Morgenausgabe
Nr. 449
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Sonnabend 22. September 1928
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Wohnungsbau oder Bluff?
Die Kommunisten in der Klemme.- Papiermillionen.
Der unfinnige Beschluß der in die Klemme geratenen Kommu-| die Sozialdemokratie oder irgendeiner ihrer Bertreter Im nisten auf Stimmenthaltung bei der Abstimmung über den Berliner Wohnungsbau wird gestern parteioffiziell ganz neu motiviert:„ Die KPD. denkt nicht daran, der Sozialdemokratie die Verantwortung für ihre standalöse Wohnungsbaupolitik abzu nehmen."
Angesichts dieses zur Schau getragenen Stolzes auf die eigene Feigheit halten wir uns für verpflichtet, die vorangegangenen
Kämpfe im Fraktionszimmer der Kommunisten ein ganz klein wenig zu beleuchten. Es hatte nämlich gar nicht viel gefehlt, daß die KPD . die nunmehr als fluchwürdig und entlarvungsbedürftig angeprangerte Politit der Sozialdemokratie
mitgemacht hätte.
Alle Mitglieder der kommunistischen Fraktion, denen man noch einen lehten Rest von Einsicht zuzutrauen gewöhnt ist, haben in der Fraktionssihung für Annahme der Vorlage geftimmt. Sie blieben mit 14 gegen 17 Stimmen in der Minderheit, weil einige Fraktionsmitglieder fehlten. Also lumpige drei Stimemn haben gefehlt und die KPD. hätte den ganzen fluchwürdigen„ Arbeiterverrat" der Sozialdemokratie mitgemacht!
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Bei dieser Sachlage sollte ihre Presse das Mundwert ein bißchen meniger voll nehmen. Die Blamage bleibt ja doch! Und fein Ge freisch wird die denkende Arbeiterschaft Berlins darüber hinweg täuschen, daß die KPD. nur unter dem Drud der öffentlichen Meinung zurüdgemichen ist. Die Abstimmung im Haushaltsausschuß beweist, daß die Kommunisten den Versuch wagen wollten, aus der Wohnungsnot ein parteipolitisches Geschäft zu machen. Das wäscht fein Regen wieder ab!
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Und nun die Wohnungslugussteuer", die Redner und Presse der KPD . aus dem Schrank geholt haben, um ihren halben Umfall und ihre ganze Feigheit zu verschleiern! Es ist bewußte Lüge, wenn mit dreister Stirn behauptet wird,
Auswärtiger Ausschuß am 3. Oktober.
Am 2. Oftober Ministerpräsidenten- Konferenz. Der Auswärtige Ausschuß wurde von seinem Borfizenden, Reichstagsabgeordneten Scheidemann , für Mittwoch, den 3. Oktober, vormittags 10 Uhr, einberufen.
Einen Tag vor der Sigung des Auswärtigen Ausschusses, am 2. Oftober, werden die Ministerpräsi= denten der Länder auf Einladung des Reichskanzlers
Roten Hause sei gegen eine Wohnungslugussteuer. Die Sozialdemokratie hat vielmehr von sich aus immer diese Steuer ange= regt und die Möglichkeit ihrer Einführung geprüft. Wenn eine solche Steuer mit einem Ertrag von 12 Millionen, von dem die Kommunisten jegt faseln, möglich wäre, so wäre die sozialdemo fratische Fraktion die erste, die ihre Einführung verlangen würde. Nicht an dem bösen Willen der Sozialdemokraten liegt es, daß eine solche Steuerquelle nicht ausgeschöpft werden fann, sondern an den geltenden gefeglichen Bestimmungen, die die Kommunen zu so viel Ausnahmen von der Regel der Besteuerung 3 win gen, daß an einen irgendwie nennenswerten Ertrag gar nicht zu denken ist. Ehe das Kommunalabgabengesetz nicht geändert ist, würde jede noch so ausgeflügelte Besteuerung überflüssigen Wohnraumes in Berlin lediglich auf dem Papier stehen. Das wiffen natürlich die Kommunisten genau so gut wie wir. Man braucht nur ein einziges Beispiel herauszugreifen, um die Zwed lofigkeit einer folchen Steuerordnung zu zeigen. Ein im Nebenberuf noch ehrenamtlich tätiger Beamter mit Frau und einem einzigen Rinde hat gefeßlichen Anspruch auf un besteuerte sechs Zimmer nebst Kammer, Küche usw.!
Die tommunistischen 12 Millionen aus der Wohnungslurussteuer" sind also nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Bluff, mit dem fie fich aus der ihnen unbequemen Affäre herausschwindeln möchten. Die Berliner Arbeiterschaft wird es ihnen aber nicht vergessen, daß
fie bei dem ersten rein städtischen Projekt für den Bau von zufählichen Wohnungen fich anfänglich mit den Deutschnationalen zur Ablehnung verbrüdert und dann sich zu dem unglaublichen „ Ausweg" der Stimmenthaltung durchgemaufert haben.
Sie werden bald Gelegenheit haben, sich weiterhin zur Frage der Milderung der Wohnungsnot zu äußern. Und wieder wie dies: mal werden es die Sozialdemokraten sein, die ihnen die Frage stellen!
Die Kette zum Tode.
Kriminalpsychologisches zum Jakubowski- Urteil. Von Regierungs- und Kriminalrat Dr. Kopp.
Im Fall Jatubomfti ist die Voruntersuchung gegen Friß und August Nogens, Karl Blöker und Baul Kreutzfeld sowie Frau Nogens abgeschlossen. Die Antlage lautet auf meineid, bei Frizz Nogens außer dem auf Mittäterschaft am Mord. Durch diese Tatsache wird der mecklenburgische Justizfall wieder einmal in den Kreis der Erörterungen gestellt, aus dem er so leicht nicht verschwinden wird. Die nachstehenden Darlegungen des bekannten Kriminelisten verdienen gerade jetzt besondere Beachtung.
Man mag über die sogenannte Emmingersche Strafa prozeßreform denten wie man will: ein Gutes hat sie gebracht und das tritt gerade im Fall Jakubowski deutich in die Erscheinung: Das Schwurgericht gibt jetzt eine schriftliche Begründung seines Urteils. Man weiß jetzt genau, auf Grund welcher Erwägungen das Gericht zur Berurteilung oder Freisprechung gekommen ist. Früher tappte man in dieser Beziehung im Dunkeln. Die Geschmorenen antworteten auf die an sie gestellten Fragen nur mit Ja" oder„ Nein". Niemand konnte wissen, welchen Zeugen fie Glauben geschenkt, welchen sie den Glauben versagt hatten, welchen Schlußfolgerungen des Staatsanwalts oder des Berteidigers fie gefolgt waren und welche sie abgelehnt hatten.
In der Sache Jakubowski liegt also das Urteil und feine Begründung vor, es ist öffentlich verkündet worden, und jeder Staatsbürger hat daher das Recht und derjenige Staatsa bürger, der zugleich Fachmann ist, hat, möchte ich meinen, die Pflicht, zu dem Urteil Stellung zu nehmen. Die äußere Möglichkeit dazu ist dadurch gegeben, daß das Urteil in der Schrift von Olden und Bornstein über den Fall Jakubowski ( Tagebuchverlag) wörtlich abgedruckt ist.
Wer das Urteil voreingenommen liest und von Berufs wegen in der Betrachtung triminalistischer Tatbestände erfahren ist, fällt von einem Erstaunen in das andere. Und zum Schluß muß er entsegt fonstatieren: dieses Urteil ist nichts weiter als das trampfhafte Be mühen, eine vorgefaßte Meinung mit Gründen zu belegen, die feine sind. Alle gegen den Angeklagten vorgebrachten Berdachtsmomente fönnen anders als mit seiner Täterschaft erklärt werden. Wohlgemerkt, es handelt sich nur um Verdachtsmomente; das Urteil selbst behauptet von keinem der angeführten Umstände, daß er geeignet sei, den Angeklagten zu überführen. Das Gegebildet habe, die in sich geschlossen sei. Nun gehöre ich nicht zu denen, die bei dem Wort Indizienbeweis" ein Schauer überläuft. Es gibt Indizienbeweise, die absolut überzeugend sind und nur von dem Angeklagten nicht anerkannt werden, der von seinem guten Recht des Leugnens oft bis zu seinem
flärt, daß durch Geſetz oder Verordnung für eine beſtimmte Zeit der artige Aufmarsche aller Selbstschutzverbände untersagt und diefe auf Ordnerdienst, sportliche und örtliche Veranstaltungen beschränkt werden; die einzige Bedingung der Sozialdemokratie war, daß eine solche Vorschrift auch schon auf den 7. Oktober Unwendung finde. Aber auch dieser Borschlag ist bisher nicht angenom- richt ist aber der Meinung, daß es eine Indizienfette men. Unter diesen Umständen wird die Partei alles aufbieten, um das rofe Wiener Neustadt durch Maffenbesuch auswärtiger Parteigenoffen vor jeglichem Faschistenterror zu schützen.
handlungen zusammentreten.
Der 7. Oftober.
Schuhbund bestellt Gonderzüge.
Man setzt einfach den Namen des Zimmererverbandes unter den Aufruf!
Mit welchen Mitteln die Kommunistische Partei arbeitet, um in der Deffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, als stän= den hinter ihrer Boltsentscheidstampagne auch bedeutende Gewerkschaften, zeigt folgender Borfall, über den uns Wien , 21. September. ( Eigenbericht.) der Vorstand des Zentralverbandes der 3 immerer aus Hamburg Wie die Dinge jetzt stehen, werden am 7. Oftober beide Parteien ihre Aufmärschein Wiener Neustadt haben. Bürger- berichtet. Aus verschiedenen Teilen Deutschlands erhielt der Bermeister Genosse Ofen bod hat in einem Brief vom niederösterreichi- bandsvorstand zuschriften, in denen Beschwerde geführt wird, daß Verband die kommunistische Demagogie in der Frage des Boltsgebungen verlangt. Nun scheitert, wie es scheint, jede Möglichkeit entscheides dadurch unterſtüße, daß der Verband den kommunistischen Aufruf unterzeichnet habe. Daß der Verbandsvorstand diesen einer Beilegung daran, daß, wie auch die bürgerlichen Blätter andeuten, Bundeskanzler Seipel absolut nichs tun will. In- Schwindel nicht unterſtüßt, wird wohl jedem einjichtigen Gefolgedeffen hat der Republikanische Schuhbund heute bei der Bundes- werkschafter klar sein. Untersuchungen, die der Verbandsvorstand angestellt hat, ergaben, daß tatsächlich in dem Aufruf zur bahndirektion 17 Sonderzüge nach Wiener Neustadt bestellt( was unterstützung des Bolfsentscheides und des Volksdie Heimwehr längst getan hat) und außerdem angekündigt, daß außer begehrens neben einigen anderen Organisationen der 3immerer den Mitgliedern des Schuhbundes 60 000 bis 80 000 Teilnehmer vorverband genannt wird. Der Zimmererverband erklärt, daß aussichtlich zu der Kundgebung fahren werden. Die Behauptung bürgerlicher Blätter, daß der Republikanische niemals feine Unterschrift unter irgendeinen kommunistischen Auf Schutzbund sich bereit erklärt habe, mit der Heimwehr zu verhandeln, ruf gegeben wurde. Die ganze Sache ist somit plumper fommunistischer Schwindel. ist aus der Luft gegriffen. Der Republikanische Schuhbund hat erflärt, daß er sich selbstverständlich mit der Heimwehr , diesen Hochverrätern an der Republit, nicht an einen Tisch sehe und abwarten müffe, wie sich die Dinge weiter entwideln.
Der Friedenswille der Sozialisten.
Wien , 21. September. ( Eigenbericht.) Bürgermeister Ofenböd- Wiener Neustadt hat in seinem Berbotsantrag die Regierung auf das nachdrücklichste darauf hingewiesen, welche Folgen aus dem gleichzeitigen nebeneinander der beiden Kundgebungen, auch ohne den Willen dazu, durch bloße 3ufälligkeit, entstehen können. Die Regierung hat trotz alledem das Berbot nicht ausgesprochen. Die Sozialdemokratische Partei ist noch meitergegangen, fie hat sich unter gewiffen Boraussetzungen dafür er
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Oberhetzer Grazynski. Polnische Arbeiter für nationalen Frieden.
Warschau , 21. September. ( Eigenbericht.) Der sozialistische Robotnit" veröffentlicht die Zuschrift ober schlesischer Arbeiter, in der gegen den Woiwoden Grazynsti wegen seiner Nationalitätenpolitit, die auf eine Berschärfung der Gegenfäge zwischen Deutschen und Polen hinausläuft, scharf proteftiert wird. Die Zufchrift wendet sich ferner gegen eine Rede Grazynffis, in welcher er die Aufständischen ersuchte, die künftigen Wahlen in Oberschlesien in die Hand zu nehmen, was einer Aufforderung zum Wahlterror gleichkommt. I
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Lebensende im Zuchthaus Gebrauch macht. Es kommt nicht darauf an, daß auf Grund von Indizien verurteilt worden ist, sondern auf welche Art von Indizien( Schlußfolgerungen) das Gericht sein Urteil aufgebaut hat. Die Indizien des Strelißer Schwurgerichts sehen aber so aus, daß fie sich nicht sehen lassen fönnen.
Und
Die ganze Beweisführung, wenn man sie so nennen tann, stützt sich auf die Feststellung", daß an dem Tode des fleinen Ewald Nogens niemand anders ein Interesse gehabt habe als Jakubowski, der die Baterschaft des Kindes anerkannt hatte und deshalb Alimente bezahlen mußte. Also ein Berfahren nach der uralten Kriminalistenregel„, cui bono?"( wem zum Mugen?). Daß dieser Gesichtspunkt nie vergessen werden darf, ist selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich ist es aber, daß er doch nicht der einzige iſt, unter dem ein Kriminalfall betrachtet werden muß. wer hat, was Berbrechen wider das Leben betrifft, noch nicht von einem Lustmord gehört? Nun hat zwar das Gericht diese Möglichkeit nicht außer acht gelassen, hat sie aber ausgeschieden mit einer Begründung, die einen groben Irrtum über den Charakter des Luftmordes enthüllt. Die Richter meinen nämlich und bringen es deutlich zum Ausdruck, daß an der Leiche des Opfers eines Lustmordes Verlegungen vorhanden sein müßten, die auf ein Sittlichkeitsverbrechen schließen lassen". Offenbar wollen sie damit sagen, daß nur dann diese Verbrechensart angenommen werden fönne, wenn an der Leiche Einwirkungen auf die Geschlechtsteile erfennbar find. Das ist absolut falsch. Es fann an einer Unzahl von Fällen nachgewiesen werden, daß ein Lustmörder genau wie bei dem fleinen Mogens fich auf die Erdrosselung feines Opfers beschränkt und dessen Geschlechtsteile ganz un versehrt gelassen hat.
Aber es brauchte natürlich fein Luftmord vorzuliegen. Ebenso nahe lag die Annahme, daß es sich um die Tat eines Irrfinnigen handelt. War ein Geiftestranter im Dorfe? Ja, sogar in der Familie, bei der das unglückliche Kind untergebracht war: Hannes Nogens. Ueber diesen inzwischen Berstorbenen liegt ein Gutachten des bekannten Psychiaters