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Sonntag 9. September 1928
Unterhaltung unö �Vissen
Vellage des Vorwärts
Der Philosoph von Jasnaja Poljana  Zum 100. Geburtstage Tolstois.
Ih/s/Ol
Es ff! nicht ganz tcicht, zu dem Grafen Leo Tolstoi   das recht« Verhältnis zu gewinnen. Wenn man sein Leb«n und seine Einzel- persönlichkeit betrachtet, kann man seinem Bekennermut und seiner Opferbereitschaft die Achtung und Teilnahme nicht versagen. Etwas anderes ist es, seine sozialpolitische Bedeutung zu ermessen, ihn im großen gesellschaftlichen Zusammenhang zu beurteilen. Darm werden wir den Enthusiasmus, mit dem er von bürgerlicher Seite gepriesen wird, nicht mitmachen können. Bielmehr werden wir, unbeeinflußt von allem Zauber dieser merkwürdig starken Persönlichkeit, sozialkritisch verfahren und dann zu einem Urteil kommen, das von dem bürgerlichen beträchtlich abweicht. Es gibt Dichter, deren Lebensgeschichte man nicht zu kennen braucht, um ihre Werk« würdigen zu können. Zu diesen es sind nicht die schlechtesten gehört Tolstoi   nicht. Dazu sind seine Dichtungen viel zu sehr Bekenntnisse, in dem Sinne, wie Goethe seine Werte oerstanden wissen wollte im bürgerlich-individua­listischen Sinn«: Höchstes Glück der Erdenkinder Ist nur die Persönlichkeit. Aber der russische Dichter des 19. Jahrhunderts hat es besonders schwer, sein« Persönlichkeit durchzusetzen. Fast alle bedeutenden Schriftsteller gehören der Aoelskaste an selbst Dostojewski  , der Anwalt derErniedrig- ten und Beleidigten". Der Adel hebt einer- seits den Gutsbesitzer über die bäuerliche Masse hinaus, anderer. seits schnürt er ihn eng in sein« Traditionen und Konventionen ein. Die deutsche   Literatur- geschichte weiß von einem Dichter, der an dem Zwiespalt zwischen Standesvorurteilen und bürgerlichem Beruf zu­grunde gegangen ist: Heinrich von Kleist  . So wie bei den Kleists ist auch in der Familie Tolstoi   das Künstler- talent erblich gewesen. Aber hier wie dort hat es nicht zu Konflikten geführt, bis einmal einer seinen Berus ganz ernst nahm. Wir wissen von einem Major Ewald von Kleist  , der in der Armee Friedrichs II. gedient hat und bei Kolin   gesallen ist. Und wir hören von einem Bildhauer und einem Dichter Tolstoi  , der eine Trilogi« versaßt hat:Der Tod Iwans des Schrecklichen", offenbar«in sehr zahmes Drama, denn es wurde in Petersburg   öffentlich gespielt. Im Hauptberus waren diese bildhauernden und dichtenden Grafen   Beamte: Minister, Akademiedirektoren und dergleichen dekorative Angestellt«, die in jüngeren Iahren wohl auch ein klein wenig mit liberalen Ideen kokettierten. Aber innner nur so, daß es ihnen die Karriere nicht verdarb. Wilde Krieger und geschmeidige Diplomaten finden sich natürlich auch unter den Tolstois. Das Gut, auf dem Leo Tolstoi   geboren ist, liegt im Gouverne- ment Tula   und heißt Jasnaja Poljana  . Der junge Graf genießt eine sorgfältige Erziehung. Der russische   Adel sprach und schrieb am liebsten französisch: die Landessprache gast als plebejisch. Mit 15 Iahren bezog der Jung« die Universität Kasan und studiert« orientalisch« Sprachen und Jurisprudenz. Auf einer Reise durch den Kaukasus fand er am Soldatcnleben Gefallen und trat, 23 Jahre alt. als Fähnrich bei einem Artillerieregiment ein. Zwischen 1821 und 1825 schrieb er in einer gottverlassenen Garnison im Kaukasus   seine ersten Novellen:Die Kosaken  ",Der Gefangene im Kaukasus", und sehr bezeichnend für den Bekenner, der er werden sollte Anfänge einer S e l b st b i o- graphie:.Lindheit".Knabenalter"..Lünglingsjahre". Dieses Gornilonidyll fand ein jähes Ende durch den Krimkrieg, der im Jahre 1852 den jungen Offizier in das weltpolitische Ge- sckehen hineinschleuderte. Er setzt sich schriffftellerisch mit dem PhänomenKrieg" auseinander in seinem dreiteiligen Roman Sebostopol". Darin stecken schon die ersten Keime zu seinem gewaltigen pazifistischen WerkKrieg und Frieden  ", in dem er die Ereignisse von 1812 behondest hat. Was er bei der Be- lagerung von Sebastopol erlebt hat. genügte jedenfalls, um ihm alle militaristische Begeisterung gründlich auszutreiben: er nimmt seinen Abschied, um sich der Bewirtschaftung seines Gutes zu widmen. Zuvor versucht er es in der Großstadt und im Ausland. Er findet in Petersburg   überall offen« Türen: die gefeiertsten Schrift- steller wie Turgenjew  , Gontscharow  . Ostrowski suchen seine Freund- schafl. Aber reaktionär, wie er im Grunde seines Wesens ist, schreckt er vor dem Leben der Haupfftadt zurück Ebenso ergeht es ihm im Ausland«: aus der Schweiz   bringt er weiter nichts mit heim als eine gallenbistere Gesellschaftskritik,L u z.e r n". Er sucht Ruhe und Zufriedenheit aus dem Lande, unter seinen russischen Bauern. Er heiratet die Tochter eines Moskauer   Arztes deutscher Herkunft, eine Frau, die volles Derständni? hat für fein« geistigen Interessen. Er hat eine mehr als behagliche E?'ftenz, wird als Dichter anerkannt er hotte glücklich sein müssen in Jasnaja Poljana  . Aber er kann nicht vergessen, was er gesehen hat. Und was er jetzt sieht, ist erst recht trostlos. Zar Alexander II.   erlöst zwar eben um jene Zeit, in den sechziger Jahren, die Bauern von der Leib­eigenschaft. Aber es bleibt bei der schönen Geste. Der Staat tut nichts, um diese erbärmlichen Muschiks zu denkenden Menschen zu erziehen oder sie irgendwie vor der Ausbeutung durch die Groß- grundbesitzer zu schützen. In den Hungerjahren müssen sie die Strohdächer von ihren Hütten abdecken, um damit das Biel  » zu füttern. Der Landadel, übersästigt, gefühllos, moralisch versaust. hat für dieses schauerliche Elend kein Verständnis. In den Städten, goo der Ueberschuß der Landbevölkerung Ausbeutungsobjekt« abgibt
für die Bourgeoisie und ihre industriellen Unternehmungen, wird der Boden unterwühst von Geheimbünden, nihllistischen Ber- schwörungen, denen immer wieder Machthaber des zaristischen Schreckensregiments zum Opfer fallen. Es ist Krisenstimmung in Europa  . Drüben in Norwegen   steht der unerbittliche Henrik Ibsen   auf und hält Gerichtstag über seine eigene Mass«. Nicht mehr lange, und Emile Zola   wird in Frank- reich, Gerhart Hauptmann   in Deutschland   dasselbe tun. Dostojewski  bückt sich zu den Allerärmsten und Elendsten hinab und sucht bei ihnen das Menschentum, das er bei den Besitzenden nicht mehr findet. Kann da ein grundehrlicher Mensch wie Leo Tolstoi   untätig bleiben? Er gründet ein« Dorfschule und gibt ein« eigen« Zeitschrift .Lasnaja Poljona" heraus, die von seiner Erziehungsarbeit Rechen- schaft ablegt. Er beschließt, sein Leben umzukrempeln. Di« Menschen, meint er, müßten zur Natur zurück. Er kleidet sich wie ein Muschit und arbeitet wie sie. Er studiert die Evangelien und legt sie seinen Bauern als eine Art Idealkommunismus aus. Er schreibt sein« wuchtigen Anklageschriften gegen Kirche, Staat, Militarismus: Anna K a r e n i n a",Auferstehung".Macht der Finsternis  ". In derKreu tz e r s o n a te" wütet er wie in seiner Schrift:Was ist Kunst?" gegen die feinsten Blüten der
Das Haus Tolstois in Jasnaja Foljana menschlichen Kultur, gegen Kunst und Dichtung. Er ist von jenem echt russischen Fanotismus besessen, der vor nichts halt macht, alle Zugeständnisse von sich weist. Die Kirche hat ihn 1903 exkom­muniziert, der zaristische Staat dagegen hat ihn nicht anzutasten gewagt. Seine Anhängerschaft im In- und Auslande war zu groß geworden. Auch den letzten, schwersten Schritt hat er unternommen: er trennte sich von seiner Familie. Er floh heimlich in ein Kloster und ist, einsam und verlassen, im Jahre 1910 gestorben. Daß Leo Tolstoi   dem bequemen und gedankenlosen Leben seiner Standesgenossen entsagt und Mühe und Entbehrung auf sich ge- nommen hat vor allem: daß er ernsthost und mit Einsetzung seiner ganzen Persönlichkeit an der Verbesserung der Lebens- bedingungen seiner Mitmenschen gearbeitet hat, muß ihm hoch an» gerechnet werden. Aber freilich: aus seiner Haut kann keiner heraus. Er hat es wie ein unbelehrbarer Bauer angefangen. Er hat alte Parolen wieder ausgegriffen und meinte damit die Menschen aufs Neue erlösen zu können: dos Wort Rousseaus von der Rück- kehr zu der Natur aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, oder gar den urchristlichen Utopismus, der bald sein zweitausendftes Jubiläum feiert. Er übersah ganz, daß die Menschheit ökonomisch stufenweise fortschreitet nach jenem Entwicklungsgesetz, das Karl Marx   auf- gezeigt hat. Und daß es deswegen unsinnig ist, die Menschheit künstlich zurückzuschrauben. Das ist ein ebenso unfruchtbares und undurchführbares Programm wie das der Anarchisten, die in Tolstois Tagen mit Bombenattentaten in den Städten wüteten. In einer ganz merkwürdigen und sehr lehrreichen Weise berührt sich in Tolstoi  , dem Bauerngrafen, dos überrevolutionäre mit dem reaktionären Element. Hermann Hieber.
Gorki über Tolstoi  . Er hat wunderbare Hände nicht eigentlich schön, sondern von dicken Adernknoten durchzogen, und doch voller Ausdruck und Schöpferkraft. Leonardo da Vinci   muß solche Hände gehabt haben. Mit Händen wie diese kann man alles machen. Manchmal beim Sprechen bewegt er die Finger, schließt sie langsam zur Faust, und dann öffnet er sie plötzlich und sagt ein gutes, vollwichtiges Wort. Er ist wie ein Gott   kein Zebaoth oder Olympier, sondern die Art russischer Gott, derauf einem Ahornthron unter einer goldenen Linde sitzt", nickst sehr majestätisch, doch vielleicht listiger als all« die anderen Götter. Einmal sah ich ihn, wie ihn vielleicht keiner gesehen hat. Ich ging gerade die Küste entlang zu ihm nach Gaspra, und hinter Iussupows Anwesen sah ich am Ufer zwischen den Steinen seine hagere, eckige Gestalt in einem grauen, zerknitterten, abgetragenen Rock und einem zerknüllten Hut. Cr saß, den Kops auf die Hände gelegt, der Wind blies ihm die Silberhaare seines Bartes durch die Finger; er sah in die Ferne auf dos Meer hinaus, und die kleinen, grünlichen Wellen rollten sich gehorsam zu seinen Füßen und streichellen sie, als wollten sie dem alten Magier etwas von sich erzählen. Es war ein sonniger, wolkiger Tag, und die Schatten der Wolken glitten über die Steine, und mit den Steinen erschien der alt« Mann bald hell, bald dunkel. Die Steine waren groß, von Rissen gespalten und mit scharf riechendem Seegras bedeckt: die Flut war am Tag zuvor hochgegangen. Er auch erschien mir wie ein uralter, lebendig gewordener Stein, der Anfang und Aus»
gang aller Dinge weiß und bedenkt, wann und wie das Ende der Steine, der Gräser der Erde, der Wasser des Meeres, des ganzen Weltalls vom Sandkorn bis zur Sonne sein wird. Und das Meer ist ein Teil seiner Seele, und alles um ihn kommt von ihm, aus ihm. In der sinnenden Regungslosigkeit des alten Mannes empfand ich etwas Schicksoloolles, Magisches, etwas, das in die Dunkelheit unter ihm taucht« und wie ein Schemwerfer in die blaue Leere über der Erde tastete als wäre er es, sein konzentrierter Will«, was die Wellen zu ihm heranzöge und abstieße, was die Verwand- lungen von Wolken und Schotten regierte, was die Steine zum Leben weckte. Plötzlich, in einem Augenblick der Entrücktheit, fühlt« ich, es ist möglich, er wird aufstehen, die Hand heben, und das Meer wird fest und gläsern werden, die Steine werden sich bewegen und rufen, alles um ihn wird lebendig werden, eine Stimme erhalten und jedes in seiner Sprache von sich, von ihm, gegen ihn sprechen. Ich kann es nicht in Worten ausdrücken, was ich in jenem Augenblick mehr fühlte als dachte: in meinen Herzen war Jubel und Furcht, und dann schmolz alles in einem einzigen seligen Gefühl:Ich bin nicht verwaist auf Erden, solange dieser Mann auf ihr lebt." Dann ging ich auf Zehenspitzen fort, damit der Sand nicht unter meinen Füßen knirschen und sein« Gedanken stören möge. Am häufigsten kam er auf die Sprache Dostojewskis zu reden. Er schrieb häßlich und sogar absichtlich un» schön ich bin über­zeugt, absichtlich aus Koketterie. Er über. trieb: einIdiot" heißt es bei ihm: ,Ln der frechen Zudringlichkeit und im Asfichen der Bekannffchast." Ich bin überzeugt, daß er das Wort affichieren ab- sichtlich entstellt hat, weil es ein fremdes, «in westliches ist. Aber es finden sich bei ihm auch unverzeihliche Schnitzer: der Idiot sagt:Der Esel ist ein guter und nützlicher Mensch", und niemand Lachen oder irgendeine
Tolstois Schreibtisch und Bett
lacht, obschon diese Wort« unvermeidlich Bemerkung hätte hervorrufen müssen. Er sagt das in Gegenwart der drei Schwestern, die ihn doch gern verlachten. Besonders Agloja. Dieses Buch wird für schlecht gehalten: aber an ihm ist vor allem schlecht, daß der Fürst Myschkin ein Epileptiker ist. Wäre er gesund, dann würden uns sein« Herzenseinsalt, seine Reinheit sehr rühren. Aber um ihn als Gesunden zu gestalten, war Dosto  - jewski nicht mutig genug. Und er liebte auch gesunde Menschen nicht. Er war überzeugt, daß. weil er selbst krank war, die ganze Welt ebenfalls krank sei.., Vom Kommiß. Der verwundete Marschall. Der englische   Marschall French   wurde 1912 an der Front ver- wundet. Als guter Engländer zeigte er eine meisterhafte Selbst- beherrschung und ließ sich seine Schmerzen nicht im geringsten an- merken. Eine Woche lang hantierten die Aerzte an der Wunde im Oberschenkel herum, sondierten und desinfizierten, bis ihm schließlich die Geduld riß: Was suchen Sie denn eigentlich in meinem Bein herum? fragte er. Die Kugel," antworteten die Aerzte. Die Kugel!" brüllte der alle Herr.Donnerwetter, das hätten Sie mir wirtlich früher sogen können. Die habe ich doch in die Tasche gesteckt." OerKavalier". Ein Offizier wird vergebens von einer Dame im Theater ge« beten, etwas beiseite zu rücken, damst sie besser sehen könne. Auf abermalige Bitte sährt er herum:Sehen Sie nicht, daß ich Offizier bin?" Ach ja," sagt die Dam«,Gemeiner können Sie nicht sein." Vom Geenj. Als der Genich noch König war, schritt er im Kriege einmal die Front eines Regiments ab, wobei er einen Wann nach dessen Kriegs- erlebnissen fragte und die haarsträubendsten Heldentaten zu hören bekam. Aber der Mann ist ohne Dekoration! Erstaunt fragt der König den Regimentskommandeur, warum ein solcher Held ohne
Auszeichnung geblieben sei. Der betreffende Oberst, in höchster rlegenheit, lügt darauf los:Majestät, der Mann säuft!" Darauf : König:Nu, dann gäb'n mir'm doch die Friedrich-August- !N.I->
ve der Medaille!
Gesäß Wen!"
Die Gemahlin eines Regimentskommandeurs, die ihrem Gatten wesenttich dazu geholfen Hot, den Helm mit dem Zylinder zu ver» tauschen, leistete sich unter anderen erzieherischen Ansprachen an die Damen  ihres Regiments" auch folgende: Meine Damen! Es muß hier einmal-zur Sprache gebracht werden. Ich vermisse sehr ost bei Ihnen die Rücksicht, die ich zu verlangen habe. Ich bin nun einmal die vornehmste und beanspruche als Ihre Kommandcuse den mir gebührenden Respekt. Ich gehe nicht so well, zu verlangen, daß Sie bei meinem Erscheinen aufstehen, aber zum mindesten haben Sie das Gefäß zu lüften." Oer Fahneneid. Unser Gorichtsosfizier bespricht mit den Rekruten den Fahnen« eid  ...und die Schlußformel lautet: So wahr mir Gott helfe. Amen. Auf das Kommando(!I)Amen  " werden die erhobeneu Hände kurz und willtärisch heruntergenommeni", j