Beilage
Freitag, 31. August 1928.
Der Abend
Spalausgabe des Vorwärts
Das Zuchthaus als soziales Experiment.
Ein Besuch in der Strafanstalt Untermaasfeld.
Wenn wir die Menschen behandeln, wie sie sind, so machen wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln wie sie sein sollten, so machen wir sie zu dem, was sie werden können. Goethe. Der Weg vom Hein- Prozeß aus Koburg nach Eisenach führte über Untermaasfeld, am Zuchthaus vorbei, genannt: Thüringische Strafanstalt Untermaasfeld. Mit seinen sieben Türmen und Mauern steht da das alte Schloß, und nur die kleinen vergitterten Fenster verraten, daß in diefer mittelalterlichen Feste, in der einst Wolfgang von Eschenbach seinen Ritterschlag empfang, Menschen in Un freiheit leben. Unter den 272 Gefangenen zählt man 21 Lebensfängliche. Wenn ein seine letzte Wahnsinnstat in Thüringen begangen hätte, so wäre vielleicht auch er hierher gekommen und nicht einer der schlechtesten gewesen. Bei seinen Erziehungsgrund sähen hat sich der bisherige Leiter, Regierungsrat Krebs, der jezt zum Direktor der Berliner Fürsorgeanstalt Lindenhof be= rufen wurde, den ebigen Goethischen Ausspruch zu eigen gemacht.
Die Strafanstalt.
Und diese Erziehung innerhalb eines Buchthauses" führt nicht zur Dasziplinlosigkeit, sondern im Gegenteil: zur Selbstdisziplin. Beweise: Hausstrafen: im Jahre 1926 gleich 100 gesetzt, machten im Jahre 1927 nicht mehr als 43 aus; Arreststrafen: 58; gemaltsame Ausbrüche: im Jahre 1923 bei 180 Gefangenen 13, im Jahre 1926 3 mei bei 290 Gefangenen, im Jahre 1927 überhaupt feine mehr; Entweichungen: im Jahre 1923 bei 29 Außenarbeitern 20, im Jahre 1924 bei 46 Außenarbeitern 13, im Jahre 1927 nur zwei bei 38. Und dies Ergebnis bei 21 Lebenslänglichen und schweren wie schwersten" Jungens! Die Beamten dazu unbewaffnet. Worin liegt das Geheimnis dieses Erfolges?
Der moderne Strafvollzug.
Als Direktor Krebs im Jahre 1923 die Anstalt übernahm, fand er sie nach einer Meuterei im Zustande vollster Auflösung. Er war gezwungen, scharf durchzugreifen und Disziplinlosigkeit mit harten Maßnahmen zu bekämpfen. Nur Schritt für Schritt konnte er den Gefangenen das Bewußtsein beibringen, daß es von ihnen abhänge, ihr Gefangenfein innerhalb der Mauern so zu gestalten, daß es nicht all zu fühlbar wäre. sie zur Mitarbeit an sich selbst heranzuziehen, in ihrem besseren Teile einen wahren Kamerad. schaftsgeist zu erwecken, das Zuchthaus in ihrer Borstellung zu einer Anstalt werden zu lassen, für deren Gedeihen sie selbst die mitverantwortung tragen. Das war aber nur möglich, indem er an ihr besseres Ich appellierte, sie als gleichwertige Menschen behandelte, Aufseher und Erzieher mit dem Goetheschen Satz zu durchdringen verstand.
Der moderne Strafvollzug ist zum Schlagwort geworden. Und mie immer mit Schlagwörtern wird auch mit diesem Unfug getrieben. Falsche Münze wird für echt ausgegeben, Schein für Wirklichkeit, Sentimentalität mit Humanität verwechselt, jede kleine Verbesserung als aufsehenerregende Reform auspofaunt. Ein bißchen Mufit, Radio, Sport, Berträge, ein wenig Selbstverwaltung und freundliche Behandlung gilt als außerordentlicher Erfolg. All das bleibt jedoch nur Aeußerlichkeit, sofern es nicht durch Ausbau des Strafvollzugs bis ins kleinste hinein eine ständige innere Umstellung des Gefangenen bewirkt, seine unbewußte Erfüllung mit neuen fozialen Gemeinschaftswerten gewährleistet, die es ihm nach Freilaffung innerlich unmöglich machen, rückfällig zu werden. Strafanstalt Untermaasfeld versucht das zu erreichen; sie täuscht sich aber feinen Augenblick darüber, daß sie sich erst auf dem Wege zur Erfüllung befindet. Vom Tage des Eintritts der Gefangenen in die Anstalt Untermaasfeld beginnt die zielbewußte Arbeit am ganzen Menschen.
Die Einlieferung.
Die
Der Neuling fommt in die erste Stufe: die Beobach= tungsstufe. Am nächsten Morgen besucht ihn der Fürsorger und gibt ihm Papier, damit er seinen Lebenslauf niederschreibt. Das Ergebnis der ersten darauffolgenden Unterhaltung wird dem Anstaltsrat mitgeteilt, die Wachtmeister bekommen Berhaltungsmaßregeln, durch das Städtische Wohlfahrtsamt oder durch die Thüringische Gefängnisgesellschaft wird mit der Familie des Gefangenen Fühlung genommen und im Notfalle für Unterstützung gesorgt Auch ber Direktor kennt jeden seiner Leute aufs genaueste Der Ge fangene erhält eine seiner Persönlichkeit angepaßte Arbeit, die er in der Regel in Gemeinschaft mit anderen Gefangenen ausübt, er bekommt einmal wöchentlich je ein Unterhaltungs- und ein wissenschaftliches Buch, hat bloß eine Stunde Aufenthal: um Freien, ver= bringt seine ganze Zeit in der verschlossenen Zelle, der Schulunterricht ist obligatorisch. Die Länge des Aufenthalts in der Beobachtungsstufe wird in der Rege: von der Persönlichkeit des Gefangenen abhängig gemacht.
Die eigentliche erziehliche Einwirkung beginnt in der zweiten Stufe: der Behandlungsstufe. Hier tritt der Gefangene in die Gemeinschaft ein und muß sich, ob er will oder nicht, in ihren Geift einordnen, Selbstverständlich gibt es da eine Anzahl von
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Menschen, die noch in ihrer trüben Vergangenheit schwelgen; tonangebend sind aber nicht sie. sondern die anderen, die bereits ein Stück Selbsterziehungsarbeit hinter sich haben und für die die Bewährungsstufe als Uebergang zur Freiheit das sehnsüchtigste Ziel ist. Die Gefangenen der zweiten Stufe haben ihre Vertrauensleute, die sie der Direktion gegenüber vertreten. Sie entsenden ihre Bertreter in das Anstaltsgericht und in den Kantinenausschuß; fie nehmen am Turnen und an Freiübungen, am Schulunterricht und an der Arbeitsgemeinschaft teil, wirten mit im Anstaltschor und im Orchester, beteiligen sich an Schachturnieren und Anstaltsfeiern, an Borträgen und Radiokonzerten, verfügen selbständig über ihre Freizeit auf den Gefängnishöfen; zu je acht, denen ein selbstgewählter Tischältester vorsteht, speisen sie an einzelnen Tischen im gemein famen Speisesaal oder im Freien, auf dem großen Anstaltshof, der teils aus Rasen, teils aus Blumenpflanzungen besteht. So reifen fie allmählich für den Eelbstverwaltungsbetrieb der dritten Stufe heran. Auch ihnen ist ein Fürsorger zur Seite gestellt, an den sie sich mit allen ihren Nöten menden können.
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Und schließlich die oberste Stufe: die Bewährungsstufe. In Untermaasfeld gehören ihr 31 Gefangene an. Sie be wohnen kleine Räume, deren Zellencharakter bloß das hohe Gitterfenster verrät; die bunt angestrichenen Wände in jeder Zelle verschieden haben etwas ungemein Anheimelndes; das an die Wand befestigte Bett ist von einem farbigen Vorhang verdeckt. über dem ein Holzumbau ein Regal bildet; vor dem bequemen Tisch ein Stuhl mit einer kurzen Rückenlehne; ein Schrank dient zur Aufbewahrung von Kleidern, Wäsche, Geschirr; die elektrische Lampe läßt sich an einem Pendel frei bewegen; je nach der Individualität des Gefangenen sieht man in den Zimmern Blumen, Bücher, Bilder, Pheteraphien. Ein gemeinsames Kachelflosett ersetzt den berüchtigten Kübel in der Zelle. Ein Kochherd gibt die Möglichkeit zum Kaffee= oder Teekochen; ein freundliches Gemeinschaftszimmer mit runden Tischen und im Bauhausstil angestrichenen Wänden, mit Fenstern, die nicht mehr gefängnismäßig hoch sind, dient als Speise- und Aufenthaltsraum. Von hier aus ein mundervoller Blick auf den Thüringer Wald . Nicht weniger stimmungsvoll das Zimmer des Fürsorgers; er verbringt hier seine Nachmittage bis 8 Uhr abends und zweimal seine Abende bis 10 Uhr. An den übrigen Abenden wird er durch einen Fürsorger aus einer anderen Stufe vertreten.
Die Selbstverwaltung der dritten Stufe.
An der Spitze der Selbstverwaltung der obersten Stufe steht ein Ausschuß von fünf Gefangenen. Er wählt seinen Vertreter in das Anstaltsgericht und in die von den Gefangenen felbstverwaltete Anstaltskantine. Die Bücher werden getauscht, so oft es erforderlich ist. 31 Zeitungen sämtlicher Richtungen, it Ausnahme ,, um= stürzlerischer", hängen im Abteilungsforriodor aus; die zweite Stufe erhält sie erst am Sonntag für die ganze Woche, ebenso die Fachzeitschriften. Der ersten Stufe steht eine im Buchthaus Waldheim erscheinende Zeitung zur Verfügung. Innerhalb der Anstalt besteht für die dritte Stufe unbeschränkte Freiheit. Die Ausflüge in die weitere Umgebung Untermaasfelds haben seit 1923 nur ein einziges mal zu einer Entweichung geführt; der Ausreißer war ein Geistes
franfer.
Dies die dritte Stufe; fie stellt eine geschlossene Gemeinschaft dar, jedoch nicht abgeschloffen gegen die übrigen Gefangenen, die durch den Geist der dritten Stufe ungewollt beeinflußt werden. So sollen ihr auch gegen ihren Willen neue Mitglieder nicht aufgezwungen werden; in jedem einzelnen Falle segen sich Direktor und Anstalts rat mit ihr in Verbindung. Es kommt vor, daß die dritte Stufe selbst um die Aufnahme des einen oder anderen Gefangenen nachfucht; es geschieht aber auch, daß auf ihren Wunsch das neu hinzu gekommene Mitglied in die zweite Stufe zurückversetzt wird. Es ist einmal so; die dritte Stufe stellt einen Gemeinschaftsorganismus dar, der auf selbstgewollter Disziplin und auf gegenseitigem Vertrauen der Kameraden untereinander und dieser zur Verwaltung aufgebaut ist. Unterhält man sich mit alten Gefangenen, die sich sieben, acht oder mehr Jahre in der Anstalt befinden, so wird einem der Unterschied zwischen früher und jetzt erst richtig far. Jetzt fühlen sie sich als Menschen, als verantwortungsvolle Persönlichkeiten, sie stehen nicht mehr unter einem Druck wie früher und trotzdem sagen sie: Das Leben in der Anstalt ist in gewisser Hinsicht schwerer als früher;
Das Anstallsgericht.
früher galt nur eins: nicht gegen den Korporativgeist der eigenartigen Verbrecherkameradschaft verstoßen, der Administration gegen über heuchelte man aber Unterwürfigkeit. Jezt hat man Verpflich tungen, die aus der Selbstverwaltung entspringen, es gibt auch eine öffentliche Meinung der Kameraden, die mit den Anstaltsinteressen als ein Ganzes zusammenfällt.
Anstaltsgericht und Disziplinarabteilung.
Seinen höchsten Ausdruck findet dieses Berantwortungsgefühl der Gefangenen im Anstaltsgericht. Es besteht aus dem Direktor, dem
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Amtmann, den drei Fürsorgern, dem Inspektor, dem Hauptwachtmeister, dem Hauptverwalter und zwei Gefangenen, dem Vertrauensmann der zweiten Stufe und einem Ausschußmitglied der dritten. Bei allen Meldungen der Aufseher über Hausvergehen, wie bei Bergehen Gefangener gegen ihre Kameraden tritt das Anstaltsgericht zusammen. Der Gefangene gibt seine Erklärung ab, er fann durch Beugenvernehmung eine Beweisaufnahme verlangen; darauf folgt die Abstimmung sowohl über die Schuldfrage als auch die zu ver hängende Hausstrafe: Kostentziehung, Lagerentziehung, Verweis, Arrest. Ist der Beamte im Unrecht, so wird ihm nahegelegt, von seiner Meldung zurückzutreten; handelt es sich um eine Bagatelle, so wird unter Umständen dem Gefangenen nahegelegt, sich zu ents schuldigen. Ist aber das Anstaltsgericht der Ansicht, daß eine Hausftrafe im gegebenen Falle nicht imftande sein würde, eine erzieherische Wirkung auszuüben, so wird die Versehung in die Strafftufe zum Borschlag gebracht. Diese Bersetzung wird dann, falls er forderlich, vom Anstaltsrat bewerkstelligt. Die Urteile des Anwalts
müssen vom Direttor genehmigt werden; in seiner Macht liegt es auch, fie zu mildern.
Die Gefangenen der Strafstufe werden in besonderen Zellen mit doppelten Türen gehalten, ihre Arbeit tun sie in der Zelle selbst, ihr Aufenthalt im Freien ist nur furz bemessen, auch sonst unter liegen sie einer ganzen Reihe von Einschränkungen, sie sind von der übrigen Gemeinschaft der Gefangenen vollkommen isoliert. Bon den 23 Strafzellen waren während des Besuchs nur 11 besetzt. Es handelte sich um schwere Disziplinarvergehen, Gewalttätigkeiten usw.
Bibliothek, Arbeit, Musik, Innenausstattung.
Eines der wichtigsten Erziehungsmittel der Anstalt ist die Bibliothet. Sie enthält etwa 3000 Bücher aus den verschiedensten Wissensgebieten. Wertlose Lektüre gibt es darunter nicht. Von den Gefangenen, ausgefüllte Wunschzettel, auf denen, nach Wissens gebieten getrennt, die Nummern der gewünschten Bücher aufge= schrieben werden, dienen dem Bibliothekar, der ein Gefangener ist, als Wegweiser bei der Auswahl von Büchern. Der dritten Stufe steht ein eigener Katalog zur Verfügung. Der Einfluß der Lektüre auf die Gefangenen ist unbestreitbar. Der seit dem 1. März d. J. in einer besonderen Karthotel geführte Lebenslauf der ausgeliehenen Bücher spricht in dieser Beziehung eine beredte Sprache. So wurde das Buch von Hermann Bopert Helmut Haringa" innerhalb 4% Monaten 25mal angefordert; Ingenieur Horstmann" von Hegeler 15mal! Der Spieler" und„ Der ewige Gott" von Dostojewski je 18mal; einzelne Bände von Gorfi 13- bis 18mal; ,, Anna Kare nina " von Tolstoi 13mal. Bon ernster Literatur:„ Die Lebens. erinnerungen" von Bismard 16mal, das dreibändige Werk von August Bebel , Aus meinem Leben" 12mal;„ Der Zukunftsstaat" von Ballod 16mal; die Werke von Dr. J. Klug Lebensbeherrschung und Lebensdienst",„ Der Mensch und die Ideale"," Das Leben" neunbis zehnmal;„ Das Thüringer Wanderbuch" von Irinius 33mal.
Die Arbeit ist, wenn es irgend geht, instruktiv gestaltet; die Gefangenen sollen nach Möglichkeit ihre Gesellenprüfung ablegen. Neben einer Maschinen- und Handtischlerei, einer Schneiderei und Schufterei, einer Schlosserei und Schmiede, Schloßmontage und Stellmacherei gibt es auch weniger wertvolle Arbeit in der Tütenfleberei und Mappenfabrit. Bon größter Bedeutung ist aber die Landwirtschaft, die neben dem Gutshof in Untermaasfeld selbst noch einen ausgedehnten landwirtschaftlichen Betrieb 3 Kilometer entfernt in Grimmental aufweist 360 Morgen Land, 50 Stüd Rindoieh, 12 Pferde, 84 Schweine. Etwa 60 Gefangene, die teils auf fremden Gütern verteilt sind, befinden sich tagsüber unter Aufsicht weniger unbewaffneter Aufseher auf dem Felde. Daß die Außenarbeit sehr beliebt ist, ist selbstverständlich. Eine Meisterleistung ist das Streich orchester. Es besteht erst seit wenigen Jahren, zählt 15 Mitglieder darunter keine Be rufsmusiker, und nur drei, die spielen konnten und 19 Musikschüler. Dirigent ist ein Gefangener; er hat auch die Leitung des ganz jungen Blasorchesters und des Gesangchores.
Gegen den humanen Strafvollzug der thüringischen Straf anstalt in Untermaasfeld find Stimmen laut geworden, die von einer Bermeichlichung sprechen. Es wurde angezweifelt, ob es angebracht fei, Zuchthäuslern derartige Vergünstigungen zu gewähren. Die Erfolge der Anstalt strafen diese Zweifler Lügen. Die Anstalt Untermaasfeld liefert den besten Beweis, daß nicht durch Härte, sondern allein durch menschliche Behandlung, die bis ins fleinste die Gesamtpersönlichkeit des Gefangenen erfaßt, eine innere Wandlung des Menschen und seine Erfüllung mit sozialen Werten möglich ist. Nur so allein fonnte das soziale Experiment gelingen: Ein Zuchthaus, in dem der Zuchthäusler Herr der Lage war, 3 น einer Anstalt werden zu laffen, in der trop der Freiheitsberaubung Wege zur inneren Wandlung gebahnt werden. Leo Rosenthal .