A- 50-111
Morgenausgabe nia dupla
Nr. 307
A 157
45.Jahrgang
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Sonntag 1. Juli 1928
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Warschau , 30. Juni. ( Eigenbericht.)
Marschall Pilsudski hat heute nachmittag in einem län geren Interview, das er der polnischen Bresse erteilt hat, die Gründe dargelegt, die ihn zum Rüdtritt veranlaßt haben. Er betonte, daß es nicht etwa feine Gesundheit fei, über die er selbst verfüge, die ihn hierzu bewogen habe, vielmehr feien es die unmöglichen Zustände
in Polen , die sowohl dem Staatspräsidenten als auch dem Minifterpräsidenten die Arbeit unmöglich machen. Ich habe dem Staatspräsidenten wiederholt geraten, er solle sich mehrere Leute aus
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Barbarei oder Humanität?
Todesstrafe, Schachth- Prozeß und Amnestie.
Der neugewählte Reichstag befigt eine sichere Mehrheit gegen die Todesstrafe. Er wird bei der Berabschiedung der Strafrechtsreform menschlicher Boraussicht nach die Abschaf= fung der Todesstrafe beschließen, und damit einen Schritt nität. Der Kampf um die Todesstrafe in Deutschland geht vorwärts gehen auf dem Wege von der Barbarei zur Humadem Abschluß entgegen. Schon heute muß deshalb die Forderung aufgestellt werden, daß fein Todesurteil mehr vollstreckt wird. Der Gedanke, daß der Wille des Gesetzgebers zur Abschaffung der Todesstrafe feststeht, daß trotzdem noch Menschen hingerichtet werden, weil dieser Wille noch nicht in endgültige gefeßmäßige Form gegossen worden ist, wäre unerträglich. Die lehte Hinrichtung in Deutschland darf nicht zwischen heute und dem endgültigen Beschluß des Reichstags, schluß verantwortlicher Männer, noch eine Todesstrafe vollfie muß in der Vergangenheit liegen. Der EntSchafott schleifen, die nächsten sollen leben, wäre ein Art der Unmenschlichkeit. Wir nehmen an, daß die Forderung, feine Todesstrafe mehr zu vollstrecken, unter diesen Umständen nirgends Widerspruch erfahren wird jelbst bei denen nicht, heute noch Anhänger der Todesstrafe sind.
führen fich die Abgeordneten wie Cumpen und Schweine auf. In dieser Atmosphäre, die im Parlament herrschte, fonnte ich teine Stunde mehr aushalten. Wenn ich im vorigen Sejm, den ich noch immer für forrupt halte, öffentlich reden sollte, dann dachte ich immer, daß es die lette Sejmfigung fein wird. Ich habe aber als Dittator Polens das dritte polnische Parlament einberufen und habe es durchaus verfaffungsgemäß behandelt, obwohl ich es wie einen Wurm zerdrüden konnte. Es ist mir aber unmög lich, die Methoden des Bartaments länger mit anzusehen, das ich nicht einmal mit einer halbtrepierfen Fliege vergleichen fann. Ich mußte wählen: entweder in Polen neue Rechte gehört polnischer Ministerpräsident zu sein. 3ft habe bei dieser Gelegenheit dem Herrn Staatspräsidenten noch einmal geraten, sich außer mir und Bartel andere Leute auszusuchen, die abwechselnd die schwere Arbeit des Ministerpräsidenten ertragen Ich habe den ersten Weg gewählt. Der Sejm der Prostituierten( 11) tönnten. In Strifenzeiten werde ich aber dem Staatspräsidie denten zur Verfügung stehen. Auch betone ich, daß die Diretfiven der internationalen polnischen Politik weiterhin in meiner Hand verbleiben!!! Mit dieser Ankündigung schließt das fenfationelle, für die Per. Dies sonderbare grundsägliche Bekenntnis mit dem einschrän Pilsudstis überaus charatteristische Interwiem.
wählen, die als meine Nachfolger auftreten fönnten. Als ich schaffen oder demiffionieren. Ich habe gewählt und aufstrecken zu lassen, de Grpruch: diesen laßt uns noch auf das die Befreiungstriege fiegreich beendet hatte, stand ich
vor der Alternative, entweder das polnische Parlament wie eine gemeine Prostituierte davonzujagen oder aber den polnischen Staat fich selbst zu überlaffen.
hat aber die Verfassung derart gestaltet, daß sie mir als dem pop u ärsten Mann in Polen die gemeinsten Schwierigteiten ereitet. Ich habe zwar im Laufe der lezten beiden Monate sehr el pofitive Arbeit geleistet, aber nur deshalb, weil Bartel, r gegenwärtige Ministerpräsident, mir einen Teil der Arbeit abfon nommen hat. Wenn ich den verfassungsgemäßen estimmungen gefolgt wäre(!), hätte ich in Polen nichts reicht. Die ganze Arbeit des Ministerpräsidenten besteht darin, erlel Kleinigkeiten zu erledigen, die ihm von allen Seiten, auch on feiten der Minister, zu geschoben werden. Deshalb ist mir mein Umt verhaßt geworden. Ich mußte meine Demission beantragen, da ich sonst nicht mehr hätte mit mir fämpfen tönnen und dann die Abgeordneten geschlagen und dann auf ihnen fortwährend herumgetrampelt hätte. Menn meine fleinen Töchter mit ernster Miene den Löffel zum Munde führen, so far ich dafür ein Lächeln haben, nicht aber tann ich die unsinnigen Arbeiten des Parlaments mit ansehen. Während die Minister im Barlament fich anständig benehmen müssen und für die Arbeit.Iumpige Groschen er hatten,
Reval , 30. Jumi.( Eigenbericht.) Die estländische Regierung bereitet soeben ein Gesetz vor, das den Gebrauch der Sprachen der nationalen Minderheiten im öffentlichen Leben regeln soll. In Estland leben bekanntlich neben dem estnischen Staatsvolt auch Deutsche , Russen und Schweden . Diesen Minderheiten wird durch das Beseß der freie Gebrauch ihrer Sprachen im schrift lichen und mündlichen Berkehr mit den Behörden zugesichert.
Mit diesem Gefeß beweist die fleine estnische Republik, die Sekanntlich schon vor längerer Zeit als erster Staat in Europa ihren Minderheiten die gesetzliche Kultur- Autonomie gab, daß sie im Geiste echter Demokratie auch weiterhin die Rechte der nationalen Minderheiten ausbaut und befestigt, und damit eine für viele große Nationen vorbildliche Kulturpolitik durchführt. Wie lieft man es aber in den deutschen , reaktionären Blättern? Dort dürfen baltische Barone ungestraft ihren parteilichen Haß gegen die jungen Oftvölter austoben und durch unflätige Beschimpfungen und grobe Lügen die öffentliche Meinung Deutschlands gegen die Nachbarvölker im Often beeinflussen. Es ist hoch an der Zeit, den unfeligen, baltischen Einfluß in der deutschen Breffe und Politik gebührend zurückzuweisen und dafür schlichte Tatsachen, wie die aben mitgeteilte Kulturtat, die Wahrheit sprechen zu lassen.
Paneuropaund die neueReichsregierung
Ein Vorschlag Coudenhoves an Hermann Müller . Der Gründer der Baneropäischen Union", Coudenhove . Ralergie, hat an den neuen Reichstanzler Hermann Müller inen, Offenen Brief " gerichtet, dem wir folgende Stellen entnehmen:
Bum erstenmal in der Geschichte tritt mit Ihnen an die Spize iner europäischen Großmacht eine Partei, deren Programm Baneuropa fordert. Denn das Außenprogramm. das Ihre Bartei vor drei Jahren in Heidelberg beschlossen hat, tritt ein für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europäischen Birt. chaftseinheit, für die Bildung der Bereinigten Staaten von Europa , um damit zur 3ntereffen folidarität der Böller aller Kontinente 8u Ein Drittel der deutschen Nation hat für Ihr Parteiprogramm und damit für die Bereinigten Staaten von Europa gestimmt; ein zweites Drittet, das Ihre innerpolitischen Ziele nicht teilt,
gelangen.'
zu
Man ist es gewohnt, daß Diftatoren eine Sprache führen, die sich von jener der gewöhnlichen Sterblichen unterscheidet. Trogdem muß gesagt werden, daß die Sprache Pilsudskis alles bisher Dagemeferie in Schatten stellt; davor müssen selbst Wilhelm II. und Muffolini vor Neid erblaffen. Ob sich Pilfubfti damit selber gedient- hat, wird die weitere Entwicklung der Dinge zeigen. Was aber Bolen betrifft, so werden sich in Butunft alle, die es für einen Saisonstaat halten und das Wort von der polnischen Wirtschaft auch auf die junge Re publik anwenden, auf den Diktator Polens selbst berufen tönnen.
Indes handelt es sich sichtlich um die Worte eines start erholungsbedürftigen Mannes, der sich denn auch alsbald nach Herkulesbad in Siebenbürgen zur Kur begeben wird.
bekennt sich dennoch mit der gleichen Entschiedenheit zu Ihrem paneuropäischen Außenprogramm.
3wei Drittel Deutschlands fordern also von Ihnen die Initiative zur Erneuerung Europas auf der Grundlage dauernden Friedens, wirtschaftlicher Zusammenarbeit, wahrer Gleichberechtigung und nationaler Versöhnung! Heute, zehn Jahre nach dem Abschluß des Krieges, ist der Augenblid zum Aufbau Europas gefommen: die Außenpolitik Ihres großen Gegenspielers, der franzöfifchen Republit, liegt in den Händen eines Mannes, der als Ehrenpräsident der Paneuropäischen Union sich zu ihren Zielen bekennt und entschloffen ist, alles zu tun, was in seiner Macht liegt, um die Einigung Europas zu verwirklichen. Die französischer Wahlen haben bewiesen, daß die überwiegende Mehrheit der französischen Nation die Außenpolitik dieses großen Baneuropäers stüßt.
Ergreifen Sie die Initiative zum Zusammen. fchluß Europas und berufen Sie, gemeinsam mit den anderen paneuropäischen Staatsmännern unferes Erdteiles, die Erste paneuropäische Konferenz! Diese Konferenz aller europäischen Staaten soll dazu führen, im Rahmen des Völkerbundes fchaftspatt zu schließen, der die 2 brüftung aller europäischen einen paneuropäischen Sicherheits- und Freund. Staaten ermöglicht und mit ihr die nationale Gleich berechtigung, der den Weg eröffnet zum Abbau der europäischen Binnenzölle, zum Aufbau der Vereinigten Staaten von Europa ! R. N. Coudenhove Kalergi ."
Wir sind sicher, daß diese Forderung auch die Zustim mung der deutschen Kommunisten findet, sind sie doch grundfäßliche Gegner der Todesstrafe im fapitalistischen Staat. fenden Nachsaß, das ein fommunistischer Reichstagsabgeord= neter in den Beratungen des Strafrechtsausschusses abgelegt hat, wird den Fortschritt auf dem Wege von der Barbarei zur Humanität fördern helfen in Deutschland .
Die Beharrung in der Barbarei, die Absage an die Humanität haben die Kommunisten glücklicherweise nicht für Deutschland , die ,, tapitalistische Republik", reserviert, sondern für den ersten Arbeiterstaat der Welt", für Sowjetrußland. Einundzwanzig Todesurteile im Schachty - Prozeß beantragt! Während in Deutschland nach menschlicher Boraussicht die lezte Hinrichtung hinter uns liegt, sollen nach dem Antrage des Antlägers in Sowjet- Rußland einund zwanzig Hinrichtungen mit einem Schlage vollstreckt, einundzwanzig Opfer einer barbarisch grausamen Justiz ausgerottet werden. Während die deutschen Kommunisten mit uns für die Abschaffung der Todesstrafe eintreten werden, werden ihre russischen Freunde einen Att der Unmenschlichkeit und der Barbarei pollziehen. Ein Massenopfer, das zugleich ein Massenverbrechen sein wird; denn diese Opfer sollen fallen, um geschichtliche Schuld der russischen Machthaber zu verbergen vor dem eigenen Bolte!
Die Linksschwenfung des Stalinkurses, die Enthüllungen über die Schwächen und das Fiasto bolichemistischer Aufbauarbeit in der russischen Industrie und die 21 Todesurteile, die Staatsanwalt Krylento im Schachty - Prozeß fordert, bilden eine Einheit. Was das System und der Mangel an wirtschaftlicher und kultureller Reife verschuldet haben, soll blutiger Terror heilen. Heilen? Terror heilt niemals, er fann höchstens die Stimme der Kritik und der Wahrheit unterbrüden- wie der Schachty - Prozeß.
Dieser Prozeß ist nicht auf europäisches Publikum berechnet, sondern auf russisches. rechnet, sondern auf russisches. Er hezt die russischen Arbeiter auf einen eingebildeten Feind, um sie von fritischer Prüfung der Ursachen der Hemmungen abzuziehen, unter denen die Aufbauarbeit im vornehmstn Industrigebiet RußBresse erfährt man, daß es nicht vorwärts geht man lieft lands, im Donezgebiet, leidet. Selbst aus der bolichemistischen nicht von Sabotage, aber von Unfähigkeit, von Schlendrian, von Faulheit, von Mangel an sittlicher Persönlichkeit bei den Beranwortlichen. Man liest davon, daß die unheimliche Macht nach unten, die das Sowjetsystem gehobenen Funktionären gibt, mißbraucht wird zu einem Satrapentum und einer orientalischen Baschawirtschaft, das unter der
Grubenunglück in Frankreich . ffentlicher Kontrolle fiarter Arbeiterbewegungen in Weft
48 Arbeiter erstickt.
Wie havas aus St. Etienne berichtet, ereignete fich in einem Schacht bei Roche - la- Molières , fünfzig Kilometer von St. Etienne entfernt, eine Grubengasegplofion, durch die ein Brand hervorgerufen wurde. Etwa vierzig Arbeiter werden vermißt
Wie das Minifterium für öffentliche Arbeiten milfeilt, haben bei dem Grubenunglüd bei Roche- la- Moliere, über das bereits berichtet wurde, 48 Bergleute den Tod durch Ersticken gefunden. Die Leichen sind bereits geborgen.
europa unmöglich und undenkbar ist. Zivilisatorische und fulturelle Rückständigkeit tritt hervor, die einst Lenin als schlimmste Feindin des sozialistischen Aufbaus in Sowjetrußland denunziert hat. Die Rüge, die einst der russischen zaristischen Verwaltung das Gepräge gegeben haben, von der Bestechlichkeit an bis zu schlimmeren Dingen, treten auch in der bolichemistischen Berwaltung zutage.
Die fommunistischen Arbeiter Rußlands werden unter dem Drud der tommunistischen Doktrin und des Terrors in der Anschauung erhalten, daß die bolichewistische Führung über allen Zweifel erhaben, daß das System unfehlbar sei. Ihre primitive politische Auffassung weiß nur eine Erklärung Das Unglüd ist nach offizieller Darstellung dadurch entstanden, dafür, daß selbst im vornehmsten und fortgeschrittensten Indaß durch einen infolge eines Brandes entflandenen Steinrutsch duftriegebiet des Donez - Beckens die Industrie nicht in Ordftelle arbeiteten 570 Bergleute, deren sich beim Aussehen Die Unterdrückung der freien Kritik erzeugt den Maffenwahn, eine Preßluftleitung zerstört wurde. An der Unglüds nung fommt: Sabotage, Verschwörung, Weißgardistentum. der Luftzufuhr und dem Eindringen der giffigen Gafe eine unge. den Schrecken vor geheimnisvoll weißgardistischer Verschwöbeure Banif bemächtigte. Es gelang, 240 Arbeiter an die Ober.rung, und die Angeklagten des Schachty - Brozesses sind die fläche zu befördern. Eine große Anzahl der unten Berbliebenen Opfer dieses amtlich gestützten Massenmahns. fonnte durch fünffliche Atmung gerettet werden.
Dieser Prozeß ist ein innenpolitisches Ablenkungsmano