SivÄbimd Sonnabend, 11. August 1928.
Bei Hermann Müller . Wilhelmstraße 77: Von Graf Schulenburg über Fürst Radziwill und Fürst Bismarck zur„Reichskanzlei".
Alle Sprengbomben uni> Gegenminen der bei den Deutsch - nationalen untergeschlüpften ehemaligen Herrenschicht der Kaiserzeit, haben es nicht zu hindern vermocht, daß der Sozialdemokrat Hermann Müller als„Voltsbeauftragter" des 20. Mai feinen Einzug in die Reichskanzlei gehalten hat.
des Kaisers heruntergeholt, der Reichsadler und dos Kaiserwappen angebracht. Bismarck fühlt sich zuerst in dem prunkhaften Schloß nicht recht wohl. Der große Garten aber versöhnt ihn mit dem Palais. Er läßt ihn aus der französisch zugestutzten Form in einen Park umbauen, der ihn an seine heimatlichen Wälder gemahnt.
Das Haus der Reichskanzlei.
Der Name„Reichskanzlei" hat einen örtlichen und einen sachlichen Klang. Er deutet auf das von Bismarck zum Amtssitz des Reichskanzlers erhoben« Palais Wilhelmstraße 77 mit all seinen historischen Erinnerungen, sowie auf die Amtsstelle hin, die seit 1878 als„Oberste Reichsbehörde" und als ein« Art zivile General- adjutantur des deutschen Reichskanzlers fungiert. Hier soll weniger von der Amtsstelle als von dem Amtssitz die Rede sein. Gespenster im„Bismarckhaus". Aeußerlich unterscheidet sich„Wilhelmstraße 77" wenig von seinen Brüdern und Schwestern gegenüber, rechis und links Ein repräsentativer Bau, halb Villa halb Schloß. In der Mitte ein prunkhaster Ausbau mit Fries und angedeuteter Säulengalerie. Ein« Kaiserkrone wird von zwei schwebenden Jungfern unter dem Giebel nach wie vor in der Schwebe gehalten. Aus dem antiqui- sierten Fries darunter weidet irgendein griechisch-römischer Hirte Lämmer und Ziegen und bläst nachdenklich die Flöte dazu. Am Gittertor ober steht schweigend und weltabgewandt ein Pistolen- bewehrter Doppelposten der Schutzpolizei . Wenn man die etwas altertümlichen Räume des Palais, das mit dem üblichen„Ehrenhof" mit Prunkgitter»on der Wilhelmstraße abgeschlosien ist. betritt, spuken aus allen Ecken und Fugen die Gespenster einer nicht sehr weit zurückliegenden, aber doch reichlich vermoderten Zeit. Gleich im Wartezimmer unten begrüßt dich, in Stahl gestochen, der Erbauer des Hauses, der ehemals hannoversche, später preußische General Graf Schulenburg. Er hat aus Beranlasiung des Königs Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1738 das Palais als „Freihaus", dos heißt unter Erlaß der üblichen Sporteln und Ab- gaben erbaut. Das neu« Schlößchen wurde 1728 in Anwesenheit des Königs durch einen Festakt eingeweiht. Der Festakt ist den beiden Hauptpersonen jedoch recht schlecht bekommen. Der König hat sich in dem„schwer heizbaren und durch beide Stockwerke ge- henden Saal", dem späteren Kongreßsaal, eine schwere Erkältung zugezogen, an deren Folgen er bald darauf gestorben ist. Der Nachfolger des Königs, der„junge Fritz", aber zettelte ohne erficht- lichen Grund einen Krieg gegen Oesterreich an, den der erste Haus- Herr von„Wilhslmstraße 77" itt der Schlacht bei Mollwitz zum Opfer gefallen ist. Herr o. Schulenburg befehligte damals zehn„in verhältnisniäßig schlechtem Zustande befindliche" Eskadrons der preußischen Kavallerie. Als sie die 30 österreichischen Eskadrons nicht auf den ersten Hieb zum Teufel jagen konnten, fluchte der junge Fritz gotteslästerlich über Schulenburgs Reiterei. Der attackiert dt« österreichische Infanterie und fällt bei dieser Wahnsinnstat. Biel hat der erste Hausherr von dem„Freihaus der Hohen- zollern" also nicht gehabt! Sein Urenkel hat sich übrigens für den frühzeittgen Heldentod seines Urgroßvaters revanchiert: Er hat den letzten Kaiser nach Holland lanciert! „Hotel de Nadziwill". Nach den Schlesischen Kriegen kaufte der polnische Fürst Radzi- will, der plötzlich preußischer Untertan geworden war, das Palais. und brachte unter dem Giebel das polnische Wappen und die Bezeichnung„Hotel de Radziwill" an. Fürst Radziwill hatte in Schlesien und Posen riesige Güter, deren Ertrag in irgendeiner „Residenz" verjubelt werden mußte Der König von Preußen hatte nun mal den Krieg gewonnen, so erwarb sich also der polnische Magnat in der neuen Haup stadt ein standesgemäßes Winter- quartier" Die höfischen Gclchichtjchreiber haben inzwischen heraus- gef nden warum gerad» da- Hotel te Radziwill" Reichska z'ei geworden ist Der.Prinz r n Preußen" hnbe zur Prinzessin von Radziwill eine ideale Ivgendliebe" gefaßt.Gründe der StaatSiaison" hauen« neir.Ehebund" im Wcg. gestand> Trotz aller Bemühungen auch des Kaisers Alexander von Rußland Elija durch Adoption ebenbürtig zu machen mußte Prinz Wilhelm seinen Liebcstraum zu Grabe tragen." Als Kaiser Wilhelm I. aber habe der ehemalige Prinz das Schloß seiner Jugendliebe für Bismarck erwerben lassen, da„es gerade zum Verkauf stand". „Hotel Bismarck". Für 2 Millionen Taler also hat der Reichsfiskus das, Hotel de Radziwill" im März 187S für Bismarck gekauft. Das polnische Wappen und de« Ausjchrist.Holet de Radziwill" mied aus Befehl
Das Palais wird modernisiert, die Zimmer kriegen Parkett, die Fürstin— ein Bad — eine„damalig« große Seltenheit"! Hier regiert der bereits mürrisch werdende Alte fast 20 Jahre lang. Sein ehemaliges Arbeitszimmer wird heut« noch von der „Reichskanzlei" pietätvoll gepflegt. Hier steht der Schreibtisch der Fürstin. Klein und putzig. Er ficht wie ein Wäscheschrank aus. Da ein Kamin mit dem Wappen der Bismarck , dort ein Schreib- tisch des Gewaltigen,«in großer Diplomatenschreibtisch mit einem Blechschild„Schreibtisch des Fürsten Bismarck 1878 bis 1890" Der Tisch ist abgeräumt, er hat etliche Löcher im Brett und zwei mächtige Tintenklexe darauf. Ob diese Tintenklexe auch mal meter- tief abgekratzt werden, wie der Klex Luthers auf der Wartburg ? „Oer Kongreßsaal". Neben dem Lismarckschen Arbeitszimmer ist der.Hongreßsaal" die Hauptsehenswürdigkeit der Reichskanzlei. Der übliche Bankett-
saal mit Kronenleuchter, Portieren, hohen Türen, Oberlichtfenstern und so fort. Hier hat Bismarck 1878 acht Tage lang dem„Berliner Kongreß" präsidiert. Noch ein wichtiges Ereignis hat sich hier ab- gespielt. Friedrich Ebert hat hier im Dezember 1918 die Ministerpräsidenten der Freistaaten zusammenberufen und die baldige Einberufung der Nationalversammlung vorbereitet Es ging damals— wie mir der Führer erzählt— etwas stürmisch zu in der Reichskanzlei. Die Nebengebäude waren stark mit Truppen belegt. Im Garten biwakierten Maschinengewehrabteilungen. Die Pferde waren in Holzbaracken untergebracht. Zu Zeiten knallten die Kugeln von wilden Schützen über die hinter Sandsackbarrikaden stehenden Posten hinweg. Ebert, Scheidemann , Landsberg , Haas«, Dittmann Barth und später Wissell saßen damals hier und steuerten die Republik über das Chaos in ruhigere Zeiten hinein. „Bismarcks Garten." Ein Diener führt mich unter den mächtigen Bäumen de» Gartens hindurch. Wir gehen über die Rasenflächen, stecken die Nase in die Rosen und Rododendronbüsche und plaudern mit den Gärtnern. „Sehenswürdigkeiten habt Ihr hier wohl nicht?"— ,Hch weiß nicht mein Herr!" blinzelt mich der Kammerdiener der verflossenen Kabinette an. „Doch! Hier gibt es sicherlich allerhand zu sehen! Ein Pferde» oder ein Hundegrab?"—„Richtig, der Bismarck-Hund! Da vorne neben der kleinen Tanne muß er begraben sein." Wir treten näher. Ein Feldstein mit dem Namen Tyras und der Jahreszahl„1876 bis 1889" darauf. „Na weiter!"—„Früher mal, da waren die zwei Baronessen Radziwill in einer Art Familiengrab hier beigesetzt! Doch die hat man Mitte der 70ger Jahre hier fortgeholt."—„Na, und sonst—?" „Ganz hinten im Park liegt das Bismarck-Pferd!" Wir kriechen über Schutthausen, durch Absallkübel und Küchen» rest« hindurch und stehen plötzlich vor einer Tannenschonung auf einem mächtigen Hügel. Ein wahres Hünengrab.—.Hier! Dos war sein Liebliegspferdl"—„Mensch haben Sie das alles mit- erlobt?"—.Hawoll, ich diene seit 30 Iahren im Haus!— Hier ist der Reitplatz!" .Meitplatz? Ist da der Kaiser zum Reiten herübergekommen?" —„Der Kaiser?" Der alte Mann erschrickt förmlich vor Respekt! ,H. der Kaiser hat hier niemals geritten! I, wooo! Hier ritten die gewöhnlichen Leute, die Adjutanten, die Attachees, die Herren Kanzler!"—„Die haben alle geritten?"—„Früher alle, bis auf Herrn Michaelis!" —„Na, der fromme Herr, hatte wohl nicht die Figur dazu!"—- „Fürst Bismarck ritt bis in die allerletzt« Zeit!" Di« allerletzte Zeit! Das schnauft er nur mühsam heraus. Der alte Herr im Lakaienstack zittert noch vor Respekt vor dem„Alten vom Sachsenwald". Dieser Bismarck hat ja vor ollem für seinen Part gelebt, für seine Bäume und Sttäucher, für seinen Gaul und für seinen Hund. Als General Caprivi einige der mächtigen Eichen umwerfen ließ, schrieb der Alte voll Zorn in sein Tagebuch'„Dieser Holzfäller verwüstet den ganzen Park." Auch dieser Garten hat nachher feinen Haß erregt. Wenn er wüßte, daß jetzt ein sozial- demokratischer Kanzler von hier aus ein« Republik regiert! Hermann LcKütriaxer.
Wolf gang Freiligrath. Die 80jährige Wiederkehr der Tage des Frankfurter Parlaments hat den Gau Frankfurt des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold ver- anlaßt, zwei noch lebende Abkömmlinge berühmter Achtundvierziger als Ehrengäste einzuladen. Der eine ist W o l f g a n g F r e i l i g r a t h, der Sohn des Freiheitsdichters Ferdinand Freiligrath ; er wohnt seit 1893 in Külz im Hunsrück und erinnert sich noch der schlechten Tage, die sein Baier im Anschluß an die Auflösung des Parlaments im Exil in London durchzukämpfe. hatte. Wolsgang Fre-ligrath Hai ebenso w e sein Vater ein sehr bewegtes Leben hinter sich 20 Jahre war er in Nordamerika als Trapper Mineur, Farmer, Matrose in Kalifornien und Mexiko , am Pacific und in Bussallo Der andere Ehrengast ist der Rechtsanwalt Max Venedey aus Konstanz . Er hat in der demokratischen Bewegung Badens lange Jahre eine hervorragende Rolle gespielt und wur auch Mit- glied des Badischen Landtages. Sein Vater Jakob Venedey war am Hambacher Fest beteiligt und mußte im Anschluß daran fliehen 1848 war er Mitglied des Frank- furter Parlaments und gab eine politische kritische Zeitschrist„Die Wag«" heraus, die 1848 bei 2. Rütten in Frankjurt a. M. erst-
Max Venedey(Konstanz ). malig erschien. Außerdem ist er in der historisch-poliiischen Lite- ratur bekannt durch ein dreibändiges Werk über England, ein zweibändiges Wert über Macchiavelli , Montesquieu und Rousseau Außerdem veröffentlichte Jakob V «nedey ein Buch über Friedrich II von Preußen und Voltaire .
Oer dienstälteste Faramen�arier. Die Ehre, den Politiker zu besitzen, der die längste ununter- brachen« parlamentarische Laufbahn hinter sich hat, wird, wie aus Rio de Janeiro gemeldet wird, von Brasilien in Anspruch genommen Der Abgeordnete Manuel Fulgencio der kürzlich seinen 80. GebuNstag feierte, wurde im Jahre 1876 vom Staat« Minas Geraes in das brasilianische Parlament entsandt also noch zur Zeit des Kaisers Don Pedro II. Seitdem haben ihm feine Wähler ununterbrochen sein Mandat erneuert, selbst im Jahre 1889, als das brasilianische Kaiserreich zusammenbrach. Fulgencio denkt anscheinend auch zetzt noch nicht daran, aus dem politischen Leben auszuscheiden, denn als er an seinem Geburtslage seinen Wählern für das ihm bewiesene Vertrauen dankte, versichert« er ihnen gleich- zeitig, daß er chnen bis zum Tode die Treue halten werde.