Лr. 306
45. Jahrgang
Kulturarbeit
Das Buch und der Arbeiter.
Die Arbeiterbüchereien.
Das Buch spielt in der Bildungsarbeit eine viel größere Rolle, als gemeinhin angenommen wird. Der Arbeiter fühlt bald die Mängel der Bolksschulbildung und sucht sie auszugleichen und sein Wissen zu bereichern durch Selbstbildung. Zum Besuche von Borträgen oder Absolvierung von Kursen fehlt ihm oft die Zeit, abgesehen davon, daß er auch meist zu abgespannt ist, um nach des Tages Last und Müh' an solchen Bildungsveranstaltungen so teilnehmen zu fömmen, daß der Vortragsstoff auch fruchtbar in ihm wird.
Das ist anders beim Buche, das nicht zu einer vorher bestimmten Zeit in die Hand genommen und das nicht innerhalb einer begrenzten Zeitdauer, in der er vielleicht gerade am wenigften aufnahmefähig ist, gelesen sein muß. Beim Lesen wird das Tempo des Lernens von dem Leser selbst bestimmt, hat er einen Satz, eine Seite oder ein Kapitel nicht gut verstanden, fann er es wiederholen oder mit dem Lesen zum besinnlichen Nachdenken aussetzen. Ist er müde, legt er das Buch weg, um es zur geeigneten Zeit mieder aufzuschlagen. So ist das Buch das bequemste und für viele auch das intensivste Bildungsmittel, wenn das richtige Buch zur richtigen Zeit an den richtigen Mann" tommt. Aber auch für den, der Borträge und Kurse besucht, ist das Buch ein unentbehrliches Hilfsmittel. Der große Bildungsmert mahrhaft guter Schöner Literatur" für die Allgemeinbildung oft auch Seelen- und Charakterbildung foll nur nebenbei erwähnt werden.
lichen öffentlichen Büchereien haben. Warum das jetzt und in ab sehbarer Zeit nicht tunlich ist, läßt sich in dem beschränkten Rahmen dieses Auffages nicht darlegen, vielleicht bietet sich später Gelegenheit. In der Schrift ,, Arbeiterbildung und Volksbildung" von Th. Leipart und 2. Erdmann wird auf Seite 46 das Volksbüchereiwefen als das einzige Gebiet der freien Volksbildung bezeichnet ,,, auf dem schon seit anderthalb Jahrzehnten planmäßig und fraftvoll von einer be
Blick in die Städtische Bücherei Neukölln.
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Sonnabend
30. Juni 1928
besteht bereits in verschiedenen Bezirken wie z. B. Charlottenburg, Neukölln , Schöneberg , Spandau , Wilmersdorf .
Mit der Begründung der Einheitsgemeinde feßten Bestrebungen zur Vereinheitlichung des Berliner Büchereiwesens ein. Aber auch auf diesem Gebiet ist zu bemerken, daß sich Zentralisations- und Dezentralisationstendenzen freuzen. So wünschenswert eine Vereinheitlichung an sich ist, so läßt sie sich nicht von obenher erzwingen; fie muß langsam machsen und wird ihre Grenze immer an der Eigenart der lokalen Verhältnisse finden. Bereinheitlicht sind die BenutzungsSie bedingungen, insbesondere die Gebühren. betragen in den Stadtbüchereien 1 Marf, in den Boltsbüchereien 0,25 Mart für das Bierteljahr. Ers werbslose erhalten auf Vorzeigung ihres Ausweises Freifarten. Bon anderen Bersuchen zur Vereinheitlichung sei, hier nur die seit April d. I. erscheinende Zeitschrift„ Die Lejergemeinde" genannt, die die Bemuzer über die Neuanschaffungen der Berliner Stadtbibliothek und der Bibliotheken der Bezirke unterrichten soll. In der Person des Direktors der BerDiner Stadtbibliothek, der Volksbüchereidirektor von Groß- Berlin ist, hat das Berliner Büchereiwejen seina einheitliche Spitze; die Berliner Stadtbiblio= thet gilt als Zentrale für sämtliche Stadt- und Bolfsbüchereien Groß- Berlins . Zwischen der im ehemaligen faiserlichen Marstall untergebrachten Berliner Stadtbibliothek und den Büchereien der Bezirke soll demnächst offiziell der Leihverkehr eingerichtet werden. Es wird dann den Benüßern der Büchereien in den einzelnen Bezirken möglich sein, die reiden Schäße diefer Bibliothet, die einen Bestand von über 200 000 Bänden hat, durch Bermittlung ihrer Bücherei in Anspruch zu nehmen.
Die statistischen Feststellungen der Büchereien geben nicht genügend Auskunft über den Anteil, den das Buch in der Bildungsarbeit einnimmt. Die Büchereien flagen vielfach darüber, daß die Ausleihziffern, die nach dem Kriege und während der Inflationszeit sehr hoch standen, sich in den letzten Jahren start verminderten. Sicher ist nicht mangeln. des Bildungsinteresse die Ursache der schwächeren Bestimmten Stelle aus reformatorische Arbeit geleistet worden ist".| im Durchschnitt einen Bestand von 30 000-40 000 Bänden. Manch nügung der Büchereien. Inwieweit Sport, Kino und Radio die Ausleihzahlen der Bibliotheken drücken, wollen wir heute nicht umbersuchen. Körperliche Ertüchtigung geht, soweit der Sport nicht als Selbstzmed betrieben wird, mit der geistigen Ertüchtigung Hand in Hond , und Aufgabe der Arbeiterschaft muß es sein, sich Film und Rundfunt als Bildungsmittel nußbar zu machen.
Immerhin geht den Büchereien durch diese Kulturerrungenschaften nur ein Teil von Lesern verloren. Wenig wird beachtet, daß in der Zeit ber stärksten Benützung der Büchereien, in der Nachfriegszeit, der Buchhandel völlig daniederlag, weil nur sehr wenige unferer Bolfsgenossen und am allermenigsten die Arbeiterschaft, in der Lage waren, sich Bücher zu faufen. Zwar sind die Ausleihzahlen der Bibliotheken gesunken, aber die jährliche Bücherprodut. tion in Deutschland ist von 16 000 auf etwa 30 000 gestiegen. Das bedeutet unter Zugrundelegung einer Auflagenziffer von 3000 für jedes neue Buch eine Steigerung von rund 48 Millionen auf 90 Millionen Bänden pro Jahr, die sicher nicht in den Lagern der Buchhandlungen liegen bleiben. Es werden wieder Bücher gekauft und somit wird wohl auch nicht weniger gelesen als früher. Eine vor ein paar Jahren veranstaltete Erhebung des Reichs ausschusses für sozialistische Bildungsarbeit und des ADGB. ergab einen Bestand von etwa 1500 Arbeiter. büchereien im Reiche. Bollständig erfaßt wurden sicher nicht alle Bibliotheken, so daß mit annähernd 2000 Büchereien gerechnet werden darf. Wenn auch die Mehrzahl der erfaßten Bibliotheken eine Bändezahl von unter 1000 zählten, war doch eine schöne Anzahl von stattlichen Büchereien darunter, die einen Bestand von mehreren tausend Bänden, in einem Falle( München ) sogar von über 20 000 Bänden aufweisen konnten.
Bereits vor dem Kriege waren Bestrebungen durch den gemeinsamen Zentralbildungsausschuß der Sozialdemokratischen Partei und der Generalfommission der Gewertschaften( jezt ADGB .) eingeleitet, das Arbeiterbüchereiwefen zu zentralisieren. Der Krieg hatte die bereits gesponnenen Fäden zerrissen, die nunmehr durch Einsetzung eines Büchereibeirates beim Reichsausschuß für sozialistische Bildungsarbeit wieder zusammengeknüpft wurden. Dieser Beirat, der aus erfahrenen Arbeiterbibliothekaren zusammengesetzt ist, erstrebt in der Erkenntnis, daß das Arbeiterbüchereiwesen ein wichtiges Glieb des Arbeiterbildungswesens darstellt, einen zen tralen Zusammenschluß aller Arbeiterbüchereien, weil nur so eine planmäßige Förderung dieses Teiles unserer Bildungsarbeit möglich ift. In Konferenzen der Arbeiterbibliothekare wurden Richtlinien beraten, um eine Bereinheitlichung der Büchereiarbeit herbeizu führen. Die Aufstellung einer einheitlichen Bücherei- Syftematik war eine der ersten Arbeiten des Büchereibeirates. 3u Anfang dieses Jahres erschien ein Leitfaden für Arbeiterbüchereien", der den meift ungeschulten Arbeiterbücherwarten Anleitung geben mill ,,, wie die Arbeiten, die zur Ausgabe von Büchern notwendig find, verrichtet werden müssen". Angestrebt werden ferner Schulungs. furfe für Arbeiterbibliothefare. Schließlich soll eine zentrale Beratungsstelle geschaffen werden, von der die Büchereien mit einheit. lichem Bibliotheksmaterial versorgt und jomohl bei Anlegung Don Bibliotheken, als auch in ihren sonstigen Röten beraten werden sollen. Die Arbeiterbüchereien treten 3par nach außen wenig in Er. fcheinung, ihr Anteil an dem Arbeiterbildungswesen ist troßdem sehr groß und äußerst wichtig. Es müssen Wege gesucht werden, diesem Zweig unserer Bildungsarbeit die Mittel zufließen zu lassen, die er zu feiner Unterhaltung so dringend braucht. Die österreichischen Barteigen offen entrichten für ihre Büchereizwede einen besonderen obligatorischen Beitrag.
Oft wird die Frage aufgeworfen, ob es nicht zweckmäßiger wäre, der hohen Roften wegen die Arbeiterbüchereien aufzugeben und der bildungshungrigen Arbeiterschaft zu empfehlen, die öffentlichen Büchereien zu benutzen, namentlich in den Orten, wo wir in den Gemeindevertretungen Einfluß auf die Ausgestaltung der gemeind
Nach unserem Dafürhalten werden die nach den Brinzipien der Deutschen Zentralftelle für volkstümliches Büchereimesen", die oben gemeint ist, eingerichteten und geleiteten Büchereien berufen sein, unsere Arbeiterbüchereien abzulösen. Leider wird das noch eine geraume Zeit dauern, weshalb die Arbeiterschaft vorläufig noch ihr eigenes Büchereiwejen erhalten und zweckmäßig ausgestalten muß.
Josef Seger.
Schwer überschaubar wie die Riesenstadt selbst ist auch das Berliner Volfsbücherei mesen. Nicht als geschlossenes Ganzes von einheitlichem Charakter stellt es sich dar, sondern als eine Vielheit verschiedenartigster Einzelorganismen. Verschieden sind die Größentypen, die Organisationsformen, die Personalverhältnisse; verschieden ist vor allem die Entwicklungsstufe, auf der die Berliner Büchereien stehen. Das kann bei einer Stadt, die durch äußerliche Berschmelzung völlig verschiedener Bestandteile zu einem Ganzen geworden ist, nicht anders sein. Das starte Eigenleben, das die verschiedenen Stadtteile geführt haben und noch führen, prägt sich auch in ihrem Büchereiwefen aus. Nimmt man das Berliner Boltsbüchereiwesen in seiner Gesamtheit, so muß man sagen, daß Berlin auf diesem Gebiet hinter anderen Großstädten wie z. B. Leipzig und Köln sehr zurückstand und erst in den letzten Jahren versucht hat, das Bersäumte nachzuholen.
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Das ist um so schwieriger, als Berlin mit der unglückseligen Erbschaft eines ziemlich ausgebreiteten alten Boltsbüchereiwesens belastet ist Alt- Berlin hatte schon im Jahre 1880 21 Wolfs: büchereien und es sich also meist um Reorganisation veralteter Büchereien handelt, eine Aufgabe, die langwieriger ist und größere Anforderungen stellt als die Einrichtung neuer Büchereien. Diese Aufgabe wird, da das Büchereiwesen Sache der Bezirke ist, von den einzelnen Bezirken in Angriff genommen, sie ist je nach Lage der Dinge in diesem oder jenem Bezirk bereits gelöst, in an deren Bezirken steht die Reorganisation noch bevor. Einzelne Be3irfe wie z. B. Spandau, Stegliz, Wilmersdorf haben stattliche Neugründungen aufzuweisen. Geplant ist, daß jeder Bezirk eine zentrale Bücherei unter hauptamtlicher Leitung hat. Dieser 3entrale, die den Namen Stadtbücherei führt, liegt die Bücherversorgung des Bezirks ob; ihr sind je nach Bedarf 3 weig stellen( Boltsbüchereien) angegliedert. Eine solche Organisation
Berlin hat etwa 100 Boltsbüchereien, etwa 25 mit Zeitschriften und Zeitungen ausgestattetc Lesesäle, deren Benugung unentgeltlich ist, und zwölf Kinderlesehallen. Bon diesen Büchereien umfaßt die fleinste weniger als 100, die größte mehr als 80 000 Bände; die vorhin aufgeführten Stadtbüchereien haben einer wird fragen: mo steden diese Bücherschätze eigentlich? Wir haben leider dafür feine schönen eigenen Gebäude, wie das in den Bereinigten Staaten selbst in kleineren Orten der Fall ist. Unsere Büchereien blühen sehr im Berborgenen, sind oft in Schulräumen oder anderen städtischen Gebäuden notdürftig untergebracht. Soweit das unter den augenblicklichen Verhältnissen möglich ist, hat der neue Geist, der in viele Bolfsbüchereien eingedrungen ist, auch am äußeren Gemand der Volksbücherei manches gebessert. Eine Ueberficht über die Berliner Boltsbibliotheken ist im Adreßbuch( 2. Teil) H. N. und im Amtsbuch der Stadt Berlin zu finden.
Besuch im Reiche der Bücher.
Aus dem Schacht der Untergrundbahn hastet man hinauf in den Tag, stodt, steht geblendet vom Licht inmitten der Straßenkreuzung vor dem Neuköllner Rathaus. Kaum vermag man die Straße zu überqueren, so jagt und flutet der Verkehr mit Straßenbahnen, Autos, Gemüsekarren, Lastwagen, gestikulierenden Geschäftsleuten und schreienden Zeitungsverfäufern. An den Ansammlungen vor dem Rathauseingang vorbei eilt man die Straße entlang, umrauscht von dem Lärm dieses von Geschäft und Arbeit fiebernden Stadtviertels.
In dem Komplex des Stadtbades liegt auch die Bibliothek. man durchschreitet die Halle der Anstalt, fast etwas überwältigt von der Pracht des schweren und fühlen Marmors, ein würdiger. achtungerzwingender Vorhof für eine Bücherei. Da ändert sich das Bild vollkommen, man öffnet eine Tür und tritt aus der wuchtigen hohen Halle in eine Idylle von Grün und Licht, wie in einem träumenden Kloster führt ein Säulengang um das Quadrat eines Rasens zu dem niedrigen Bau der Volksbibliothek, den die Sonne überflutet, daß der Rasen goldgrün aufleuchtet. So fern und verfunken erscheint hier die Großstadt mit ihrem Getöse und ihrer Hege. Nebenan befindet sich ein Garten mit alten Bäumen. Sie ragen herüber in die außerordentliche Stille, die den Besucher so start pact, weil ihn noch vor wenigen Minuten der rasende Rhyth mus der Großstadt umfing. Hier ist der Ort, wo alles zur Befinnung, zum Sichversenken in die Rätsel des Ichs und der Welt einlädt, wo die Schäße des Menschengeistes in Abertausenden von Büchern für jeden bereitstehen, wo er Beratung findet, wenn er por ihrer Fülle nicht ein und aus weiß, wo er Hinweise erhält, in welchen Werken er die ihn bedrängenden Probleme tiefer studieren fann, wo für den, der zu Hause in den eigenen vielleicht überfüllten und lauten Räumen feine Möglichkeit der Sammlung und des ruhigen Lesens findet, ein Lesesa al vorhanden ist, der mit seinen Nachschlagewerken, feiner Ruhe und Bequemlichkeit zugleich als ein jederzeit bereiter und ausgezeichneter Studiersaal der Boltsbildung betrachtet werden kann.
Bereitwillig gibt die Leiterin Austunft über die Verhältnisse dieser Bücherei und ihre Arbeit. Die Bibliothet ist eine städtische Anstalt. Jeder der 20 Berwaltungsbezirke Berlins hat eine mehr oder minder ausgebaute ähnliche Einrichtung. Aber wer weiß viel davon? Hier wird eine stille, segensreiche, unscheinbare, aber in ihrer Wirkung weitreichende Arbeit getan. Diese Bezirks- Volks büchereien haben noch Rebenstellen. Da und dort sind Kinder lesehallen eingerichtet.
Ungeheuer muß wohl die Benugung folch einer vorzüglichen Einrichtung sein? Der Bezirk Neukölln hat 250 000 Einwohner. Die Zahl der regelmäßigen Leser dieser Bücherei beträgt- 6000! Ist das nicht eine verschwindend fleine Zahl? Nicht für den, der fich in der Boltsbildungsbewegung auskennt. Natürlich könnte die Zahl noch steigen, wenn die Deffentlichkeit stärker auf diese Einrichtungen achtete oder von ihnen müßte, und wenn noch mehr Zweigstellen vorhanden wären, denn die Bücherei muß für die Bemuzer leicht erreichbar sein.
Es scheint an der Zeit zu sein, daß die Bevölkerung sich ernster mit dem Bolfsbüchereimesen abgibt, damit noch mehr solcher Inseln der Berinnerlichung und geistigen Stärkung, solcher Dafen der Stille und des Kulturmillens im Trubel der Großstädte entstehen, und daß man endlich beginnt, die Bedeutung des Volks. bildungswesens tiefer zu erfassen. Baltin Hartig.