Ttr. 457* 45. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Oonnerstag. 27. GepkemSer 192»
Die geheimnisvolle Werbeschrist. Gingehende Erörterungen im Prozeß Bergmann- Iacoby.
IVr gestrige ganze Verbondlungstog war ousgesulll mit der Vernehmung Bergmanns über das geradezu geheimnisvolle Werbe- fchreibsn der Münchsner Flliole— geheimnisvoll, weil es niemand nerfoßt haben will— in dem dos Lombardhaus als staatlich kon- zcsstoniert und behördlich kontrolliert bezeichnet wird. Au diesem Punkte meldete sich der Angeklagte O h n st c i n, der damals Fjlialleiter in Breslau mar und erklärte: Ich hatte von Herrn Bergmann den Auftrag, ein neues werbe- schreiben auszuarbeiten. Das verlesene Schreiben entspricht einem Entwurf von mir. nach den Angaben, die ich aus Berlin , insbesondere von Bergmann und Wustrow erhalten hotte. Den Entwurf hatte ich noch Berlin ge- schickt und war nachher selbst dort. Er wurde auch für richtig be- funden. Vors.: Bon wem? O h n st e i n(ausweichend): Ich habe den Entwurf Wustrow übergeben. Landauer bekam dos Schreiben, damit er aus dieser Basis in München werben sollte. Vors.: hoben Sie auch mit Bergmann darüber gesprochen? Angekl. Ohn- st e i n: Noch einigen Wochen. Da mußten einige Sätze aus Veran- lassung von Staatsonwaltschostsrot Dr. Iacobiz. in dessen Gegen- wart dos Schreiben durchgesprochen wurde, Herausgelossen iverden. Angekl. Dr. I n c o b n: Ich habe mit dem Werbeschreiben nichts zu tun. R.-A. Dr. Frey: Entgegen den Behauptungen von Bergmann und Staatsanwalt Dr. Iacoby ist das Werbe- schreiben von drei bis vier Persvnen im Hause fabriziert worden. Auch Ohnstein hat hierüber nichf die Wahrheit gesagt. Ich bitte, Bergmann vorzuhalten, daß das Werbeschreiben nicht aus der Lust geflogen sein kann. Angekl. Bergmann: Es bestand immer ein Zirkular, aber es war noch nicht so ausgeschmückt. Die Werbe- schreiben hatten für die Geldgeber wenig Ge« wicht und gingen zum größten Teil an berufene Personen. Auch Staatsanwalt Dr. Iacoby sagte mir: lieber die Zirkulare machen Sie sich keine Sargen, die sind ja nur Neklome. Die ernsthosten Reflektanten werden ja doch die Unterlage nachprüfen. Angekk. Dr. I a c o b y: Ich bestreite entschieden, das gesagt zu hoben. Dann hätte ich doch nicht im Oktober meine Entrüstung aussprechen können, als mir das Zirkular zu Gestclst kam. Ich habe doch gerade darauf bestanden, daß die bedenklichen Punkte beseitigt werden. Frau Wustrow : Die Werbeschreiben waren seit INA Schema und imittfen mir diktiert. Bars. : Herr Bergmann, wer hat bei der Abfassung geholfen? Angekl. Bergmann: Es ist möglich, daß Rechtsonwall Jolenberg Rat erteilt hat, denn er war tag- lich im Geschäft. Es kann aber auch Rechtsanwalt Fritz Meyer gewesen sein, der jeden Nachmittag ins Bureau kam und dem die gesamte Post vorgelegt wurde. Als sich dann Bergmann weiter darauf berief, daß sich eine Reihe prominenter Persönlichkeiten aus Handel vnd In- dnftrie durch Einlagen an seinem Gefchästsunternehmea be- »eiligt hätten. ersucht« Rechtsanwalt Dr. fflee Bergmann. Namen zu nennen. Bergmann erklärte darauf, daß er nur wenige Namen im Kopfe Hobe. Unter den Geldgebern haben sich u. a. der General- direktor der Z u b a n- Zi g a re t t e n f a b ri k in München , Kommerzienrat Nägel, der..Generaldirektor der horch- Werke, Emmerich Friedman», Rittergutsbesitzer von Löwenfeld und der Inhaber einer andeven großen Zigaretten- fobrik befirnden. Oberstaatsanwalt Binder: Die Liste der Ein- leger liegt vor. Es ist aus den Nomen aber nicht zu ersehen, um was für Persönlichkeiten es sich handelt. Bergmann mag die Namen nennen. R.-A. Dr. Frey: Die Liste ist da: aber wer sind die Prominenten darunter? Oberstaatsanwalt Binder: Das weiß nur Herr Bergmann. Bors.: Zunächst soll uns Dr. Iacoby einmal angeben, welche prominenten Persönlichkeiten aus Handel und Industrie, die sich beteiligt hatten, ihm namhaft gemocht worden sind. Angekl. Dr. Iacoby: Es wurde ollgemein gesagt, daß sich prominente Persönlichkeiten der Wirtschaft beteiligt hätten.
Bors.: Was verstehen Sic unter prominenten Persönlichkeiten? Angekl.: Generaldirektoren von Akticngesell- schaften, Banken und großindustriellen Unter- n e h m» n g e n. Vors.: hat Bergmann Ihnen gesagt, daß sich Kommerzienrat Nagel beteiligt habe? Angekl. Dr. Iacoby: Erst später: Bors.: Sie können also prominenle Geschäftsleute nicht nennen. Angekl. Dr. Iacoby: Ich bin doch nicht Herr Bergmann, der ein Lombardgeschäft Hot. Vor f.: Ihre Anwälte haben ober gesagt, daß Sie an die Bonität glauben mußten, weil sich auch prominente Persönlichkeiten beteiligt hätten, da sie keine Bedenken gehabt haben. Herr Bergmann, haben Sie Staotsonwaltschaftsrat Dr. Iacoby, als er mit Ihnen in Verbindung trat, gesogt: Bei mir arbeitet auch dos Kapital prominenter Per- sönlichkeiten aus Handel und Industrie? Angekl. Bergmann: Doniber ist gar nicht gesprochen worden.(Große Bewegung.) Vors.: hoben Sie ihm gesogt: Bei mir hat Z u b a n eingelegt? Angekl. Bergmann: Der ist erst später hinzugekommen, als ich längst mit Dr. Iacoby in Verbindung stand. R.-A. Dr. Paul L e v i: Die Nennung der Persönlichkeiten ist auch im Interesse Bergmanns . Beim Lesen der Anklage hat man den Eindruck, daß das Unternehmen von Anfang an Schwindel war. Wenn sich aber so viele und nette Leute beteiligt haben sollten, dann ergibt sich, daß der Grundaufbau und die Methoden des Geschäfts kauf- männisch waren. Vors.(unterbrechend): Herr Rechtsanwalt, das ist Plädoyer und eine Einwirkung aus das Gericht vor Schluß der Beweisaufnahme.— Nach der Mittagspaus« stellte Rechts- anmalt Dr. Aron den Antrag, eine Reihe prominenter Persönlichkeiten zu laden, die mit Bergmann Geschäfte gemacht und Zinsen er- halten hoben, teils auch Provisionen, und die über ihn glänzende Auskünfte erteilten. In der Zeugenliste befanden sich Gras Schwerin -Löwitz, Rittergutsbesitzer Dr. Viktor L ö w e u- seld-höhner. Major v. hindenburg in München , die In- hober des Bankhauses G i l d c m e i st e r u. Co. in Berlin , Graf A r c o in München , Pfarrer h o n f f. Major P o t e n und Rechts- anwalt Dr. Fritz Meyer. Angekl. Bergmann: Auch Graf v. Henckell-Donnersmarck hatte sich bereit erklärt, in Aus- nahmefällen Referenzen zu erteilen. Gegenüber der Darstellung Bergmanns , daß das vielbesprochene Werbeschreiben vom September, in dem die nachgewiesenermaßen unwahren unge- heuerlichen Behauptungen enthalten sind, eigenmächtig von Wustrow verfaßt sei, behauptete letzterer, daß im Gegenteil Bergmann der Urheber sei. Bergmann habe sehr häufig die Filialen bereist und die Werbeschreiben besprochen. Alle Eni- würfe wurden Bergmann vorgelegt. Angekl. Berg- mann: Das ganze übrige Personal wird anders aussagen. Ge- legentlich habe ich einmal einen Einblick genommen, aber dieses Werbeschreiben ist mir erst durch einen Kunden, den Pfarrer Hanfs vorgelegt worden. Amtsgerichtsrat Wartenberger: In dem letzten Werbeschreiben vom Januar d. I. berufen Sie sich auf die Referenzen hoch st er Iustizbeamter. Nennen Sie uns dies einmal. Angekl. Bergmann: Da war Geh. Rat Senne- w a l d vom Reichspatentamt und Senatspräsident W i e b e beim Kammergericht. Schließlich hatten wir auch noch einen Amtmann i M: R« i chs.h u sgl« ich s g m t Myd einen Geh. Oberregie- rungsrot Rudolfs in Breslau ..Ich will nur zeigen, daß ich mir dies« Angaben nicht aus dem Äermel geschüttelt habe. Ich gebe zu, daß die Werbeschreiben. reklamehaft gehalten waren und daß ich daran mitgearbeitet oder manches geduldet habe. Im großen und ganzen entsprachen die Angaben über die pro- mlnenten Persönlichkeiten den Tatsachen. wenn sie auch von uns reklamehast aufgebauscht wurden. Fast olle Kunden, die Geld angelegt hatten, wollten bald Provisionen ver- dienen und brachten olle ihre Bekannten heran. Der Schlimmste aber von allen war Rechtsanwalt Dr. Fritz Meyer. Vors.: Die Anklage wirft Ihnen auch vor, daß Sie den Anschein
zu erwecken suchten, daß die Anlagen ganz sicher seien, weil Sie die Behauptung aufstellten, die Bücher wurden behördlich kon- trolliert. Angekl. Bergmann: Das stimmt doch auch. Die Piandleihestreise prüfte sie wöchentlich zweimal nach gestohlenen Waren. Stürmische Heiterkeit löste die Feststellung aus der Anklage aus: Wenn ein Kunde Bedenken hotte, lächelte Bergmann mit- leidig und erklärte, daß bereits hundcrtiausendc mündelsichere Gelder angelegt seien. R.-A. Dr. Frey: Das ist beinahe richtig, Bergmann hätte nur statt„mündelsichcr"„kindcrsicher" sagen sollen. Graf Schwerin hat 400000 Mark, das Geld seiner Kinder, angelegt. Er brachte auch das Geld seiner Schwester, der Gräfin Perponcher, 100 000 Mark, und ließ sich dafür auch für die Kindergelder Provisionen geben. Zuerst erhielt er fünf Prozent, später vier Prozent monatlich. Gras Schwerin hat sein ganzes Geld als Zinsen herausbekommen und noch 100 000?N. darüber. Vors.: Herr Bergmann, hatten Sie großen Waldbesitz und eine große Villa, wie den Kunden auch vor'erzöhlt wurde? Angekl.: Ich hatte«in einfaches Landhaus mit vier Morgen Land bei Raven- steiner Mühle in der Nähe von Friedrichshagen R.-A. Dr. F e b l o- w i c z: Bergmann hat dieses Grundstück übrigens freiwillig in die Masse gegeben, obwohl die lleberschreibung�schon von 192ö datierlc. Bors.: Einer Witwe Wendeborn haben Sie„beruhigend gesagt". Sic sind die letzte, die bei mir Geld verliert. Insofern war da? richtig, denn es haben noch mehr Geld verloren.(In die ollgemeine Heiterkeit muß auch Bergmann einstimmen.) Ebenso entsesselte es allgemeine Heiterkeit im Saale, als dem Angeklagten die Aussage einer Kundin vorgeholten wurde. Danach hotte Bergmann ihr als Auskunstsperson einen Staatsanwaltschastsrnt genannt. Die Zeugin hotte den Namen nicht mehr in Erinnerung, aber h-nzn- gefügt, dieser Herr sollt« in— Moabit wohnen. Weder Bergmann noch die anderen Angeklagten wollen derartige Auskünfte erteilt hoben. Die Verhandlung wurde dann auf Freitag früh vertag!. Donnerstag bleibt sitzungsfrei.
Oer große Kriegsanleiheschwindel. Auch für mehr als lOV Millionen Kommunalanleihen. Die Kriegsanlei hebelrügereien nehmen nicht nur täglich, sondern nahezu stündlich einen immer größeren Umfang an. Die Ermittlungen der Stoatsanwattschost erstrecken sich jetzt owch aus Beamte der Reichsbank, und die Rlöglichkeit ist nicht von der Hand zu weisen, daß sich Angestellte oder Beamte dieses angesehenen Bankinstituts strafbare Handlungen zu- schulden kommen ließen. Die Untersuchungen des Landgerichtsrats B r üchl führten jetzt schon zu dem niederdrückenden Ergebnis, daß der holländische Bau- kier Horn für mehr als 100 Millionen Mark Kammunalantsihen zur Anmeldung brachte und zum größten Teil dafür auch bereits die Ablösungsstücke erhielt. Allein über zwei französische Gesellschch- ten hat dieser Holländer 46 Millionen Mark„Altbesitz" angemeldet. Zahlreich« westdeutsche Städte wevden davon aufs schwerste betroffen. Am Mittwoch ließ der Untersuchungsrichter den früheren stellvertretenden Direktor des Delphi-Palastes K l o s e l verhoften. als er sich gerade zu einer schleunigen Abreise aus Deutschland rüstete. Dazu fühlte er sich gedrängt, als die Ziisammenhär.ge cher Tätigkeit semes Chefs Joseph Schneid mit dem in Wie» hei�its verhafteten Schwindler B« la Graß aufgedeckt wurden. Joseph Schneid selbst, der Generaldirektor des Delphipalastes, ftt flüchtig. Dieser Mann hat im übrigen eine recht interessante Naturgeschichte hinter sich. Schneid kam im Inflationsjahre 1923 nach Berlin , wo er sich mit einem vormaligen Wiener Frauenar.zt als Hypotheken- und Häusermakler etabliert«. Schneid gab sich zunächst als ehemaliger Kavallerieoffizier aus, nannte sich ab t später, als sein Weizen blühte� Architekt. In V/3 Jabren hatte er so viel Geld„verdient", daß er nicht mir mehrsacher Häuserbesitzer in Berlin war, sondern sich auch m einem Badeort eine Villa kaufte.
?!
Der Fall Vareler. Von Tristan Vernarb. (Einzig berechtigte Tlebersetznng von Ol. Colttv.)
Bald stand ich vor dem Gitter, das einem kleinen, weißen, viereckigen Häuschen gegenüberlag. In dem Vorgarten war ein Teich ohne Wasser und eine Glaskugel auf einem Drei- fuß. Um diese Schönheitsfehler zu entschuldigen, muß ich erklären, daß Frau Chiron nicht in ihrem Haus wohnte, sondern bei ihren Schwiegereltern, und daß sie alio keine Schuld an der Glaskugel hatte. Vor einigen Sträuchern stand eine Atalante aus schmutzigem Gips, in einem ewigen Lauf begriffen. Ich ging die Freitreppe herauf und kam an eine Glastür, die mir die älteste Bedienungsfrau Frank- reichs öffnete. Ihr von einer Haube eingerahmtes Gesicht zog sich zusehends immer mehr zusammen. Die Frau führte mich in einen dunklen Salon, wo alles. Klovier, Gessel und ein? Uhr von Bezügen bedeckt waren. Es schien, als ob ein unsichtbares Löschhütchen auf diesem Raum lag. Ich setzte mich auf ein Kanapee, unter dessen weißem Bezug sich kleine Kampher. oder Naphthalinsäcken blähten. Im ganzen Zimmer war ich allein, von keiner schützenden hülle bedeckt. Es schien mir. daß ich diese Stille profanierte, und da ich nun zwischen diese eingeschlofenen Dinge eingedrungen war. bestand kein Grund, weshalb ich nicht ebenfalls einschlief. Räch und nach fühlte ich, wie ich mit diesem eingeschlummerten Mobiliar verschmolz, und überrascht fuhr ich auf, als die Tür knarrte und das Licht hell in diese Stätte des Schlummers hineinströmte. „Ach! Sie sind ja hier vollständig im Dunkeln. Herr Ferrat. Ich begreife Em�rancie nicht, daß sie Sie so sitzen läßt. Weshalb hat sie nicht die Fenster aufgemacht?" Und ganz ohne Respekt für den Schlummer der Sessel schob Frau Chiron die Möbel beiseite, die ihr den Weg versperrten und ging ans Fenster. Mit einer kräftigen Be- w'guna triumphierte sie über den bösen Willen des Fensters und riß die widerspenstigen, knarrenden Jalousien hoch. Dani drehte sie sich um. Eine blonde, kleine und zarte Frau mit schönen, grauen, sanften Augen und blitzenden Zähnen stand vor mir. Sie setzte sich mir gegenüber, auf chrem Gesicht lag ein Ernst, der sie um so besser kleidete, als man wohl merkte, daß es nicht ibr gewohnter Ausdruck war. . Ist es nicht entsetzlich?" rief sie...„Ich weiß gar nicht, was ich denken soll... Was ist eigentlich geschehen?"
Ich berichtete ihr von meinem Besuch in Toul und wie ich die Borgänge, die sie jetzt in den Zeitungen las, erfahren hatte. Weitschweifig erzählle sie mir ihren ganzen Kummer, wie sie außer sich über das Benehmen ihrer Familie sei, di� mit geheuchelter Teilnahme innerlich frohlockte. Dieselbe Schadenfreude, wie ich sie in der Kaserne gespürt hatte, umgab sie auch hier, und es war für uns ein großer Trost, beisammen zu sein und unsere freundschaftlichen Empfin- düngen für den armen Larcier auszutauschen. Wir hatten denselben Gedanken gehabt: wohl war man gezwungen, sich den belastenden Beweisen, die das Gericht gesammelt hatte, zu beugen, aber es war uns unmöglich, zu glauben, daß Larcier ein Verbrecher war. Sie war nicht wie ich auf die Idee gekommen, daß ein Unfall vorliegen könne, sie war noch zu verwirrt, um die Sachlage klar zu übersehen. Als ich ihr meine Vermutung mitteilte, fiel ihr ein Stein vom herzen. Auch sie wollte Larcier gern wiedersehen, mit ihm sprechen und sich von ihm erzählen lassen, wie sich alles abgespielt hatte. Was uns beunruhigte, war, daß er uns nicht geschrieben hatte, aber er wollte sich jedenfalls den Nachforschungen der Polizei entziehen, und es wäre gefährlich, uns zu benachrichtigen. Ich sagte zu Frau Chäron. daß ich mich auf die Suche nach meinem Kameraden begeben wollte und zu diesem Zwecke Urlaub erhalten hatte. Sie dankte mir sehr herzlich, sie würde in, Kreise ihrer Familie unerträgliche Tage verbringen... Sie beneidete mich, daß ich tätig sein durfte und hätte sich mir gern an- geschlossen, aber wie sollte sie das machen? „Könnten wir nicht," sagte ich,„irgendeine Reise zu einer von Ihren Freundinnen erfinden, und Sie treffen mich, damit wir uns zusammen auf die Suche begeben?" Sie überlegte einige Augenblicke und schüttefte leicht den Kopf... Es war schwerlich möglich... Wohl hatte sie eine Freundin, die in Lille wohnte, und sie konnte vor- geben, diese einige Tage zu besuchen... Ich drang in sie, die Idee zur Ausführung zu bringen. War diese Freundin ihr wirklich ergeben, so konnte sie ihr alles ruhig erzählen. Diese Dame würde es gern übernehmen, alle Briefe, die sie ihr nach Lille schickte, an die Familie zu senden, und unter- dessen konnten wir beide unsere Nachforschungen anstellen und die Spur des entflohenen Freundes suchen. Ich hatte sofort bemerkt, daß Frau Chiron eine schüchterne und sehr fügsame Natur war. Sie stand unter dem Einfluß ihrer Familie, aber wurde sie von anderer Seite beeinflußt, so ließ sie sich eben vc«
dieser anderen Seite leiten. Ich bin für mich selber nicht sehr energisch, aber ich flehte sie an, mit ihrer Familie zu sprechen. Sie wollte es erst abends tun. aber die Zeit drängte. Ich veranlaßte sie, sofort zu den Ihren zu gehen und zu sagen, weshalb ich gekommen sei. Sie brauchten nicht zu wissen, daß ich Larciers Freund war. Sie sollte erzählen, ich sei mit Frau Tubaud in Lille bekannt, die mich beauftragt hatte, ihrer Freundin eine Einladung zu über- Mitteln und sie zu bitten, unverzüglich zu ihr zu kommen. Frau Tubaud hätte durch mich sagen lasten, daß sich eine Heirat für Frau Ehäron böte und sie ihr so schnell wie möglich den Ehekandidaten vorstellen wollte. Wir wußten, daß dieser Grund stichhaltig sein würde, denn es lag der Familie sehr daran, daß sich Frau Chörau wieder ver- beiratete, und um so mehr, als dadurch das Gerücht einer bevorstehenden Verlobung mit dem unglücklichen Larcier erstickt würde. „Meinen Sie nicht, daß es richtig wäre, wenn Sie mit uns Mittag äßen?" fragte sie. Was für eine Unvorsichtigkeit! Man würde mich über Tubauds ausfragen... Ich käme in Gefahr. Dummheiten zu sagen... Es wäre ratsamer, daß ich sofort den Zug auf der nächsten Station nähme. Frau Chörau konnte den 3-Uhr-Zng benutzen, und wir würden uns unterwegs treffen. 5. Ich muhte mich immer wieder daran erinnern, daß ich eigentlich eine sehr traurige Episode meines Lebens durchmachte. damit ich mich nicht sorglos fühste, als ich auf der kleinen Station Herchis Blanche Chöron erwartete. Sie hatte ihre Verwandten zwei Stunden nach meiner Abreite verlosten. Endlich fuhr der Zug ein, und ich sah ihren Stroh- Hut, ihre blonden haare, ihr hübsches Gesicht am Fenster auftauchen. Ich stieg in ihr Abteil und drückte ihr die Hand. Es war, als ab wir uns schon lange kannten. Während der Fahrt nach Toul plauderten wir über alles mögllche. Wir sprachen über den kleinen Ort, in dem sie wohnte, über ihre Witwenschast, über ihr Leben als junges Mädchen. Zuerst hatten wir wegen des Kummers über den gemeinsamen Freund eine traurige Miene an- genommen. Aber nach und nach schwand diese Melancholie dahin. Jedoch als wir in Toul einfuhren, wurden wir wieder sehr ernst... Dort hatte sich das Drama abgespielt, und wir mußten mit unseren Rachforschungen beginnen. (Fortsetzung folgt.)