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Nr. 295.

Erscheint täglich außer Montags. Preis pränumerando: Biertel­jährlich 3,30 Mart, monatlich 1,10 Mt., wöchentlich 28 Pfg. fret in's Haus. Einzelne Nummer 5 Pfg. Sonntags- Nummer mit illuftr. Sonntags- Beilage Neue Welt" 10 Pfg. Post- Abonnement: 3,30 Mt. pro Quartal. Unter Kreuz­ band  : Deutschland   u. Desterreich­Ungarn 2 M., für das übrige Ausland 3 Mt. pr. Monat. Eingetr. in der Post Zeitungs Preisliste für 1895 unter Nr. 7128.

Vorwärts

12. Jahrg.

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Fernsprecher: Amt 1, Nr. 1508. Telegramm- Adresse: Sozialdemokrat Berlin  ".

Berliner   Bolksblatt.

Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands  .

Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2.

Das Wahlrecht

Mittwoch, den 18. Dezember 1895. Expedition: SW. 19, Beuth- Straße 3:

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tönnen." Und nicht bloß nicht hören, sondern mehr: gesammten neuesten Kurs Muster und Jocal geworden. nicht erfassen, nicht verstehen. Man wird sich erinnern, daß im vorigen Frühjahr das ist gegenwärtig die Achse, um die sich in Deutschland   das So erklärt es sich, daß Sisyphus auch ein Opfer amtliche Regierungsorgan Sachsens  , die Leipziger Zeitung", politische Leben dreht. Die Reaktion hat mit der Revolution der Hybris- unter den Machthabern sortwährend Nach- als Programm der Reaktian aufstellte: Abschaffung das gemein, daß sie nicht still stehen darf, mur daß sie statt: folger findet, die den Steinblock reaktionärer Utopie stöhnend des allgemeinen Wahlrechts- und ein immer vorwärts! immer rückwärts muß. Das ist den Berg hinaufwälzen, bis die Katastrophe cintritt und Linsengericht von Sozialreform, um den Arbeitern den Mund das Gesetz der Schwere, welches für die politische Welt hurtig mit Donnergepolter entrollet der tückische zu stopfen. ebenso gut gilt, wie für die physische. Die Revolution, die Marmor" Dieses sächsische Programm ist heute das Reichs= nicht vorschreitet ist verloren; die Reaktion, die nicht rück- und verwüstet das Narrenparadies, in das er hinein- programm der deutschen   Reaktion. Nie vorher hat sie schreitet, ist verloren. Und auf ihrem Rückmarsch ist die bricht. so rücksichtslos und cynisch sich zu dem geplanten Attentat Reaktion in Deutschland   jetzt an einem Puntt angelangt, auf das allgemeine Wahlrecht bekannt- sie glaubt keines wo sie Widerstand findet, wo sie in ihrem Vormarsch noch Feigenblattes mehr zu bedürfen. rückwärts aufgehalten wird. In Sachsen  , dem Lande der hellen" Dunkelmänner, wird schon Hand angelegt zum praktischen Anfang.

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Jeder Nachfolger bildet sich ein, seinen Vorgänger an Schlauheit zu übertreffen und den bösen Naturgefeßen schließlich doch ein Schnippchen zu schlagen.

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Dieses Hinderniß ist das Wahlrecht des Volts. Wer aber den Steinblock bergauf wälzen will, findet Die tapitalistischen Parteien haben längst begriffen, daß in seinem Weg einen einporragenden Fels, über den er den Das sächsische Landtags- Wahlrecht ist zwar weit davon die Thatsachen und Verhältnisse der Sozialdemokratie in die Block nicht wälzen kann. Er muß ihn unterhöhlen, aus- entfernt, allgemeines Wahlrecht zu seines hat einen Hände arbeiten, daß sie, die Stützen der sogenannten Ord- graben, in Trümmer schlagen sonst ist kein Weiter Zensus und schließt etwa zwei Drittel der Reichstags­nung, nicht fähig sind, den Kampf mit geistigen Waffen gegen kommen. Dieser Fels ist jetzt das allgemeine Wah I- Wähler aus immerhin gewährt es dem arbeitenden Volk uns erfolgreich zu führen, und daß, wenn die Dinge ihren recht ist das Wahlrecht des Bolks. die Möglichkeit, Vertreter in die Kammer zu schicken. Das natürlichen Weg gehen, das heißt, wenn die organische Ent- So lange dieser Fels emporragt, sind alle Maßregeln soll nun verhindert werden. wickelung nicht gewaltsam unterbrochen wird, der Sieg der Reaktion ohne Werth. Was nützen die Polizeiverbote, Wohlan mögen die Herren Reaktionäre thun, was der Sozialdemokratie in absehbarer und ziemlich genau zu was die Unfugs- und sonstigen Gummi- Paragraphen des sie nicht lassen können! Der Schlag wird treffen, aber nicht berechnender Zeit unvermeidlich ist. Sie stehen also vor der Strafgesetzbuchs- was die Brausewetter- und Majestäts- die Sozialdemokratie. Die sächsischen Ordnungsparteien Alternative: entweder sich in Geduld zu fassen und den Herr beleidigungs- Prozesse, wenn der Partei, die erdrosselt werden haben sich gegen uns zusammengethan und sie waren nicht schaftsantritt der Sozialdemokratie ruhig abzuwarten, oder soll, die Arena und Rednertribüne des Reich 3 tags im stande uns die Spiße zu bieten; indem sie für die gewaltsam den organischen Gang der Entwickelung zu unter- und verschiedener Landtage bleibt, das heißt, das weitaus fächsische Politik unsere Partei durch einen Gewaltstreich brechen und die Entwickelung womöglich in andere Bahnen wirksamste Kampf- und Agitationsmittel? Was nüßt es, mundtodt machen, bekunden sie blos ihren intellektuellen und 311 Tenken. den rebellischen Gedanken ins Zuchthaus zu sperren, wenn moralischen Bankrott. Wer die Weltgeschichte kennt, weiß, daß ein solcher Versuch er von der Tribüne des Reichstags und der Landtage Wie das Bürgerthum, so die bürgerlichen Parteien. hoffnungslos ist. Aber es giebt gewisse Wahrheiten, deren herab seinen Zorn, seine Auflagen in das Land hinaus- Das Bürgerthum ist in der Dekadenz. Daß in Sachsen   ein Erkenntniß durch den Besitz der politischen Macht aus schmettern fann, und weit über die Grenzen des Landes Mehnert, in Preußen ein Stumm, in Frankreich   ein geschlossen scheint. Wir haben zwar ein Sprichwort, hinaus? Casimir Perier   fapitalistische Parteiführer werden welches besagt: wem Gott ein Amit giebt, dem giebt er Was nutt es, die Sozialdemokratie in Ketten zu legen konnten, zeigt wirkungsvoller als Bände es vermöchten, die auch Verstand. Und bis zu einem gewissen Grad ist das wenn ihr der Mund nicht geschlossen wird, wenn es eine Verheerungen, welche der Kapitalismus   im menschlichen gewiß richtig. Allein an dem Amts verst and hängt, außer Stätte giebt eine Stätte, auf welche die Welt blickt, Hirn aurichtet. für weitsichtige und großangelegte Naturen, als gefährliches und von welcher die Welt jedes Wort hören kann von Doch nicht blos eine Bankrott- Erklärung des Bliemchen­Gegengewicht die Amts verblendung die Hybris, der aus sie selbst die Rollen vertauschendals An- Ordnungsbrei'sst der sächsische Vorstoßer ist außerdem wie die Griechen es nannten das Gefühl der Wacht Klägerin ihren Unterdrückern und Anklägern entgegentritt, eine arge Unklugheit vom Standpunkt des Partikularismus. und die daraus entspringende Ueberschätzung der ihre Sünden ihnen vorhaltend, ihre Thorheit geißelnd, den Wer fümmert sich noch um den Staat Sachsen  , wenn er das Macht, die nach der griechischen Mythe- jenen Heuchlern die Maske abreißend? Eine einzige zorn- arbeitende Volk zu politischer Rechtlosigkeit verurtheilt? Je lebermuth erzeugt, der das Schicksal herausfordert flammende Rede im Reichstage zerreißt die Stahluche der eher er weggefegt wird, desto besser. Dieser Gefahr sind und sich an der chernen Mauer des Noth Reaktion wie Spinneweben und bläst die emfige Arbeit die sächsischen Partikularisten, die das Gros der Reaktions­wendigen den Schädel einstößt. Die Geschichte weiß von Jahren in alle Winde. armee bilden, sich wohl auch bewußt, sie rechnen aber darauf, mur von sehr wenigen Beispielen zu erzählen, wo der Die Zunge des Volks ist das allgemeine daß was für Sachsen   in greifbare Nähe gerückt ist, für das Besiz der Macht dieses Gefühl nicht erzeugt hätte. Und Wahlrecht. Durch das Wahlrecht spricht das Volt. es läßt sich sogar psychologisch nachweisen, daß Menschen, Darum fort mit dem Wahlrecht! die mit sehr großer Machtvollkommenheit ausgestattet sind, Seit das allgemeine Wahlrecht die Hoffnungen des durch diese Machtvollkommenheit die freie Urtheilstraft Fürsten Bismarck getäuscht hat und die wuchtigste Waffe verlieren müssen. Johann Jacoby   drückte dies in des Proletariats geworden ist, sind die reaktionären Parteien dem berühmten Wort aus: Es ist das Un am Werk, das Wahlrecht zu verstümmeln, zu fälschen, zu glück der Könige, daß sie sie die Wahrheit nicht vernichten. Und immer heftiger wird von den Holzwürmern hören wollen. Er konnte ebenso gut sagen:" Es ist das und Maulwürfen gebohrt und gewühlt. Unglück der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören Die sächsische Ordnungsbrei- Reaktion ist für den sie warf den Kopf Dr. Langenberg trat zu Brambach   und reichte ihm die Hand. Sein Glückwunsch wurde jedoch überhört, denn Blanka Die Hofdame, Fräulein Blanka von Boheimb, gehörte erhob sich sehr geräuschvoll und sagte zu Georgine laut, zu den von der Natur begünstigten Frauen, die nie alt indem sie dieselbe umarmte: Da bist Du ja! Ich habe zu werden scheinen. Immer rothwangig, ohne einen Zug Dich nicht kommen hören, wie Du die Equipage nicht. Ich Nun, so geh schnell," befahl Georgine und Hanne der Leidenschaften, immer freundlich, sehr gut frifirt, hielt ließ den Hofjäger halten hier, um Dir und Deinem Mann ging. man sie trotz ihrer achtunddreißig für vierundzwanzig, Ach, da ist ja der Herr Jubilar- Nehmen Sie meine Auch ich muß gehen," mahnte sich selbst der Doktor welchen Geburtstag unverheirathete Fräuleins gern zehn Gratulation, ich wünsche Ihnen zum heutigen Tage Langenberg. Es würde mir zu großem Vergnügen ge­bis zwölf Jahre lang feiern. Glück", dabei reichte sie Brambach die behandschuhte reichen, wenn ich die Damen zum Wagen geleiten dürfte." Rechte und ihre Armbänder blizten und klirrten. Sehr angenehm, Sie als galanten Ritter kennen zu lernen, Herr Doktor," hauchte in süßen Tönen Blanka, ich werde Sie empfehlen."

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Clotilde.

Rede, sie hatte dem Doktor imponirt-- ( Nachdruck verboten.) zurück und dabei bemerkte sie Georginen. Roman aus der Gegenwart von H. W. M. von Walthausen.

War Clotilde einfach und bescheiden, so trat Blanka desto überladener und anspruchsvoller auf. Besonders war Gnädiges Fräulein," erwiderte Brambach, es freut es der Stolz auf ihre Ahnen, den sie überall durchblicken mich, einen Glückwunsch von einer so einflußreichen Dame ließ, obgleich fie, um nur zu heirathen, auch einen Bürger- zu hören, die immer liebenswürdig und schön, weil ewige lichen genommen hätte. Dem Doktor gegenüber entwickelte Jugend sie schmückt." sie eine solche Zungenfertigkeit, daß sie nicht einmal be- Blanka war entzückt, solche Elogen in Gegenwart des merkte, wie Brambach und seine Frau leise eintraten.

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Doktors zu hören, sie neigte ihr Köpfchen gnädig und sagte: Der Hof hat auch meine Verdienste anerkannt" Schade, daß ich nicht länger hier verweilen kann, ich muß sprudelte es von Blaufa's Lippen weiter Sie glauben gar fort, die Prinzen erwarten mich. Georgine, Du mußt mich nicht, Herr Doktor, was ich den kleinen Prinzen schon schönes bei- sobald als möglich besuchen, um mir Mittheilungen über gebracht habe. Als ich aber ein Kind noch war, wie Clotilde, da diesen Tag zu bringen, und Clotilde kann an unserer habe ich auch viel gelernt in der Pension. Wie kann Spazierfahrt theilnehmen." Clotilde dagegen ohne Mühe, wie die Mädchen aus den Nun so geh, hole Mantelett und Hut," sagte Georgine gewöhnlichen bürgerlichen Ständen in ihrer Einfalt dahin zu Clotilde, die freudig fortsprang. leben! Bei mir wundert man sich sogar am Hose darüber, In diesem Augenblick trat Hanne aus dem Zimmer was ich alles kann. Das tommt davon, weil ich mich nur in den höchsten Kreisen bewegt habe. Dazu gehört aber, daß man aus altadeliger Familie stammt und unsere Familie fann auf glorreiche Ahnen und einem reinen Stammbaum aurückblicken."

Brambach sah seine Frau an. Georgine lächelte.

Dr. Langenberg erhob sich- er hatte die Brambach'schen Eheleute bemerkt und machte eine Berbeugung. Blanka betrachtete dies als eine Anerkennung ihrer

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des

Majors."

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Also hier warst Du so lange?" fragte sie Georgine. Hat der Major Wasser bekommen und getrunken?" Ja.- Der Herr Major läßt sich als frank ent­schuldigen," sagte Hanne. Was fehlt ihm denn? Eine Wunde?" frug der Arzt. " Ich weiß es nicht", entgegnete Hanne verlegen. Nun, nun ich glaubte, weil Sie seit meinem Hier­sein da drin verweilten, Sie hätten einen Verband angelegt

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Reich nicht in weiter Ferne liegt. Der sächsische Vorstoß ist nur die Einleitung zu einem Vorstoß gegen das allgemeine Wahlrecht. Nach dem sächsischen Landtags- Wahlrecht das deutsche Reichs- Wahlgesetz! Das ist die Losung. Das ist der Plan.

Das Proletariat wacht; die Sozialdemokratie ist bereit, und das deutsche   Volk wird sich von seinen Feinden nicht überrumpeln lassen.

und mir Konkurrenz gemacht," sagte der Doktor lächelnd, ,, Sie brachten nur Wasser?"

" Ja, der Herr Major hat diesen Brief hier fertig ge­schrieben, ich soll ihn gleich in den Briefkasten stecken." Dabei zeigte Hanne eine große Verlegenheit, als wollte fie weiter sprechen.

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Clotilde öffnete, bereits zum Aufbruch gerüstet, die Thür, Blanka empfahl sich bei Brambach's, rauschte hinaus und ging an Langenberg's Seite bis zum Wagen. Dort hieß sie Clotilden einsteigen, und ließ sich dann, erst sehr förmlich Abschied nehmend, von Dr. Langenberg fast in den Wagen heben. Sie nickte und winkte noch, als sie abfuhr. Auch Brambach's hatten ihr nachgesehen und ihr zu­genickt. Brambach ging nach dem Komptoir im Druckereis gebäude. Georgine war allein. Wie so ganz anders als heute in der Frühe waren ihre Gesichtszüge. Was mochte in ihr vorgehen? Entwarf sie einen Plan? Sie erschrak, als sie sich zufällig im Spiegel erblickte, vor sich selbst. Sie wollte an der Thür des Majors klopfen aber nein sie mußte sich erst umziehen und sammeln, erst ruhiger werden. Ihr Gesicht, ihre Aufregung paßte nicht zu dem, was sie vorhatte. Sie überlegte. Also der Major ließ sich frank melden, das hieß mit anderen Worten: er wolle jett niemanden sehen.

( Fortsetzung folgt.)

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