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Beilage Montag, 6. August 1928.
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Norderney. Trip durch Marsch, Watt und Meer. Quer durch Ostfriesland  .
Einspurige Bahn durch grünes Land. Rechts und link- weiß überblühte, rat überblühte, gelb überblühte Wiesen. Bis an den fernen, dunstigen Horizont. Hineingeschnitten in den fetten, breiten, fleischigen Rücken dieser Marsch rotbraune Klinker- chausseen, träge Kanäle mit Ziehbrücken darüber. Mitten im Grünen schwimmen kleinere und größere Inseln gleich Häusern, Dörfern und Städten, gehäuftes Dachgewir hinter saftgrünem Baumwall. Ueber allem ein hoher blasser Himmel, an dem Walken gleich Wattebauschen treiben. Stunden rollt der Zug durch die langsam rinnende Zeit. Ein Bäderzug voll lärmender Kinder, aufgeregter Mütter und vielbeschäftigter Mädchen. Der Nachmittag döst in der flimmernden Wärm«. Menschenleer die seltenen Stationen, auf denen gelbe Postwagen vergeblich auf Briefschaften warten und die rote Mütze des Bahnmeisters die einzige Attraktion ist. Langer Aufenthalt in Leer  , wo asthmatische Rangierlokomotwen stöhnen, und die spitzgiebeligen Häuschen der Stadt apathisch über ehre grünen Gartenzäune blinzeln.
Lleber Leer   nach Emden  . Was mag in Leer   wohl los fein? In der Zeitung lese ich, daß soeben Teely Sühwoldt ihr Amt als Hebammenschwester angetreten hat. daß man drei Kinderballons hochgelassen, um nachzu­schauen, in welch unbekannte Länder sie abgetrieben werden, und daß der Magistratunnachsichtlich" die­jenigen zur Anzeig« bringen wird, die Scherben und Papier zwischen den Müll werfen. Also steht's im Leerer Anzeigeblatt'. Weiter rollen wir nach Emden  . In den Horizont zeichnen sich dünne, blasse Fäden, werden fester, kräftiger, knüpfen sich zu skurrilen Kon- struktionen, die ausschauen wie lange Kamelhälse auf stokigen Beinen. Das sind die Verladebrücken des neuen Vinnenhafens in Emden  . Da rennen auch schon die Häuschen zu Häuf, und wir sind mitten in einem Vrodem von Tang-, Teer- und Fischgeruch. Poltern über eine Brücke, unten schaukeln in fettigem Wasser breite Kähne und Fischdampfer, mit roter Mennige bestrichen, ein« Straßenbahn aus dem Deutschen Museum wartet an der Schranke, und bald darauf pendele ich durch die hallenden krausen Straßen. Eine Kleinstadt gebückter, schiefer, mit Lieb« wieder geflickter Behausungen. Holpernde Straßen steigen mit krummem Buckel über faulige, ober sonst idyllische Gräben und Kanäle, die hier Drifte* undTiefe* heißen. Dort unten wispern in schaukelnden Kähnen zärtliche Liebespaare. Mühlen   kreisen geruhsam große Flügel. Am Zentralhotel vorbei pendelt der Abendbummel der Backfische und buntbemützter Pennäler. Schön das Rathaus,«in kostbarer Renaissancebau, von«instiger Größe zeugend. Davor in violett und rosa eine Diedermeier-Polizeiwach« mit Böller-Kanonen. Man pflogt mit Denkmälern und Inschriften das Andenken an den Großen Kurfürsten, der von hier aus fein« kolonialen Pläne verwirklichte. Die Emdener heißen nicht Fritz und Ernst und August, fondern klingender Uwe, Jens und Heiko, und ihre alten Renaissancebauten sind holländisch bis ins letzte Ornament. Weiter rollt der Zug über.�oornkal* Norden an dem Störte- becker Turm in Marienhafe   vorbei bis Norddeich  , wo mit einem Mal das Land absackt in brodelnde Wasserfläche und erschrocken der Zug stoppt am weit hinausgeschobenen Bollwerk. Llebers Wattenmeer. Grau und diesig das Meer. Schmutzig weißer Schaum wirft sich heran, klatscht gegen die Mauern und Pfähle. Die weißeu Frisia  "-Dampfer dümpern auf und ab. Drüben, am Horizont, «in schmaler Strich Norderney. Ein« Stunde dauert heute die Uebersahrt. Tapfer kämpft die Maschin« mit dem rollenden, schaumigen Element. Knatternd fährt der Wind über's Deck, schleudert Spritzer hoch hinauf. Die Mantel- tragen werden aufgeklappt, und besorgt oerfolgt mancher Pastagier das besoffene Schwanken des Boden. Aber es ist halb fo schlimm. Schon erkennt man auf der Insel die grüne Ehrenpsorte, gemächlich dreht sich das Land heran. Hallo- rufe, Gedränge an der Brücke,«in« Eskorte von zwanzig Hotelboy» empfängt uns feierlich wie Lindbergh. Das neue Norderney. Das Neue? Gas es denn ein Mtes? Allerdings. Norderney   hat seine mechfeloolle Geschichte. Als vor nun hundert Jahren dieses Nordsee  - bad gegründet wurde, da schlug der hannoversche Hof hier bald seine Sonimcrresrdenz aus. Das heutigeGroße Logierhaus', das»n- rcrfationshaus* und der schöne Georgsgarten reden von jener Zeit, da der hannoversch« Feudaladel sich hier eine exklusive Stätte schuf und den Bauten ihr charakteristisches Gesicht aufdrückte. Und der Adel blieb, wenn auch die Welfenkönige verschwanden. Bi» Krieg und Revolution den Schlußstrich unter diese Periode zogen. Und seit der Zeit datiert das neu« Norderney  , das Norderney eines sozialen Badebetriebes, das Sommer und Winter 2000 Kinder beherbergt, pflegt, versorgt und gesund in die Heimat entlasten kann. Dos Norderney, das unter rühriger Leitung seines Bürgermeisters Lühr und Bodedirektor» Klingemann «in weitgespanntes Projekt verwirklichen will. Pläne hängen aus für ein neues Wellenbad, wo man im Sommer und Winter bei jeder Temperatur, bei jedem Sturm gefahrlos im gleichen, ruhigen Nordseewellenbad im Dünensand baden kann. Dieses Wellenbad, das auch architektonisch eine Bereicherung der Insel be- deuten wird, wird ihr viel neue Freunde gewinnen. Ebenso der gelungene Umbau des alten Logierhause« und de» Konversation»- haules. Ausgezeichnete, den heute historischen Stil mit seinem Takt zum Neuen in Einklang setzende Räume sind hier entstanden. Wenn
klatschend gegen die Steinmauer, ftißt Sand und Schlick. Unsere Nordseeinseln wandern. Während sie im Westen im steten Kamps mit Wind und Wellen ihre Ufer vergeblich verteidigen, letzt imi Osten, in ruhigen, stillen Buchten, Schlick an, seicht wird das Wasser und vorsichtig wagen sich die ersten Gräser in das moorige Neuland. Im Norden aber bestickt man sorgfältig die Dünen, baut Windhürden ein und zieht langsam neue Landwäll« hoch, die sich schützenden Ringen gleich um die Insel legen. Nachmittags im Flughafen. Drei große grüne Hallen stehen dort, von Kriegszeiten her. Jetzt erweitert man den Flugplatz, legt den Zufahrtsweg zum 5?afen um. Damit sind alle Vorbedingungen für einen großen Nordsee  - Hasen gegeben, der dann ein ausgezeichneter Lande- und Startplatz für Wasserflugzeug« ist. Dreimal täglich kommt jetzt eine Maschine herüber. Wenn man rechtzeitig die Initiative ergreifen würde, für «inen Verkehr über, nicht um die Nordsee   herum, könnte Norderney  im internationalen Liniennetz eine Heroorragende Rolle einnehmen. Metallisches Hämmern dröhnt aus der Halle. DieS e v e r a*. die Seeversuchsabteilung hat hier ihre Werkstätten. Die großen breitbeinig«» Maschinen mit den langschnäbeligen Wassertufen starren gelangweilt in den sinkenden Tag. Der kleine Frisia-Dampfer schaukelt, dann dreht er sich. Die Ufer treten zurück. Ein Lokomotwenpfisf schrillt über das Watt: Di« 24 Stunden sind um. Der Zug bringt uns wieder in den lärmenden Alltag. Heinrick Braune, Hamburg  .
man dazu die weiteren und finanziell durchaus gesicherten Pläne überblickt, den Bau eines Strandhauses mit Wandelhallen, weiterem Ausbau des Marktes und sonstige baulich« Veränderungen, so kann man dem neuen Norderney eine erfreuliche Zukunft prophezeien. Spaziergang durch die Insel. Ein kühler, noch frischer Morgen. Salzige Brisen schütteln die sturmgewohnten Kronen der Bäume rund um das Logierhaus. Ein wirklicher kleiner Wald dichter Laubhecken begrenzt die gewundenen Wege zum Westbad. Dort rollt schäumende Dünung, schlägt
Antisemitismus in Moskau  . .Prawda* vom 14. Juni berichtet von einem entsetzlichen Fall antisemitischer Ausschreitung: In einer Hofwohnung in Moskau   lebte«in alter Jude mit seiner Familie und noch einigen Personen.Der Alte wurde auf Schritt und Tritt von den Nachbarn mit Schmährufen und der liebenswürdigen Versprechen verfolgt:Bald schlachten wir euch ab!* Als die Rowdys sahen, daß der Alte nicht imstande war. ernsten Widerstand zu leisten, trieben sie ihr Spiel immer weiter. Sie erwischten ihn irgendwo, banden ihm mit Stricken die Hände an den Leib, warfen ihn zu Boden und rollten mit rohem Ge- lächter leer« Toniren über seinen Körper hin und her. So ver- gingen einig« Wochen. Als die Rowdys sich davon überzeugten. daß sie ungestraft davonkam«», faßten sie neuen Mut und be« schlössen, den Alten blutig zu verprügeln und seine Tochter zu ver» gewaltigen.... In der Nacht hörten die Leute in den Nachchar- Häusern herzzerreißende Hilferufe:Hilfe, zu Hilfe, nian mordet uns!* Di« Rowdys hatten ihreArbeit* begonnen. Der junge Golowkin lauerte dem Alten bei dessen Heimkehr auf und warf ihn zu Boden. Der Alte begann zu weinen, erhob sich und wollte ins Haus hineingehen, der Rowdy warf ihm«inen Stock zwischen die Bein«, so daß der Alte wieder zu Boden stürzte. Als er sich wieder erhob und im Hause Zuflucht suchen wollte, warfen die Kerle Steine nach ihm. Schließlich banden sie einen Strick um seinen Hals und schleppten ihn auf diese Weis« zum Haustor" Die Nachbarn begannen auf die Rowdys zu schimpfen und sie ließen den Alten aus einen Augenblick los. Dieser nutzte die Ge- legenheit aus, stürzte ins Haus und schloß die Wohnung ob Die Rowdys machten daraufhin Anstalten, die Wohnung zu stürmen. Die Familie des Betreffenden rief um Hilfe und alarmierte sämtliche Nachbarn.Es war das Bild eines richtigen Progroms* fügt die Prawda* hinzu. Erst um 4 Uhr morgens, als bereits das ganze Haus alarmiert war, stellten die Rowdys ihren Angriff ein Nur dank den Erzählungen der Nachbarn kam dieser Fall ans Tageslicht.
Ge8pen8ter unserer Tage.
Wir haben das Gruseln verlernt, unsere nüchterne Zeit hat den Sinn für das Romantische, Abenteuerliche fast ganz verloren. Selbst die, die noch an Geister und Gespenster glauben, sie tun es mit einer Nüchternheit, mit einem Zwecksinn, der den Reiz des Gruseln« völlig tötet. Ihre Klopfgeister sind nur eine Art Radioverbindung mit un- bekannten Stationen, sie zitieren den Geist Napoleons  , Luchers und Karls des Großen nicht um des Schauern» willen, nicht um des Grausens, des Geheimnisvollen, nein zum Beweise der Alltäglich- keit, zum Beweise der Selbst- Verständlichkeit, zum Zwecke der Entheimlichung des Geheimnis- vollen. Und wir anderen, denen die Verbindung mit jenen un- sichtbaren Radiostationen fehlt, wir lösen alles auf der Welt, mit Formeln und Gesetzen. Was außerhalb dieser Gesetze liegt, existiert nicht, denn es ist nicht existenzberechtigt. Und wenn es doch einmal gegen all unsere Formeln, all unseren Gesetzen zum Hohn unwiderlegbar in die Erscheinung tritt, wenn seine Existenz so greifbar ist. daß sie nicht verleugnet werden, so ficht- bar, daß keine Formel sie verdecken kann, dann sehen wir darin bestenfalls ein noch zu klärende» Problem. Dann suchen wir vier, sechs Wochen nach einer neuen verän- derten Formel, nach einem beste- ren zuverlässigen Gesetz. Und das Geheimnisvolle ist überwunden. Phantast, Ich« Schwärmerei bleibt alles, was seine, den Formeln und Gesetzen widersprechende Existenz nicht einwandfrei beweisen tonn. Fremd war uns Nüchternen die Welt des Seltsamen, des Ab- sonderlichen. Unser allzu logisch geschultes Auge sieht nur Zweck- mäßiges, kennt nur den Stil der reinen Sachlichkeit. Was zweck- mäßig«st. kann nicht seltsam sein, verkündet den Verstand und da, Auge glaubt es. Der Autorennfahrer im Sturzhelm, mit riefen- hofter Schutzbrille, ganz in Leder getaucht, wie der wilde Jäger vorüberbrausend, ist gespenstischer als alle weisen Frauen des Mittel-
Die Maske des Tauchers.
alters zusammengenommen, ist gespenstischer als der Erlkönig mit all seinen Schwestern. Eine Zeit, die die Logik der Autokappe und der Schutzbrille nicht kannte, wäre für Jahrzehnte in Schrecken ge- raten, hätte für ein Jahrhundert das Gruseln gelernt ob einer einzigen solcher daherrasendcn Erscheinung. Sagen und gruselige Legenden hätten sich um das Gespenst der rasenden Menschen- Maschine gewoben, die da schneller als der Gedanke, in ihren Um- rissen kaum erkennbar, in Bruchteilen von Sekunden durch unser Dasein braust. Aber heute stehen wir mit der Stoppuhr am Kilometerstein und messen die Rekorde, heute kennt unser Verstand längst Sinn und Zweck der Sturzhaube und so wird auch für das Auge jener gespenstische Mann nur ein Teil der Maschine, und gespenstische Maschinen gibt es nicht. Gespenster   sind unmatericll, Gespenster sind unbeherrschbar, niemand kann ihnen befehlen, nie- mand sie leiten und lenken. Maschinen aber sind materiell. Ma- schinen sind Projette unserer Logik, Maschinen sind lenkbar, reagieren auf Hebeldruck, wie sollten sie gespenstisch sein. Unser Auge hat verlernt zu sehen, weil der Verstand lernte. alles zu erklären. So gehen heute alltäglich tausend gar wunder- same, gespenstische Dinge an uns vorüber, ohne daß wir auch nur einen Atemzug anhalten, nur einmal erschreckt mit der Wimper zucken. Nüchtern wurden Zeit und Menschen, das Geheimnisvolle, das Gespenst ist in die Schauerromane und in die Fostnachtsscherze verbannt. Wir betrachten den Lokomotivführer, dessen Schädel zum Topfdeckel, dessen Augen zu Fensterscheiben und dessen Gesicht zum Lederzylinder ward, in seiner Rauchschutzhaube ebenso nüchtern wie den Arzt, dessen geheimnisvolle Ku-Klux-Klan-Maske jelbst die allerletzten Infektionsmöglichkeiten verhindern soll. Selbst wenn das Gespenst jenes voll Luft geblasenen Tauchanzuges uns im Walde begegnet, rebelliert höchstens unser Verstand gegen die Un- logik eines Tanchanzuges mit Luftrefervairs fern vom Mcere und inmitten grünender Bäume, aber gespenstisch mutet uns auch das nicht an. Wir sehen den Feuerwehrmann im Asdestanzug mit Gasmaske, mit Rauchschutzhelm, Souerstofsapparat und Beriefe- lungsanlage. So haben noch vor wenigen Jahrzehnten die phanta- siereichsten Maler Gespenster   und Marsbewohner dargestellt, wir aber fragen lediglich, ob das Gewirr von Sauerstosfschläuchen und Wasserschläuchen nicht die Arbeit des Feuerwehrmannes gefährdet. Der Bergmann mit Gasschutzmaske und der Flieger, der ganz in künstliche Lust gehüllt, 15 000 Meter hoch aufsteigt, und gruseliger denn der schwarz« Ritter aussieht, sie alle sind unserem Auge weder seltsam noch geheimnisvoll, obwohl sie die Phantasie vergangener Jahrhundert« und ihre Gespenster tausendfach überbieten.