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Morgenausgabe

Nr. 593

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45.Jahrgang

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Vorwärts

Berliner Boltsblatt

Sonntag 16. Dezember 1928

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Locarno - Geist in Lugano ?

Eine erfreuliche Kundgebung und ein bedauerlicher Zwischenfall.

Die gemeinsame Kundgebung, die die Außenminister Deutschlands , Frankreichs und Englands am Schluß ihrer Besprechungen in Lugano veröffentlicht haben, ist von einer unverkennbaren Herzlichkeit des Tones getragen und aus ihr spricht ein Optimismus, der ebenso überraschend wie erfreulich ist.

Die Herren Briand , Chamberlain und Stresemann find feit der berühmten Konferenz von Locarno vor drei Jahren etwa ein dugendmal zusammengekommen, und daher sind sie lo aneinander gewöhnt, daß eine Verständigung zwischen ibnen ous rein psychologischen Gründen leichter sein dürfte als zwischen anderen Staatsmännern, die sich zum ersten Male begegnen. Sie haben gemeinsam die Tage von Lo­tarno im Oktober 1925 erlebt, jpäter, im März 1926 die miß glückte außerordentliche Bölferbundsversammlung, bei der die ufnahme Deutschlands an Widerständen scheiterte, die außer halb ihres Machtbereiches lagen, jobann, in jener denkwürdi gen Sigung des 10. September 1926, waren sie die Roryphäen, die das große Ereignis des Böllerbundseintritts Deutschlands feierten und auf die die Augen der Welt ge­richtet waren. Snwieweit dieses Werf ihr persönliches Ver­dienst ist und inwieweit fie nur die späten Bollstrecker der Ideen waren, die andere lange vor ihnen und sogar besser als fie propagiert hatten, foll hier nicht untersucht werden. 3weifellos umgibt die drei ein Stück Mythos. Aber sie find zum Gliid die Gefangenen diefes Mythos. Sie, gerade fie müssen das Bert von Locarno und von Genf forifegen, an int festhalten, wenn sie nicht von den Höhen der Bollsbegeisterung, die sie genoffen haben, in die Ab­gründe des Voltszornes stürzen wollen. Ein Bruch der Locarno- Bolitit wäre ein Unglüd für Europa , aber menn diefelben Männer, die dis Echöpfer von Locarno nun einmal gelten, den Schlußstrich unter diefe Politik der Berföhnung und Annäherung zu ziehen gezwungen wären, dann würden fie persönlich von ihren Bölfern verantwortlich gemacht wer ben und erledigt sein. Vielleicht steht im Wort, Locarno " mehr Mythos als Realität, aber das Dreigestirn, das jest nach verschiedenen glücklich überstandenen Krankheiten wieder einmal am Zenith leuchtet, vertörpert jenen Geist von Locarno " und ist, politisch gesprochen, auf Tod und Leben mit diesem Geist verbunden.

"

Was ist nun der Geist von Locarno ? Darüber gehen alldings die Meinungen auseinander. In Deutschland etolidt man darin die allseitige Berpflichtung, nicht nur den Geist des Krieges auf ewig zu verbannen, sondern auch die politischen Beziehungen zwischen den ehemaligen Kriegs. gegnern so zu gestalten, als gehörte der Weltkrieg endgültig der Bergangenheit an. Man hat daher Ronfequenzen erwartet. Bon Frankreich hören wir nun. daß die Kon­lequenzen insofern eingetreten find, als die Besatzung des Rheinlandes ihren Charakter wesentlich geändert" hat. Das ist zweifellos richtig. Aber das fann von uns nur als ein Anfang dieser Konsequenzen betrachtet werden. Solange deutscher Boden überhaupt belekt ist. fehlt die wefent lichste Boraussetzung für eine wirkliche Versöhnungspolitit, und so lange bleibt auch die Behauptung, daß Deutschland eine gleichberechtigte Nation im Rate der Böller durch feinen Beitritt zum Bölferbund geworden ist, gelinde ausge. drückt: eine Fittion.

Nun versichert Briand seit Locarno bei jeder Gelegen­heit, daß er, im Grunde genommen, mit Deutschland über die Notwendigkeit der Rheinlandräumung einig sei, daß aber die deutsche Ungeduld" nur störend wirken fönnte. Es handle fich gewissermaßen nur um eine Frage des Tempos In Wirklichkeit ist der Gegensaß doch wesentlich tiefer. Richt um Geduld oder Ungeduld geht es dabei, sondern um die Gegenleistung, um das Geschäft, das man auf franzöfifcher Seite mit dem fogenannten legten Pfand aus dem Weltfriege machen will. Mit dieser Auffassung Dom ,, Geiste von Locarno" fann man sich auf deutscher Sette Richt befreunden. Aber, so wie die Dinge liegen und da nun die tonservative Regierung Englands aus Gründen feiner Flottenpolitif gegenüber Amerita Frankreich jetun diert, ist es leider ausgeschlossen, daß sich der deutsche Stand puntt durchsezen wird. Auch mit den rein juristischen Argu­menten läßt sich zurzeit nichts erreichen.

Soll man nun, wie es die Deutschnationalen fordern, die Solitit von Locarno Knall und Fall preisgeben, weil pre Konfequenzen nicht so restlos und nicht so schnell ein getreten find, wie bas deutsche Bolt berechtigt war, es zu ferdern? Das hätte nur dann einen Sinn, wenn das Ziel Befreiung des Rheinlandes überhaupt nicht in je er Zeit zu erreichen wäre. Aber die Genfer Berein­iumgen vom 16. September haben einen Weg gezeigt. In verschiedener Schwierigkeiten. wohl mehr technischer als afräglicher Natur, stedt das Genfer Programm noch in

Locarno - Politik wird fortgesetzt.

Gemeinsame Erklärung Stresemanns, Briands und Chamberlains. Bugano, 15. Dezember. Frieden zu sichern. Dieser Politif bleiben wir tren. In diesem Geiste werden wir die Verhandlungen ført. sehen, die auf Grund der Vereinbarungen eingeleitet worden sind, die zwischen den sechs interessierten Mächten am 16. September dieses Jahres in Genf zustande ge­tommen sind. Wir sind entschlossen, alles in unserer macht stehende zu tun,

Von den Ministern des Auswärtigen Frank. reichs, Englands und Deutschlands wurde heute folgendes gemeinsame Kommuniqué aus gegeben:

Die Ratstagung hat es uns ermöglicht, die seit langem unterbrochene persönliche Verbindung swischen uns wieder aufzunehmen und in einen Mei. nungssaustausch einzutreten, der bou sehr großem Nuken gewefen ist. Diese Besprechungen haben uns dazu geführt, stärker denn je davon überzeugt zu sein, daß eine Politik der Versöhnung und Annäherung unserer Länder am geeignetsten ist, den

um so schnell wie möglich zu einer vollständigen und endgültigen Lösung der aus dem Kriege her­rührenden Schwierigkeiten zu gelangen und auf diese Weise auf Grund gegen. seitigen Vertrauens die gedeihliche Entwicklung der Beziehungen unserer Länder zu sichern.

Sturm im Völkerbundsrat!

Heftige Rede Stresemanns gegen Zalesti.

Lugano , 15. Dezember. Jm Böllerbundsrat, ber fid) heute vormittag ausfdhließlich mit den deutschen Minderheiten in Oberschlesien befaßte, fam es nach bem Abschluß der Tagesordnung zu einem

auffehenerregenden Zwischenfall.

Der polnische Außenminister Zaleffi nerfas eine längere Erklärung, in der er die Tätigkeit des Deutschen Volksbundes als in vieler Hinsicht in offenem Widerspruch mit dem Geist der Genfer Ronvention bezeichnete. Durch die zahlreichen Be­schwerdefälle, die vor den Bölferburbsrat gebracht werben, folle in der Welt der Einbrud ermedt werden, daß die Rechte der deutschen Minderheiten in Oberschlesien verlegt und die Verhältnisse in Ober­fchlesien unhaltbar feien. Nach längeren statistischen Angaben über die wirtschaftliche Entmidlung Oberschlesiens schloß er mit der Erklärung, doß die Beschwerden des Deutschen Volksbundes unbegründet und lediglich dazu bestimmt seien, den Eindrud zu er weden, daß die Lage in Oberschlesien noch unsicher sei. Das be deuie einen

offenen Mißbrauch der Bestimmungen der Minderheiten­verträge und der Genfer Konvention . Die Tagesordnung des Bölferbunds rats werde mit Beschwerden des Deutschen Boltsbundes überfüllt und der Rat merde auf diese Beife genötigt, Fragen zu prüfen, die bei einer richtigen Bewertung nur von untergeordneter Bedeutung seien. Diese Diskussion könne nur das Ansehen des Balferbundes schädigen.

Diese Erklärung, die vollkommen unerwartet nach Erledigung der auf der Tagesordnung stehenden oberschlesischen Fragen abgegeben wurde, rief beim Ratsmitglied Dr. Stresemann,

feinem Anfangsstadtum. Diese Schwierigkeiten haben be­fonders in Deutschland eine gewiffe Nervosität erzeugt. Man hat vielfach von Stresemann gefordert und erwartet, daß er durch seine Besprechungen in Lugano günstigere Ber­einbarungen erreiche als Hermann Müller bei der Aus ( prache im September. Diese Erwartung war aussichtslos und ist auch unerfüllt geblieben. Aber das geftrige Rommuniqué läßt darauf schließen, daß man darin überein gekommen ist, das Tempo der Berhandlungen zu bescheunigen.

der bel einem der Schlußfäße unfer lebhaftem Proteft mit der Hand auf den Tisch schlug, größte Erregung hervor. jaales ergriff Reichsminister des Aeußern Unter ungeheurer Spannung des dichtbesetzten Rats.

Dr. Stresemann

nach der englischen Uebersehung der Erklärung Zaleftis das Bort, um fich in fehr energischer Weise für die Minderheiten­rechte und besonders für das vertragsmäßig festgesetzte Recht des Deutschen Voitsbundes, sich an den Völkerbundsrat wenden zu dürfen, einzufezen. Er führte dabei etwa folgendes aus: Mit steigendem Erstaunen bin ich der Rede des pol­nischen Ministers des Aeußern gefolgt. Ich bebauere, nichts anderes jagen zu fönnen, als daß aus dieser Rede

der Geist des Haffes gegen die deutsche Minderheit in Ober­ schlesien

gesprochen hat, und den er aufgerufen hat gegen Menschen, die

Don einem Recht Gebrauch machen, welches ihnen durch den hier verfammelten Bölferbundsrat anerkannt worden ist. Es fann sein, daß die einzelnen aus Oberschlesien kommenden Beschwerden non untergeordneter Bedeutung sind, aber diese Dinge, wo es sich um Fragen handelt,

ob ich mein kind in meiner eigenen Sprache, in meiner eigenen Sulfur erziehen fann,

die sind vielleicht im Bergleich zu Handelsverträgen und anderen Dom polnischen Minister, bes Auswärtigen angezogenen Gegen ständen von untergeordneter Bedeutung. Hier handelt es sich aber um einen Teil menschlicher Leiden und menschlichen Rechts, die Dom Bölkerbundsrat felbft anerkannt worden sind. Der polnische

zwischen dem polnischen Außenminister 3 aleski und dem Reichsaußenminifter Stresemann gefommen ist. Gerade weil Bolen in legter Zeit bestrebt ist, die Lösung der Räu mungsfrage zu erschweren, wie der jüngste Beschluß des Sejm - Ausschuß bemiesen hat, ist die Botschaft aus Lugano erfreulich: denn sie bedeutet zugleich eine Absage an die Quertreiber in Warschau , die in der lächerlichen Bahnvorstellung leben, daß ein von fremden Truppen be­freites Deutschland für die Integrität Bolens eine besondere Gefahr bilden könnte. Was für den Bestand Bolens gefähr­cut stellich ist, das ist vielmehr einzig und allein der Geist des über­Rontretes ist aus dieser Kundgebung von Lugano ipannten Nationalismus und der Unduldsam­nicht herauszulesen. Aber wenn freundschaftliche Worte teit gegenüber den nationalen Minder­und demonstrativer Optimismus in dieser Situation über- heiten, der aus der geftrigen Rede Zaleskis sprach. Und haupt einen Sinn haben, dann fann es nur der sein, daß die beshalb begrüßen mir auch die Ankündigung, daß auf der drei Männer erfannt haben, daß es so wie in den legten nächsten Tagung des Völkerbundrates das Problem des Wochen nicht weitergehen darf: man muß das gegen Schuges der Minderheiten grundsätzlich behandelt feitige Mißtrauen, das sich wieder in der europäischen öffent werden soll. lichen Meinung breitmacht, überwinden und deshalb schnell zum Ziele der vollständigen und endgültigen Lösung der aus dem Kriege herrührenden Schwierigteiten" gelangen.

Gemeint find natürlich die Räumungsfrage und das Reparationsproblem. Diese Rundgebung ist deshalb er freulich, weil sie unmittelbar nach jener Schlußsigung des Böllerbundrates erlassen wurde, in der es zu einem für Rats verhältniffe unerhört farfen 3usammenstoß

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Eine solche Erörterung tut schon lange not. Bequemt sich Polen endlich dazu, das Problem der nationalen Minder­heiten so zu lösen, wie es zum Beispiel seine baltischen Nach­barn getan haben, dann wird sich die latente Spannung zwischen Polen und Deutschland ganz von selbst lösen: Eine gerechte Behandlung seiner eigenen Minoritäten wäre für Bolens Sicherheit und Integrität unendlich wirk­famer ein ,, Locarno des Oftens" oder gar als die aufreizende Forderung einer verlängerten Besetzung des Rheinlandes durch die Weftmächte.