Morgenausgabe
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45.Jahrgang
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Donnerstag 6. September 1928
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Unterredung Müller- Briand.
Europäische Reparationslösung?
V. Sch. Genf , 5. September. ( Eigenbericht.) Bolle anderthalb Stunden dauerte die Unterhaltung zwischen Hermann Müller und Briand im Hotelzimmer des französischen Außenminifters. Es war nach Borten der französischen Preffe nur eine erste Fühlungnahme, aber schon nach der Dauer dieser Aussprache zu urteilen muß man schließen, daß die Fühlungnahme sehr gründlich gewesen ist. Auf beiden Seiten ist ein faft ebenso großes Stillschweigen bewahrt worden wie nach der Pariser Unterredung zwischen Poincaré und Stresemann . Briand begnügte sich mit einigen wenigen allgemeinen Redewendungen vor seinen journalistischen Landsleuten und ging zu Bett Müller, auf den im Vorsaal des Hotels Bergues nahezu 100 Journaliſten
aller Länder warteten, verstand es, fast unbemerkt das Haus zu verlassen und begab fich fofort zur Sigung der Deutschen Dele gation, in der er turzen Bericht erstattete. Auf deutscher Seite wurde folgende Mitteilung herausgegeben:
Gegenstand der Besprechungen bildeten die Frankreich und Deutschland betreffenden Probleme( Rheinlandräumung). Die Besprechung hatte der Natur der Sache nach vorbereitenden Charakter. Es besteht beiderseits der Wunsch, daß weitere Bespredjungen mit den Besahungsmächten in Genf folgen. So furz diese Berlautbarung auch ist, sie enthält immerhin am, Schluß eine wichtige Aussage: die Tatsache, daß auch mit den übrigen Bejagungsmächten verhandelt werden wird, beweist, daß die heutige erste Unterredung nur den Auftatt zu einer Reihe von Gesprächen im erweiterten Rahmen darstellt. Morgen wird nach diplomatischem Brauch zunächst Briand Müllers Befuch erwidern. Aber sicher, der zmeiten Begegnung unter vier Augen werden meitere folgen, an benen die Bertreter der übrigen drei Besagungsmächte teilnehmen werden, und zmar ist eine gemeinsame Auss pra che zwischen Müller, Briand , Cushendun, Hymans und Scialoja in Aussicht genommen. Frankreich hat immerhin den zumindest formalrechtlich und bis zu einem gewissen Grabe auch politisch berechtigten Standpunft eingenommen, daß es über die Räumung nicht allein mit Deutschland verhandeln tönne, da auch die übrigen Besagungsmächte darüber mit zu entscheiden hätten. Deshalb ist auch im vorigen Monat die Absicht Deutschlands , gelegentlich der Genfer Tagung diese Frage anzuschneiden,
nicht nur in Paris , sondern auch in London , Brüffel und Rom amtlich mitgeteilt
morden. Italien gehört offiziell ebenfalls zu den Besagungsmächten, obwohl mur theoretisch. Es unterhält in Koblenz einen Vertreter der Rheinlandkommission, dem 4 oder 5 italienische Sol daten zugeteilt sind. Müllers erster Borstoß hat also zum mindesten schon das eine Ergebnis erwirkt, daß eine allgemeine Aussprache über die Räumung zwischen den verantwortlichen Staatsmännern in den nächsten Tagen stattfinden wird. Das ist bisher noch nicht und noch nirgends der Fall gewesen. Es ist natürlich noch zu früh, um voraussagen zu können, ob diese Besprechungen zu einem fonfreten und unmittelbaren Erfolg führen werden. Von dem heutigen ersten Gespräch, das, wie beiderseitig betont wird, nur vorbereitenden Charakter haben fonnte, hat das niemand erwartet. Wesentlich Neues tonnten die Männer in ihrer ersten Unterhaltung einander faum sagen, aber gewiß haben sie zunächst den beiderseitigen Standpunkt in offizieller Form largelegt. Auch das ist notwendig und wichtig. Auf der einen Seite stehen alle die bekannten Gründe, aus denen Deutschland seinen moralischen Anspruch auf die Gesamträumung herleitet, auf der anderen Seite steht die französische Auffassung von den Gegenleistungen, die man in Paris für eine frühere Be endigung der Ottupation erhofft. Damit scheint und das ist wohl wesentlich
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Antlig verleihen mürbe: eine wesentliche Mobilisierung der deutschen Reparationsfchuld wäre nur mit der finanziellen Hilfe Ameritas durchzuführen. So bliebe immer noch die Möglichkeit, daß Deutschland
mit rein europäischer Finanzhilfe einen geringeren Teil seiner Schuld flüffig
mache, womit Frankreich auch schon gedient ſei. Dieser Gedanke dürfte in den nächsten Tagen eine wesentliche Rolle bei den Genfer Berhandlungen zwischen Deutschland und den Besagungsmächten Ipielen. Seine fofortige Ausführung ist allerdings hier nicht zu erwarten, dazu würden noch gründliche Verhandlungen zwischen den Finanzsachverständigen der verschiedenen Länder erforder lich sein.
Aber wenn auch ein definitives Ergebnis nicht sobald erreicht werden kann, so hätte diese Lösung immerhin den Vorteil, daß man nicht bis zum nächsten Frühjahr, d. h. bis zum Amtsantritt des neuen amerikanischen Präsidenten zu warten braucht, was bei einer direkten Zuziehung Amerifas zweifellos der Fall sein würde. Wie fich Deutschland zu solchen Vorschlägen verhalten würde, läßt sich im Augenblic nicht übersehen. Sicher ist, daß für Deutsch land eine
definitive Regelung der Reparationsfrage -zumal zu Beginn der Höchstleistungsperiode des Dames- Plansmindestens ebenso wichtig ist wie die Lösung des Besatzungsproblems. Von einer einseitigen deutschen Gegenleistung fönnte man erst dann sprechen, wenn durch solche Abmachungen nicht zugleich auch den deutschen Wirtschaftsintereffen gedient wäre.
Um Desterreichs Selbständigkeit neben Deutschland zu betonen.
Genf , 5. September. lleber die Wahl des österreichischen Bundeskanzlers Dr. Seipel zum Bizepräsidenten der Bollversammlung wird nachträglich bekannt, daß die Kandidatur von der französischen Abordnung aufgestellt morden war. Da die Delegierten der Kleinen Entente sich meist bedingungslos dem Borgehen der französischen Abordnung in der Boilversammlung anschließen, stimmten sie ebenfalls für Seipels Vizepräsidentschaft. Seipel erhielt nur knapp die Mehrheit der Stimmen: 24( geger: 38, die auf Müller und Breitscheid fielen).
Erff bei Briant
Erst bei Briand , dann bei Müller.
Der österreichische Bundeskanzler Dr. Seipel stattete mitt woch Reichskanzler Müller im Hotel Metropol einen Besuch ab, nachdem er am Dienstagabend eine längere Unterredung mit dem französischen Außenminister Briand gehabt hatte. Wie nach träglich verlautet, soll in dieser Unterredung auch die Anschlußfrage behandelt worden sein. Briand foll hierbei die Besorgnis zum Aus brud gebracht haben, die in der französischen Oeffentlichkeit aus Anlaß der Schubert- Feier und der Anschlußpropaganda Platz gegriffen habe.
Zerfall des Bölferbundsamtes. Es wird zu einer Nebenstelle des auswärtigen Amtes. London , 5. September.
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Die Justiz dem Reich!
Zu den Berhandlungen des 35. Deutschen Juristentages. Von Amtsgerichtsrat Marx- Heidelberg.
Der Deutsche Juristentag, die umfassendste Standesorganisation der deutschen Juristen, die alle zwei Jahre ihre Mitglieder zu einer Tagung, diesmal nach Salzburg , zu sammenruft, hat in den letzten Jahren den erfreulichen Mut gezeigt, Probleme der deutschen Neugestaltung mit start allgemeinpolitischem Einschlag zur Diskussion zu stellen. Es sei nur daran erinnert, daß auf der Tagesordnung des Kölner Juristentags vom September 1926 die Frage stand, ob sich eine Abänderung der Bestimmungen über parlamentarische Untersuchungsausschüsse empfehle, um den ungestörten Berlauf des Strafverfahrens und die Unabhängigkeit des Richtertums sicherzustellen. Es gehörte zu den großen Ueberraschungen jener Tagung, daß die Frage mit einer starken Mehrheit verneint wurde. Kein Zweifel, daß gerade durch Gewicht seiner Entscheidungen doch noch besonders im Andieses Votum der Juristentag das in jedem Falle bedeutende sehen der politischen Parteien vergrößert hat. Es wird des halb von der weitesttragensten Wirkung sein, wie der Juristentag die ihm diesmal u. a. vorgelegte Frage beantworten wird: Machen die Intereffen der Rechtspflege es notwendig, das gesamte Justizwesen auf das Reich zu übertragen?
Der Juristentag hat sich zu der Frage von zwei Richtern Gutachten erstatten lassen. Das eine tommt zu einem ablehnenden Resultat, während das andere die Frage um so entschiedener bejaht. Das erstere, von einem Bremer Landgerichtsdirektor, oberflächlich begründet, verrät einen engen, durch Standesvorurteile reichlich beeinflußten Standpunkt und wird, das läßt sich voraussagen, feine erhebliche Bes achtung finden. Um so stärkeren Eindruck wird das zweite machen, einmal wegen der Person seines Verfassers, des deutschvolksparteilichen Reichstagsabgeordneten Landgerichtsdirektor Dr. Wunderlich, dann aber auch wegen der großzügigen Art, in der er das Thema behandelt und wegen seiner ausgezeichneten Argumente.
Die Frage, ob die gesamte deutsche Justiz in Reichsvermaltung genommen werden soll, die sogenannte Verreichlichung, beffer eigentlich die Verreichung der Justiz ist, wenn sie auch eine teilweise Abgabe der Justizhoheit der Länder an das Reich bedingt, im Grunde doch nur eine Angelegenheit der Verwaltungsreform. Bei dem Beharrungsvermögen der Bureaukratie sind schon Berwaltungsreformen in allen Ländern ein sehr schwieriges Unterfangen. Bei der Verreichung der deutschen Justiz fompliziert es sich noch außerordentlich dadurch, daß die Frage nach der Berreichung ausgesprochen oder unausgesprochen in der Regel verquickt wird mit dem Problem des deutschen Einheitsstaates. Die Gegner des Einheitsstaates sehen in der möglichst weitgehenden Wahrung der Justizhoheit der Länder eine der wichtigsten Grundlagen der von ihnen gewünschten und für notwendig erachteten Länderselbständigkeit. Tatsächlich haben wir ja auch die trübe Erfahrung machen müssen, daß aus der Eigenart in der Handhabung der Justizhoheit durch einzelne Länder dem Reiche in den lekten Jahren ernste Schwierigkeiten bereitet worden sind. Allerdings fönnte man gerade diesen Umstand zuvörderst als Beweismittel für die Richtigkeit der Forderung nach der Uebernahme des Juftizwesens auf das Reich anführen. In Wirklichkeit aber fönnen diese Gesichtspuntte allgemein politischer Art völlig beiseitegestellt wer den. Denn von ihnen aus tönnte man schließlich, welcher Partei man auch zugehört, im Interesse einer Einflußnahnie etwa auf die Rechtsprechung im Strafrecht über den Weg der Staatsanwaltschaft die Aufrechterhaltung der Länderjustizhoheit befürworten, da ja fast jede Barteirichtung in einer der 18 deutschen Landesjustizverwaltungen ihre besondere Auffassung zur Geltung zu bringen vermag. Es sind die Interessen der Rechtspflege selbst, die dringend eine einheitliche Leitung des gesamten deutschen Justizwesens erheischen.
,, Times" schreibt in einem Leitartikel zu zwei Artikeln des Profeffors Madariaga über das Völkerbundssekretariat, die in ihren Spalten erschienen find: Bisher waren die Mitglieder des Völker bundssekretariats international gesinnt. Leider waren in der legten Zeit in ziemlich erheblichen Maße Anzeichen dafür vorhanden, daß die vollkommene Unparteilichkeit des Sefre tariats hier und dort etwas angefreffen wird. Der Prozeß ist noch nicht weit vorgeschritten, man darf ihn aber nicht weiter gehen lassen. Genf ist jetzt der Mittelpunkt des großen Systems Der ehemalige Reichsjustizminister Dr. Eugen internationalen Zusammenwirtens. Der Erfolg dieser Tätigkeit Schiffer, einer der besten und erfahrensten deutschen hängt von der Leistungsfähigkeit des Bölkerbundssekretariats ab Juristen, hat in seinem in diesem Jahre erschienenen vielund diese wieder davon, wie weit sein Stab dem internatio genannten Buche ,, Die deutsche Justiz" in schlüffiger Weise nalen Bedanken die Treue hält. Times" erwähnt die Fest nachgewiesen, daß die Bertrauenstrise der Justiz, die so schwer auf dem deutschen Bolte lastet, nicht allein durch die persön= Nationalität und nicht die Fähigkeit als Bedingung liche Haltung der Richter bedingt ist, sondern daß zu einem für die Eignung zu einem Boften im Sekretariat zu machen. Die nicht geringen Teil ihre Ursachen in dem jezigen ProzeßverRegierungen begannen zu glauben, daß fie ein förmliches Recht fahren und dem Aufbau der Gerichtsbarkeit zu finden sind. darauf haben, Stellungen im Sekretariat für ihre Untertanen in Es ist kein Zweifel, daß man hier, gestützt auf die Erfahrun= Anspruch zu nehmen und sähen in manchen Fällen die Leute, die gen, die man bei den Arbeitsgerichten gemacht hat, die entdort Posten haben, als ihre Bertreter an. Selbstverständlich gegen allen Prophezeiungen aus den Kreisen der Richter werde der eigentliche Charakter des Sekretariats verändert, wenn und Rechtsanwälte zu dem Ausgangspunkt für die Ueberwichtige Bosten mit Diplomaten befeßt werden, die in ihrer windung der Justizkrise geworden sind, eine großzügige ReAmtstätigkeit in Genf nicht eine Gelegenheit sehen, der Welt form durchführen muß. Wunderlich trifft sich mit Schiffer gemeinschaft zu dienen, sondern die Interessen ihres eigenen und vielen anderen in der Auffaffung, daß die fünftige JuftizLandes zu fördern, um dann wieber in ihre eigentliche Laufbahn reform, von der die Gesundung unferes Rechtswesens, die zurückzukehren. Auch bei den Ernennungen für geringere Posten Heilung der zwischen Volk und Recht bestehenden Entfrembeobachte man Anzeichen für den sich ändernden Geist. Der glän- dung abhängt, gipfeln muß in einer Berringerung der Zahl zende Dienst, den das Sekretariat der Welt geleistet hai, ist noch der Richter und einer Zusammenlegung fleinster Gerichtsnicht beeinträchtigt, aber die Gefahr, daß dies gefchieht, ist groß. I bezirke. Eine solche Reform tann jedoch nur das Reich
die Sicherheitsfrage nunmehr vollständig ausgeschieden zu sein. Das ist für die leitenden Stellen der deutschen Außenpolitik zwar nicht neu denn gerade Poincaré ist es, der seit einigen Monaten die Auffassung vertritt, daß die militärische Frage im Zusammenhange mit der Rheinlandräumung teine Rolle spielen dürfe, indessen gewinnt dadurch das Problem an Klarheit, denn damit fallen alle Bersuche fort, die immer wieder, zum letztenmal von französischen und anderen Bolitikern und Journalisten, unternommen wurden, auch ein„ Locarno des Ostens" oder einen Verzicht aufstellung Madariagas, daß heute das Bestreben bestehe, die den Anschluß als Räumungsbedingung durchzudrücken. Es bleibt also der Kompler der finanziellen Gegen leistungen. Dieser Gedanke bildete den Kern des berühmten Gesprächs in Thoiry zwischen Briand und Stresemann vor zwei Jahren. Ob der Gedanke glücklich war oder nicht jedenfalls ist die deutsche Außenpolitit durch ihn in eine bestimmte Bahn gelenkt worden, aus der sie faum mehr herausgebracht werden kann. Eine solche Art der Lösung ist teine sozialistische Schon in Lupem burg haben sich die Sozialisten Frankreichs und Deutschlands gemeinsam dagegen gewandt, daß Deutschland die Befreiung seiner Bevölkerung am Rhein durch finanzielle Sugeständnisse erfaufen foll, zumal das Zustandekommen einer solchen finanziellen Bereinbarung nicht non Deutschland allein, sondern noch immer von Ameritas gutem Willen abhängig wäre. Nun wird in französischen Kreisen ein Gedaufe aufgeworfen, der diesem Problem ein neues