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BERLIN  Mittwoch, 27. Juni 1928

Der Abend

Erfcheint täglich außer Sonntags. Bugleich Abendausgabe des Vorwärts". Bezugspreis beide Ausgaben 85 Pf. pro Woche, 3,60 M. pro Monat. Redaktion und Expedition: Berlin   SW 68, Lindenstr. 3

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B 148 45. Jahrgang.

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Konflikt bei der Volkspartei.

Scholz will Stresemann   faltstellen.

Untersuchungshaft in Moabit  .

Jm Reichstag waren heute um 11 Uhr Fraktions­fitungen der Deutschen Volkspartei   und des Zentrums angesetzt. Die Deutsche Volkspartei   trat auch pünktlich zusammen. Vom Zentrum versammelte sich jedoch zunächst nur der Fraktionsvorstand, während die Fraktion kurz vor 1 Uhr noch auf ihre Einberufung wartete. Um 1 Uhr soll bekanntlich auch die sozialdemo fratische Fraktion wieder Situng haben.

Nachdem der Fraktionsvorstand des Zentrums etwa anderthalb Stunden getagt hatte, begaben sich die Ab. geordneten Stegerwald und Esser zu Hermann Müller  . Ueber die Beschlüsse des Fraktionsvorstands wurde Stillschweigen bewahrt, doch verlautete, daß die Absicht bestehe, eine Formel für die Verständi. gung zu finden.

Aus der Fraktionssitung der Deutschen Volkspartei  , die gegen 1 hr noch fortdauerte, wurde im Reichstag erzählt, sie hätte damit begonnen, daß Scholz den Borsiz niedergelegt habe. Darauf soll sich eine sehr heftige Debatte über die Vorgänge der letzten Tage und über das Telegramm Stresemanns aus Bühlerhöhe   entsponnen haben. Herr Scholz hat, wie er­zählt wird, erklärt, er würde eine Wiederwahl zum Vorsitzenden nur dann annehmen, wenn seine Stellung in der Weise verstärkt würde, daß ein Handeln über den Kopf der Fraktion hinweg, wie es durch Stresemann geschehen sei, nicht wieder vorkommen

tönne.

Gegen 1 Uhr wurde von einer Lösung der Personal­frage in dem Sinne gesprochen, daß das Zentrum nur mit sogenannter kleiner Besekung" in die Regierung eintritt. Es will sowohl auf den Vizekanzler als auf das Arbeitsministerium verzichten. Dann würden Wirth und Guerard in das Kabinett eintreten und die Sozialdemokratie das Arbeits­ministerium übernehmen.

Lange Koalitionsverhandlungen in Bayern  .

München  , 27. Juni. Heute vormittag haben im Landtag die Koalitionsver handlungen ihren Anfang genommen. Zunächst fand eine Be­sprechung zwischen den Vertretern der Bayerischen Bolts= partei, Ministerpräsident Dr. Held und Abg. Dr. Bohlmuth, und dem Berhandlungsführer des Bayerischen   Bauern und Mittelstandsbundes, Abg. Staedele, statt, zu der noch am Vormittag Abg. Dr. Hilpert als Führer der deutsch   natio­nalen Fraktion zugezogen wurde. Angesichts der bekannten Ber. stimmungen zwischen Volkspartei und Bauernbund wird mit einer sehr langen Dauer der Verhandlungen über die Regierungs­toalition geredynet.

Labour für Friedenspaft. Englische Arbeiterpartei und Gewerkschaften für den Beitritt ohne Vorbehalt.

2ondon, 27. Juni. Der Vollzugsausschuß der Arbeiterpartei und der Generalrat der Gewerkschaften haben eine Ent­schlichung angenommen, worin die Regierung aufgefor dert wird, die Kelloggschen Vorschläge eines Antikriegs­paktes ohne irgendwelche Vorbehalte an zunehmen. Die Entschließung drückt die Soffnung daß die amerikanischen   Vorschläge von den aus, übrigen Ländern ebenfalls angenommen werden. Das Zögern der englischen Konservativen.

London  , 27. Juni.

Die englische Regierung hat bisher noch feine Entscheidung hinsichtlich einer Antwort auf die neue Note Kelloggs   getroffen. Der ,, Daily Telegraph  " rechnet damit, daß man im allgemeinen eine Unterzeichnung der neuen Vorschläge Kelloggs   nicht in allzu ferner Zukunft erwarten könne. Schwierigkeiten könnten einerseits aber burch Frant reich etwa dadurch entstehen, daß Briand   auf der Beröffentlichung eines Anhanges betreffend die Verpflichtungen Frankreichs   gegenüber dem Bölterbund bestehen sollte,

Im Untersuchungsgefängnis Moabit sind neuerdings zwei ,, Musterzellen" für Untersuchungs­gefangene eingerichtet, nach deren Vorbild das ganze Gefängnis im Laufe der Zeit umgestaltet werden soll. Unsere Bilder zeigen eine alte Zelle, kahl und ohne jeden Schmuck, und eine der neuen Musterzellen, die hoffentlich bald zur Regel werden.

In einem der großen Konferenzjäle des Landtages fand sich| gestern abend auf Einladung der sozialdemokratischen Juristen eine zahlreiche Zuhörerschaft ein, um Genossen Vandervelde   über die belgische Strafrechtsreform und Genoffin Vandervelde   über den belgischen Strafvollzug zu hören.

Genoffin Vandervelde  , selbst als Aerztin am Zentralinftitut für Gefangenenanthropologie, zeigte, daß die Bestrebungen in Belgien  auf dem Gebiete des Strafvollzuges sich in der gleichen Richtung bewegen wie die der deutschen   Strafvollzugsreform. In der wissenschaftlichen Untersuchung der Gefangenen ist aber Belgien  Deutschland   voraus. Das Institut für die Gefangenenanthropologie

Ein neuer Ritter Blaubart. 3wei Frauenleichen in einer Villa entdeckt.

In Paris   will man einem neuen Ritter Blaubart, einen zweiten Landru auf die Spur gekommen sein. Die frühere Besitzerin einer Billa   wurde ermordet aufgefunden. Die Nachforschungen führten zu der Fest­fellung, daß der angebliche Käufer der Villa der Mörder ist, der unter dem Namen eines ehrenwerten Marseiller Bürgers Heiratsschwindeleien betrieb und allem Anschein nach seine Opfer beseitigte. In einer von ihm gemieteten Villa hat man bereits die Ceichen zweier Frauen entdedi. Auch eine andere Billa   foll der Schauplatz der Verbrechen gewesen sein.

Der Täter ist ein 61 Jahre alter Jerome Drat, der unter dem Namen Camille Gaillard auftrat und vor einigen Tagen spurlos verschwunden ist. Offenbar iſt er geflüchtet, als er merkte, daß man seinen Taten auf die Spur gekommen ist

hat zur Aufgabe, alle Gefangenen, die eine Strafe von über drei Monaten, verbüßen, an Hand eines ausführlichen Fragebogens zu untersuchen. Die leitenden Grundsätze der Strafvollzugsreform sind die Individualisierung der Strafe, die Klassifizierung der Ge­fangenen, der Schutz der Gesellschaft an Stelle der Vergeltung. Die Strafvollzugsreform muß in internationalem Maßstabe einheitlich durchgeführt werden.

Genosse Vandervelde   sprach als ehemaliger belgischer Justizminister. Er begnügte sich in dieser Eigenschaft nicht damit, die Berichte seiner Staatssekretäre entgegenzunehmen, sondern infor mierte sich über die Verhältnisse in den Gefängnissen, indem er sie selbst besuchte. Was er da fand, war erschütternd. Er erzwang eine Reihe von Reformen. Er machte dem Tragen der Masken im Gefängnis ein Ende, ließ die Käfige, in denen die Gefangenen spazieren gehen mußten, niederreißen, führte gemeinsame Arbeit ein, schuf besondere Anstalten für Tuberkulöje, Abnorme, Epileptiker usw. Im Bewußtsein, daß bei Bekämpfung des Verbrechens die Borbeugung Hauptsache sei, schuf er ein Gesetz, das den Besuch der Kinos durch Kinder regelte, und ein anderes, das den Verkauf des Aifo bois einschränkte. Die Folge des letzteren Gesetzes war, daß sich der Alkoholverkauf in der Nähe der Fabriken und auf den Bahnhöfen verringerte, und die Zahl der In­faffen in den Gefängnissen, Irrenhäusern und Asylen verminderte. Das von ihm ausgearbeitete Bewahrungsgeseh, das eine unbestimmte Berurteilung für Rückfällige und Abnorme vorjah und die beabsichtigte Gleichstellung in der Behandlung der Jugendlichen bis zu 21 Jahren mit solchen bis zu 16 Jahren vorfieht, ist nicht zur Berwirklichung gelangt. Auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung ist beabsichtigt, die Geschworenen auch bei der Festsetzung der Straf­höhe teilnehmen zu lassen und die Geschworenenlisten zu demokrati­sieren. Trotzdem in Belgien   die Todesstrafe noch im Strafgesetzbuch vorgesehen ist, existieren Guillotine und Henker nicht mehr, seit 1869 ist in Belgien   keine Todesstrafe mehr vollstreckt worden. Vander­ velde  

hofft, daß die Todesstrafe in Belgien   endgültig abgeschafft wird und es der deutschen   Sozialdemokratie gelingt, auch in Deutschland  die Todesstrafe zu beseitigen.