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Seilage Dienstage 31. Juli 192S.

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Der Weg zur Höhe. Bei den Bürstenbindern im Erzgebirge / Von der Heimarbeit zum Genosscnsdiaftsbetrieb. Zeichnungen Erich Ohser-Berän.

Sagen Sie mal, He.-r Wirt, hat di« Radensar'l von den saufen- den Bürstenbindern etwas auf sich?" Nach einem schnell prüfenden Blick aus das Gesicht des Fragenden bestätigt der Wirt zumBoye- rischen chos" in Schönheide , daß die Bürstenbinder im allgemeinen mit einen« tüichigen Durst gesegnet sind, aber er lehnt es ab, und

Großmutter und Enkelkind. sein behagliches Lächeln wird unwiderstehlich, etwa Not und So.'ge als Ursachen dieser Sauferei gelten zu lassen:Not? Wo denken Sie hin? Den Leuten ja einige haben es natürlich schlecht geht es bester als uns Ich war im Wohlfahrtsausschuß, und da kenne ich die Verhältnisse." Donnerwetter, da wären wir also umsonst nach Schönheide ge- sah.-en? Es ist also nichts mit einer Reportage über das Heim- arbciterelmd im Bürstenmacherwinkel zwischen Vogtland und Erz- gebirge? Wir brauchen nicht weit zu gehen, um eine Antwort zu finden. Hinein ins erste beste Haus. Dasbeste" ist es ja gerade nicht. Nach Armut riecht es in allen Ecken. Parte.'re wohnt eine Bürsten- arbeiterin. Sie zieht Besen ein, macht auch Haarbürsten, bekommt das Material vom Fabrikanten geliefert und gibt ihm die Fertig- wäre zurück. Mehr als 2M Dutzend Besen we.'den in der Woche nicht fertig, denn schließlich ist ja auch noch der Haushalt zu be- sorgen. Fürs Dutzend gibt es zwei Mark Arbeitslohn. Das sind fünf Mark in der Woche. 8,25 M. Miete kostet die Wohnung im Monat. Ein« enge, traurig« Wohnung aus Stube und Kammer. Hie.- lebt und arbeitet die kleine, abgerackerte und lest das Wort zweimal freundliche Frau mit ihren vier Kindern, lebt hier in

Einziehet in. diesem Loch unter den Wäschezirlanden am Ofen, zwischen Arbeits- tisch und zusammengesessenem Kanapee, und nebenan in der Kammer ist die Diele durchbrochen, und der nackt« Erdboden ersetzt hier das Eisbärfell, mit dem sich andere Leute beHelsen müssen. Ihr meint, der Fall wäre besonders drastisch? Schön, treten wir in ein anderes Haus. Vorsichtig die T.'eppe hoch. Nur herein- spaziert, auf daß mein Haus voll werde. Während die Hauselgen- tümerin an der Türe horcht, ob der Besuch, Herr du mein Gott, »ohl gar vom Amt in Schwatzenberg ist. weg« der baufälligen

Bude nämlich, breitet der Familienvorstand seine Arbeit auf dem TTische aus. Eigentlich ist es di« Arbeit seiner Frau, die trotz ihrer 60 Jahr« noch arbeiten muß, und der lebende Beweis dafüt ist, daß Segen nicht immer der Mühe Preis zu sein braucht. Die alte weiß- haarige Frau hat das Enkelkind auf dem Schoß und arbeitet dabei, solange ihre ermatteten Augen mitmachen. Dos vorgearbeitete .-stenholz, ein Dutzend kostet 90 Pf., wird in einen Tischschraub- stock gespannt, die vorher zurechtgeschnittenen Borstenbündel werden mit Draht eingezogen, und für dieses Einziehen von eintausend Borstenbündel werden 1,40 M. bezahlt. Etwa 70 Bündel kommen auf eine Bürste, ungefähr 15 Bürsten ergeben eintausend Bündel, und das ist ein Tag Arbeit. Der Mann,«in Kriegsbeschädigter, verkaust die Fertigware in der Umgegend. Da er kein noch so be- scheidenes Betriebskapital besitzt und die Borsten vier'telpfundweise «inkaufen muß, kann er nur aus Bestellung arbeiten. In jedem Hause dieses 8000 Einwohner bchorbe.-genden Ortes sitzt die Heimarbeit. Besuchen wir auch diejenigen, di« von sich sagen, daß es ihnenganz gut" geht. Goit, sie ist noch jung, die wir bei der Arbeit sehen. Ihre strammen Arme, ihre blanken Augen strafen das Elendsgejammer ügen. Aber wartet nur, laßt sie nur ein paar Jahre lang Bürsten und Besen eingezogen haben. Gegenwärtig macht sie ein Dutzend Besen pro Tag, und sie ist stolz darauf, denn das kann nicht jede. Das geht lebhaft! Die flinken Finger haben es im Gefühl, wieviel Roßhaare von dem bereit liegenden Hausen erfaßt und in das Loch des Hylzes eingeführt werden müssen. Ein rleiner Schraubstock hält das Holz, in rasendem Tempo werden die schwarzen Haarbüschel eingepflanzt, ungefähr 200 Löcher hat«in Kehrbesen, und für 1000 Löcher gibt es 70 Pf. Wenn die junge Arbeiterin am Tag« 2 bis 2,20 M. verdienen will, darf sie nicht die LektüreWie bleibe ich jung und schön?" neben sich liegen haben. Der Vater handelt. Er nimmt die ganze Fertigware mit, und da er keine festen Abnehmer hat, passiert es ihm, daß er nicht genug heimbringt, Hölzer und Roßhaare zu kaufen. Auf den Dörfern ist in der Regelniemand da", und in den Städten haben sie di« neu- modischen Vorsaaltüren mit Guckloch..... Einzieh' kommt glci nach Vettelnzieh'" und manchmal ist das Bettelngehn wirklich das Ende. Heute hat der Holzarbeüerverband in dieses Chaos des Elends etwas Ordnung gebracht. Aber unendlich viel bleibt noch zu tun, ehe menschenwürdige Löhn« erkämpft und von den Arbeitern selbst geachtet werden. Der gewerkschaftlich« Kampf allein genügt nicht. Im Jahre 1905 schlosten sich einig« Gemaßregelte zusammen auf

Schönheide mit der GE G-Bürsten fabrik auf der Höhe. genossenschaftlicher Grundlage. Und als dann kurz darauf der 26 Wochen lange Streik, diese erste große Schlacht de.- erwachenden Bürstenmacher, in di« traumhast schönen Erzgebirgstäler einzog, da entstand dos Werk, das jetzt, das ganze Landschastsbild beherrschend, über dem ins Tal geduckten Ort nach Stützengrün zu liegt: die ge- nosienschaftliche Bürstenfabrik. Das alte Betriebshous wird jetzt als Spott- und Arbeiterheim benutzt. Vergessen liegt es im Winkel. Oben aus freier Höhe aber steht der Prachtbau der GEG. Mehr als 300 Arbeiter sind in den großen und hellen Sälen dieser Fabrik beschäftigt. 350000 Bürsten werden monatlich her- gestellt. Und oft ist der Bedarf der Konsumverein« noch größer. Ein riesiges Holzlager speist di« kreischenden Gattersägen. Das Holz wird getrocknet, auf Länge und richtige Form geschnitten und wieder getrocknet. 200 Festmeter Holz werden pro Monat verbraucht. Das Fräsen, Schneiden und Hobeln wird in einem großen Saal be- sorgt, wo einsach« Md komplizierte Maschinen, die mehrere Arbeiten zugleich verrichtenI>ire rasend« Melodie singen. Wer hätte das geahnt, daß eine Bürste oder ein Besen so viel Arbeit macht! Ein Roßhaarbelen zum Beispiel geht 37mal durch di« Hand, bis er fertig ist. Im Stanzraum stehen sie, die eisernen Gehilfen im Kampf gegen die Heimarbeit. So ein« Stanzmaschine nimmt die Borsten weg, führt den Draht ein und pflanzt die Bündel in das Holz hin- ein. In sechs Togen, bei einer achtstündigen Arbeitszelt, werden von einer Maschine 140 000 bis 170 000 Bündel eingesetzt. Das sind pro Tag 30 Dutzend Scheuerbürsten. Di« neuen Automaten, di« auf der einen Seite stanzen, auf der anderen Seite Borstenbündel einsetzen, machen 300 Bürsten täglich. Aber die Leistungen der Maschinen können die oft unbegreifliche Fingerfertigkeit der Handarbeiter nicht verdunkeln. Besonders bei der Pinselfabrikation gibt es noch viel Handarbeit. Da wird ab- gewogen, weggebunden, eingesandet, gekittet, der Siel eingeschmiert, eingesetzt, abgeschnitten, ausgeputzt und gewaschen, lackiert, vor- gebunden, geleimt, geschnitten, numeriert und eingepackt. Auch sonst gibt es noch Handarbeiter im Akkordlohn. Viele erreichen einen Lohn, der doppelt so hoch ist wie das Heimarbeitereinkommen. Trotzdem di« genossenschaftliche Bürstenfabrik einen schweren Ikon- kurrenzkampf gegen di« Privatunternehmer und besonders gegen di« Wohlfahrtsbetriebe und Gefängnisie zu führen hat, zahlt sie einen Durchschnittslohn von 45 bis 50 M.. baut di« sanitären Ein- richtunzen in vorbildlicher Weise aus, sorgt in den hellen Speise- räumen für billige Getränke, bietet Badegelegenheit« und läßt es an nichts fehlen. kriech Knauf,

Merkwürdiges vom Nordpol . Auch der aufgeklärteste Weltreisende kann am Pol noch merk- würdige Erlebnisse haben. Zunächst kann er erst einmal getrost seine Uhr wegwerfen. Sie wird ihm am Pol nicht viel mehr nützen. Mit jedem Schritt, den er tut, hat er ja doch eine andere Uhrzeit. Gesetzt den Fall, ei» Reisender auf den künstigen Nordpol- linien fährt mit dem Lustschiff auf den, Nullmeridian von Greenwich genau nach Norden erreicht den Pol am 14. Mai um 0 Uhr 15 und fährt ohne Ausenthalt schnurstracks über den Pol geradeaus weiter, so befindet er sich nunmehr auf dem 180. Längengrad. Alan wird jünger. Alle Orte an diesem Längengrad haben aber noch das Datum des vorhergehenden Tages und die Uhrzeit 12 Uhr 15. Die Uhr des Fluggastes geht von dem Augenblick an, wo der Pol über- schritten ist, genau zwölf Stunden vor. Er muß also den 13. Mai von Mittag bis Mitternacht nochmal verleben. Im Augenblick, wo der Pol überflogen wurde, ist er tatsächlich um einen halben Tag jünger geworden. Die verflixte Ahr . Viel verwickelter aber wird die Sache bei Rundgängen oder Rundflügen um den Nordpol herum. An den Polen laufen be- kanntlich alle Längengrade in einem Punkt zusammen. Quert man auch nur einen einzigen Längengrad, so geht, streng genommen, die Uhr in der Tasche um vier Minuten falsch. Hat man dabei den Nordpol zu linker Hand, so geht die Uhr vor; geht man in Richtung des Uhrzeigers um den Pol herum, so geht die Uhr nach. Ganz aussichtslos wird die Sache bei häusigem Richtungswechsel. Niemals wird man dann mehr richsige Uhrzeit haben. Auch schwerer wird alles. Je näher man dem Pol kommt, um so schwerer wird alles. Auch das eigene Gewicht wird größer, und zwar auf den Zentner um ein Kilogramm. 500 Gramm Tabak wiegen am Nordpol 505 Gramm. Briefe, welche die 20-Gramm-Grenze bei uns noch knapp passieren, würden am Nordpol rettungslos mit Strafporto belegt werden. Die Ursache dieser Erscheinung liegt nämlich darin, daß der Nordpol infolge der Zlbplatwng der Erdkugel dem E r d- Mittelpunkt rund 20 Kilometer näher ist als z. B. jeder Punkt auf dem Aequotor. Die Windrose verrückt. Mit Staunen wird der Reisende weiter bemerken, daß der Nordpol der einzig« Punkt aus der Erde ist. wo immer nur Süd- wind weht. Nicht nur die Zeit wird auf den Kopf gestellt, sondern auch die Himmelsrichtungen machen Sprünge. Nähert sich das Fahr- zeug dem Pol, so fährt es nordwärts. Sobald der Pol überschritten ist. geht es südwärts, ohne daß eine andere Fahrtrichtung ein­geschlagen oder eine Kehrtwendung ausgeführt wurde. Auf keinen Fall aber kann man vom Nordpol aus nach Norden, Osten oder Westen gehen. Ein Jahr ist ein Tag. Ein ganzes Jahr verläuft am Pol wie e i n Tag bei uns. Ein Bewohner des Nordpols erlebt im Jahr nur einen einzigen Sonnenaufgang im Frühjahr und«inen einzigen Eon- nenuntergang im Herbst. Die Kraft der Wärmeausstrahlung der Sonne an diesem halbjährigen Tage des Nordpols ist über- raschend stark. Sie erreicht fast die gleiche Höhe wie die am Aequator während eines ganzen Jahres. Der pol wandert. Leider ist der Nordpol auch bei Landung mit dem Luftschiff recht schwer zu finden. Er ist nämlich dauernd unterwegs. Er wandert. Hat man ihn eines Tages wirklich festgestellt, so rückt er unmerklich wieder fort und ist acht Tag« später schon über einen Meter entfernt. Er beschreibt auf dies« Weise in etwa 14 Monaten eine kreisrunde Bahn mit etwa zehn Meter Halbmesser. Aber auch dieser Kreis selbst wiederholt sich niemals genau, sondern wandert als Ganzes ebenfalls. Wir wissen heute mit Sicherheit, daß am Nordpol im Gegen- saß zum Südpol k e i n L a n d ist. Er liegt vielmehr inmitten der mit Eisschollen bedeckten polaren Tiefsee. Diese schwimmenden Eismassen aber kreisen selbst wieder unaufhörlich um einen Dreh- punkt, der weitab vom geographischen Nordpol liegen dürfte. Also der Nordpol ist ein unendlich kleiner Punkt, der Punkt wandert im Kreis«, der Kreis wechselt den Ort. das Eis driftet, der Magnet versagt, ckein Stern ist im Sommer am Himmel zu sehen, kurz, die berühmte und heiß umkämpfteEntdeckung des Nordpols" ist im strengsten Sinne«ine vollkom- men« Unmöglichkeit. Und dies ist eigentlich das Merk- würdigste an diesem merkwürdigen Punkte. �rlcticus.

Lugendgerichi in Amerika . Wie wirkt die erste Verurteilung? Dr. Healy, jahrelanger Leiter des dem Jugendgericht von Chi- kago angegliederten Psychopatheninstituts und später Direktor eines ähnlichen Instituts beim Jugendgericht in Boston , gibt eine Interessante Aufstellung über das Schicksal von rückfälligen Jungen, zehn Jahr« nach ihrer Vorführung vor dem Jugendgericht in Chi- kago und in Boston . Es ergeben sich da groß« Unterschiede, die allem Anschein nach durch die verschiedenen sozialen Verhältnisse in den beiden Städten, vielleicht aber auch durch die verschiedenen Ge- richtsmethoden zu erklären sind. Während man in Chikago schneller dabei ist, die Iungens in eine Anstalt zu überweisen, versucht man in Boston durch die Aenderung der häuslichen Verhältnisse sie in der Freiheit einem geordneten Leben zuzuführen. Jedenfalls zeigte es sich, daß unter 420 dem Jugendgericht von Chikago erstmals vor- geführten Jungen im Zeitraum von 1909 bis 1919 nur 164 keiner Verurteilung durch die Gerichte für Erwachsene unterlagen, während 209 solche Verurteilung über sich ergehen lassen mußten, daß ferner 157 einer Anstalt für Erwachsene überwiesen wurden und daß 14 wegen Tötung als Erwachsene bestraft wurden. Von 400 in Boston erstmals zugeführten Jungen wurden im gleichen Zeitraum nur 84 vom Erwachsenengericht verurteilt, nur 25 einer Strafanstalt überwiesen und kein einziger wegen Tätung bestraft. Noch interessanter gestaltet sich das Bild, wenn man in Betrocht zieht, daß drei Personen von den Chitagoern bei der Begehung eines Verbrechens getötet wurden, vier von ihnen Selbstmord be- gingen und 39 Berufsoerbrecher geworden sind. In Boston da- gegen ist keiner getötet worden, hat auch keiner mit Selbstmord geendet und nur ein einziger ist Berufsverbrecher geworden.