns herrscht noch eine große Unwissenheit über alles, was jenseits des Suezkanals sich abspielt. Hier erfahren wir aber von Augen­zeugen, wie der indische Arbeiter arbeitet und lebt. Ein buntes Bild, das mit dem modernen europäischen   Prole­tarierdasein wohl viele Berührungspunkte hat, im wesentlichen aber anders geartet ist. Bielmehr sind hier Anklänge an den europäi­ schen   Frühfapitalismus vor etwa 80 Jahren, wie ihn Friedrich Engels   geschildert hat, vorhanden. Der indische Proletarier führt im wahren Sinne des Wortes ein Bettlerdasein. Löhne von 60 m. ( nach deutschem Gelde) monatlich sind eine Ausnahme, die von den bestbezahlten Arbeitern der Textilbranche verdient werden. Ein Tagesverdienst von 1,- bis 1,50 M. für den qualifizierten Arbeiter

die indische Gewertschaftsbewegung, von der man eigent lich erst seit dem Kriege reden darf, ist im Aufschwung begriffen. Die industrielle Arbeiterschaft macht in Indien   nur einen ganz un­bedeutenden Teil der Gesamtbevölkerung aus etwa 3 Millionen

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internationale gespielt, die mit großer Begeisterung aufge­nommen wurden. Dieses greifbare Zeichen der Solidarität des europäischen   Proletariats hat den Mut der streifenden Arbeiter be= deutend gehoben, so daß sie drei Monate lang im Kampf aus­harrten, bis er mit einem gewissen Erfolge beendet wurde. Zahl­reiche Arbeiter sind aber doch während des Streiks direkt ver­hungert. Die heutigen großen Kämpfe in der Textilindustrie von Bombay   zeigen anscheinend ein noch größeres Ausmaß als jene Don 1925.

Das indische Proletariat legt ein großes Interesse für die euro­päische Arbeiterbewegung an den Tag und erwartet von hier nicht mur materielle, sondern vor allem moralische Unterstügung. Aber auch der europäische   Arbeiter muß ein großes Interesse an den bortigen Kämpfen haben; jenseits des Suezkanals, im fernen Indien  , zeitigt der moderne Großfapitalismus dieselbe Ent­wicklung, die Europa   vor etwa 100 Jahren durch. gemacht hat. Aber das Tempo dieser Entwicklung ist rasend, der indische Kapitalismus   holt mit Riesenschritten sei. nen älteren Bruder in Europa   ein und tritt schon heute in erbitterte Konkurrenz mit den Erzeugnissen unserer Industrie. Gegen diese Entwicklung fönnen wir uns nicht mehren, wir sind aber daran interessiert, daß diese Konkurrenz nicht durch Hungerlöhne und eine frühfapitalistische Menschenschinderei in Indien  

So wohnt der europäische   Leiter der Jutefabrik Prozent Jahresdividende abwirft.

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die 250

fst an der Tagesordnung. Frauen verdienen zwischen 45 und 75 Pf. pro Tag. Bei solchen Löhnen nimmt es nicht wunder, daß 40 oder 50 Proz. der indischen Arbeiter samt ihren Familien sich nicht ein einziges Mal am Tage sattessen können.

Nach Behauptung des großen Vorfämpfers für indische Frei heit, des heiligen" Gandhi  , befinden sich hundert Millionen Inder, fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung, im Zustande ständiger Unterernährung. Es bedarf ja auch feines anderen Beweises für die Richtigkeit solcher Angaben als des Anblics der Menschen selbst. Es sind zumeist Skelette, die mit spärlichen Lumpen bededt sind. Die Nahrung des indischen Arbeiters besteht zum größten Teil aus Reis; Fleisch wird höchstens ein- bis zweimal im Monat genossen. Seine Kleidung besteht aus Lumpen, seine Wohnung ist in den meisten Fällen nur ein Unterschlupf zum Schlafen, fein Heim im europäischen   Sinne. Auf Lehmerde oder rohesten Holzdielen stellt ein Bündel ausgebreitetes Stroh oder eine dünne Baumwolldecke das Lager dar; nicht etwa für einen Menschen, sondern für deren vier bis sieben. 774 000 Arbeiter wohnen insgesamt in und zwar je zu mehreren Personen folchen Einraum ,, wohnungen  " in Bombay  ." Das indische Woh­nungselend wird noch durch völligen Mangel aller hygienischen Borrichtungen verschlimmert. Die Zugänge zu den Wohnungen sind, wie oft auch die Haustreppen, gleichzeitig Müllablagerungs­stätte, Abwässerkanal und Kloake; auf hundert Familien tommt häufig nur ein Wasserleitungshahn, der pestilenzartige Gestant, der aus den Abwässergräben steigt, ist unbeschreiblich. Und für solche Wohnungen" müssen die Arbeiter durchschnittlich ein Fünftel bis die Hälfte ihres Lohnes bezahlen.

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Von einer staatlichen Sozialversicherung gibt es in Indien   feine Spur, und auch die Arbeiterschußgesetzgebung be­findet sich in den ersten Anfängen. Es existiert dort z. B. keine staatliche Hilfe für die Wöchnerinnen, ja, eine Arbeiterin, die wegen ihrer Niederkunft der Arbeit fernbleibt, wird unverzüglich entlassen. Die Furcht vor dieser Entlassung veranlaßt viele Frauen, ihre Niederkunst in der Fabrik zu erwarten. Die Kinder werden oft in der Fabrik, nicht selten direkt an der Maschine ge= boren, unmittelbar nach der Geburt wird die Arbeit fortgesetzt, das Neugeborene liegt auf dem Fußboden neben der Maschine oder wird von der Mutter während der Arbeit auf einem Arm getragen, während sie mit der anderen Hand die Maschine bedient. Solche Fabritsäuglinge" helfen ihrer Mutter, sobald sie erst einige Jahre alt sind, durch Kleine Handreichungen, um dann mit ihrem zwölften Jahre als richtige Lohnarbeiter in den Betrieb einzutreten. Eigentlich ist die Arbeit bis zum zwölften Jahre verboten; Dieses Verbot steht aber im allgemeinen nur auf dem Papier, ebenso wie die Beschränkung der Arbeit der Kinder von 12 bis 15 Jahren auf sechs Stunden und das Verbot der Nachtarbeit für die Frauen. Das indische Proletariat ist eben organisatorisch zu schwach und politisch zu einflußlos, um den Arbeiterschutz zu verwirklichen. Aber

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*) K. Schrader F. I. Furtwängler: Das wert­ätige Indien  . Auf Grund der Indienreise der deutschen   Textil­rbeiterdelegation. Mit 32 Abbildungen und einer Karte. Verlags­fellschaft des ADGB  . Berlin   1928.

So wohnt der Arbeiter der indischen Juteindustrie. Don 300 Millionen, also 1 Broz.; das Gros der Bevölkerung besteht aus Bauern. Von den 3 Millionen Industrieproletariern sind etwa 10 Proz. gewertschaftlich organisiert, meistens Arbeiter der Textil­und der Eisenindustrie, aber auch Eisenbahner und Postbeamte haben gute Organisationen.

Die meisten Verbände tragen einen rein lofalen Charakter, nur der Eisenbahnerverband ist zentral zusammengefaßt. Alle indischen Gewerkschaften find in einer Organisation zusammengefaßt, die den Namen 11indischer Gemertschaftsfongreß" trägt. Aber man soll da keineswegs etwa an unseren ADGB  . denken es handelt sich um eine ganz lose Organisation, die eigentlich nur dann in Erscheinung tritt, menn größere Streits ausbrechen, deren Durchführung die Kräfte einer lofalen Organisation übersteigt. Der Streitkampf wird übrigens in Indien   sehr lebhaft geführt- der indische Proletarier mehrt sich eben gegen die unmenschliche Aus­beutung und will bessere. Lohn- und Arbeitsbedingungen erringen. Bei diesen wirtschaftlichen Kämpfen iegt der indische Arbeiter großen Opfermut an den Tag. Die Arbeiterfamilien geben gleich beim Beginn des Kampjes ihre sogenannten Wohnungen auf, da sie feine Miete zahlen können, oder werden, soweit sie in Werks­wohnungen leben, von den Unternehmern sofort auf die Straße geworfen; fie schlafen dann unter offenem Himmel, auf den Stufen eines Tempels oder eines Denkmals, in halbverfallenen Hütten, die von ihren Einwohnern verlassen sind usw.

Streifunterstützung in Form von Bargeld kennt die indische Gewertschaftspraxis nicht. Die Gewerkschaft fauft ein fach beim Beginn des Streits Reis engros, zu billigem Preise, ein, und dieser Lebensmittelvorrat wird dann an die strei­fenden Arbeiter verteilt. Beim großen Tegtilarbeiter. streit in Bombay   im Jahre 1925, an dem 150 000 Arbeiter beteiligt waren, haben eine große Rolle die aus Europa   ein­getroffenen Hilfsgelder der Amsterdamer Gemertschafts.

Ein Bild des Jammers.

Nicht ein Skelett aus dem anatomischen Museum, sondern ein Textilarbeiter in Bombay  

Furtwängler Tagore Schrader Die beiden Verfasser beim Dichter Rabindranath Tagore   in dessen Wohnung in Kalkutta.  

verschärft wird. Das ist die materielle Wurzel jenes großen Inter­effes, das das europäische Proletariat für den Aufstieg der indischen Arbeiterklasse hat.

Die andere Seite.

Erlebnisse cines Malers in Indien  .

Das Malen von Frauenporträts im Orient ist gewiß eine reiz­volle Beschäftigung, stößt aber in Ländern, in denen noch immer die Verschleierung der Frau für notwendig gehalten wird, auf manche Schwierigkeiten. Immerhin sind die alten Sitten doch schon so ge= lockert, daß die Maler jetzt auch die Züge so mancher orientalischen Schönheit festhalten können, die früher für immer der Deffentlichkeit verborgen waren. Ein englischer Künstler, Bertram Sidney Smith  , der jetzt eine ganze Reihe von Bildnissen indischer Für stinnen geschaffen hat, plaudert über seine Erlebnisse und Er­fahrungen im Fünfstromland. Er hat zwar nicht so reiche Ge­fchente bekommen, mie sie dem bekanntesten indischen Borträtmaler Raci Varma zuteil wurden, der von einem entzückten Maharadscha für das Bildnis seiner Lieblingsgattin ein Kästchen mit kostbarsten Juwelen und zwei Elefanten erhielt, aber immerhin hat er recht gut verdient. Mein erster Auftrag," schreibt er, bestand darin, eine 15jährige indische Dame in Birma zu malen. Es ging alles recht gut, bis sie eines Tages, mährend sie mir Modell stand, zu meinem Erstaunen plötzlich durch die nächste Tür flüchtete. Ich blickte mich um und sah ihren Bräutigam, einen Jüngling von 20 Jahren. Die Eltern waren recht aufgeflärte Leute, aber die alle Anschauung war doch noch immer wirksam, daß Verlobte sich vor der Hochzeit nicht sehen dürften. Die beiden hatten sich nicht mehr erblickt, seit sie ihr sechstes Jahr erreicht hatte. Ich bat den jungen Mann, hinauszugehen, und das tat er auch. Das Mädchen gestand mir, sie habe sich ihn durch die Vorhänge genau angeschaut. Ein schönes Mädchen in Birma wollte ich als Modell haben und erhielt die Erlaubnis von ihrem Vater, gegen Geld und gute Worte. Er machte aber zur Bedingung, daß die Mutter sie begleiten müßte. Als mir nun mein Diener das Erscheinen des Modells anfündigte und ich es eintreten ließ, erschien ein ganzer 3ug in meinem Atelier, das Mädchen wurde von ihrem Bruder begleitet, dem ihre Mutter und noch eine andere verheiratete Frau folgten. Man erklärte, es sei notwendig, daß noch ein männliches Wesen und eine nicht zur Familie gehörige verheiratete Frau anwesend seien. Da sie so scharf bewacht war und ihre gewöhnliche Kleidung trug, dachte ich, ich mürde ihr wenigstens die richtige Stellung anweisen dürfen. Aber jedesmal, wenn ich sie berührte, zudte sie entsetzt zurück, bis ich schließlich das Malen aufgab. Unter meinen Modellen befand sich eine entzückende Inderin von 21 Jahren, die Mutter von drei Rindern. Ihr Gatte, ein reicher und norurteilstofer Sith, hatte thr die Erlaubnis gegeben, sich mir ohne Schleier zu zeigen. aber den Indern gegenüber hielt sie an der Sitte feft. Eines Tages, als ich zum Essen blieb, faß ich an ihrer rechten Seite und ihr zur Linken ein Inder. Während des ganzen Mahles ruhte ihr linfer Ellenbogen auf dem Tisch, und sie hielt ihren Schleier so, daß der Inder nichts von ihrem Gesicht sehen konnte; sie nur mit der rechten Hand und plauderte mit mir ganz ungezwungen."