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inis anC
Vorwärts
Berliner Boltsblatt
Sonntag 30. Dezember 1928
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Italien an der Jahreswende.
Scheinbare Konsolidierung des Faschismus.
Locarno , Ende Dezember.( Eigenbericht.) Mussolini hat die mathematische Gewißheit der Dauer" feines Regimes seinen ,, Untertanen" verkündet, wohl, um den Jullufionen vorzubeugen, die der Jahreswechsel in vielen wecken fönnte. Man sieht ein altes Jahr zur Rüfte gehen und fühlt ein cigensinniges Hoffen: so fann es ja nicht bleiben, es muß anders merden. Aber mit der aus dem Gefühl der.
Unerträglichkeit des heufigen Zustandes geborenen Zuversicht auf ein belferes Morgen fristet man fich in Italien nun schon über sechs Jahre hin: die unerträglichkeit bleibt und das beffere Morgen kommt nicht. An unseren Jahresmenden wendet sich nichts; fein Neujahr bringt uns neues.
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bas
Nun gibt es aber teine mathematische Gemißheit in Dingen bes lebendigen Bebens, das sich von-innen heraus entwickelt. In ber Tot hat der Ministerpräsident feine Gemißheit hingeschleudert mie eine Drohung; sie tommt ihm aus dem Bertrauen auf feine Maschinengewehre. Er meint gar nicht, daß ihm die Entwicklung der Dinge recht geben werde; er traut sich nur die Macht zu, diefe Entwicklung gewaltsam niederzuhalten. Ich bin start genug zu verhindern, daß es in Malien anders werde" und nichts anderes bedeutet jeine mathematische Gewißheit". Aber das Gefühl der Unerträglichkeit ist noch keine Gewähr des Bechsels, fo wenig die fubjektive Vorstellung unbegrenzter Macht eine Gewähr ber Dauer ist. Sn der Geschichte ist viel Unerträgliches ertragen morden, man weiß jedoch von teiner Diftatur, überhaupt pon teiner einem: Bolke, zwangsweise aufgenötigten Gestaltung, die Bestand gehabt hätte. Wenn die einen verzagend, die anderen frohlodend fagen: in Italien , wird nichts anders, se täuschen, sich beide. Frei lich ist über das jetzt pergangene Jahr nichts zu berichten, was eine Berminderung der faschistischen Machtmittel bedeutete.
Die Miliz ist weiter 300 009 Mann start
und hat ihre Bewaffnung auf Staatsfoften verbessert. Wenn schon das Jahr 1927 mit der Selbstverwaltung der Gemeinden aufgeräumt hatte, so hat man im Jahre 1928 dem Wahlrecht
N
stoff läßt Mussolini durch seine gut gezogene Preise immer nur rationierte Mengen in Brand feßen, gerade genug, um seinen Schwarzhemden eine Gelegenheit zum Austoben zu geben. Er will mit dem Kriege drohen können; das ist für seine innere wie für seine äußere Bolitit unerläßlich.Aber er weiß sehr gut, daß der Krieg feine Dittatur vernichten würde; das wiffen auch alle Nugnießer der Diktatur, so daß man mit vollem Recht sagen kann, daß das offizielle Itailen heute ernstlich den Frieden wünscht. Aber er spielt mit dem Gedanken an den Krieg. Auch hat Musso lini gelegentliche Paranthesen ungehemmten Größenwahns, wie seine jüngste Rede nor der Kammer gezeigt hat. Absichtlich wird der Faschismus teinen Krieg herausbeschwören. Aber er fann unabsichtlich in ihn hineintorfeln.
Inzwischen„ fonfolidiert sich das Regime immer mehr. Die Zuversicht auf die Dauer wäre also berechtigt? Immerhin: Die konfolidierung ist der Bluff, mit dem sich der Faschismus selbst nasführt,
nachdem er mit so viel Erfolg die früher herrschenden Cliquen und und als originell verschriene Berfassungsreform ist eine tomplizierte, die Monarchie an der Raje geführt hat. Die so niel auspojaunie wollen dem Bolte feinen Einfluß auf den Regierungsapparat zu am grünen Tisch ausgetüftelte Spielerei. Auftatt zu fagen: Bir gestehen, weil das das Ende unseres Regimes bedeuten würde; alles wird von oben bestellt, unter Ausschaltung jeder Kontrolle", organi fiert, man diese Bestellung von oben unter dem Namen von Ständevertretung, Bahlrecht der produktiven Elemente der Nation" und ähnlichen Flaufen. Was man jo gefchaffen hat, beffit fein Eigenleben, ordnet nichts, diszipliniert nichts, stellt im Grunde nicht anderes, dar als das 3eremoniell, unter dem sich die Ernennung der Abgeordneten durch den Kabinettschef poll. zieht. Alles ruht nach wie vor auf der Willkür und Laune eines Menschen, noch dazu eines Psychopathen. Ein solches Regime tann man ändern; tonfolidieren tann man es nicht. Die Tatsache, daß der Faschismus sich nicht ändert, sich nicht ändern fann, nichts anderes ist und nichts anderes werden tann als eine
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Man hatte in Deutschland vom Jahre 1928 außenpolitisch sehr viel erwartet. Man hatte mit größeren Fortschritten in der endgültigen Liquidierung des Weltkrieges und auf dem Wege zur Wiederherstellung unserer vollen Gleichberechti gung unter den Bölkern der Welt gerechnet. Und nun, wo die erhofften Ergebnisse ausgeblieben sind, oder sich doch nur zum fleinen Teil verwirklicht haben, ist man enttäuscht, und lauter erheben sich wieder die Stimmen derer, die von den Fehlern der vergangenen Jahre und von der Notwendigkeit der grundsäglichen Aenderung des Systems sprechen. Ohne daß wir freilich auch diesmal erfuhren, wie die angeblichen Fehler hätten vermieden werden können, und wo die neuen Wege zu finden sind, die sich unserer Politik auftun.
Hier und da ist zweifellos zu viel erwartet worden. Gewisse Kreise haben Hoffnungen genährt, für die fein Grund vorhanden mar. Sie haben sich zu wenig an die realen Tatsachen gehalten und sich in Träume eingesponnen, denen, wie die Dinge lagen, fein frohes Erwachen folgen fonnte. Bei ihnen ist natürlich die Unzufriedenheit jezt am größten. Aber es hat doch auch Erfüllung bei gutem Willen derer, auf die es anfam, im Beeinige sehr bestimmte und umgrenzte Wünsche gegeben, deren erster Linie auf die frühere Räumung zum mindesten eines reich der Möglichkeiten gelegen hätte. Sie bezogen sich in Teils des besetzten Gebietes und auf die Förderung der internationalen Abrüftung. Und auch hier ist trop energischen Arbeitens von deutscher Seite, trop Reden im Parlament, diplomatischen Berhandlungen und startem persönlichen Drud, der in Genf und Lugano auf die Staatsmänner der ehemaligen Alliierten ausgeübt wurde, ein greifbares Refultat, nicht erzielt worden..
Zunächst die Abrüstung. Die vorbereitende Abrüftungstonferenz des Völkerbundes hat im Frühjahr ge endet wie das Hornberger Schießen. Eine Einigung war nicht zu erzielen. Am wenigften selbstverständlich auf der Basis der radikalen und übrigens innerlich unwahrhafVorschläge, aber auch nicht auf irgendeiner
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für das Parlament ein Ende gemacht. Die große Maffe Dittatur, ist uns der Bürge seiner Bergänglichteit! anderen Grundlage. Was äußerlich gesehen einer Verstän
der Bevölkerung, alle Richtfaschisten, sind vollkommen maffenlos Häufige Haussuchungen und eine beispiellose Spigelei forgen dafür. Die fattische, wenn auch nicht rechtliche Aufhebung des Briefgeheimnisses macht jede Ber
Ein Arbeiter, der gestern die Gitter der Kellereiräum
ihteiten im Palazzo Bespicci fontrollierte, fand in einem Keller, der gegenüber dem Königspalais liegt, eine
digung am meisten im Wege steht, ist die Schwierigkeit, die Seemächte auf eine gemeinsame Linie zu bringen, aber wesentlicher ist das allgemeine Fehlen ernsten Wollens bei den Siegerstaaten, die sich nach wie vor hinter die Behauptung von ihrer unzulänglichen Sicherheit verschanzen.
Dabei ist für diese Sicherheit auch im abgelaufenen
ständigung Gleichgesinnter unmöglich. Dabei hat die Jurisprudenz des Spezialgerichts festgefeßt, daß zum Begriff der Verschwö rung ein persönlicher Verkehr, ja auch nur eine persönliche Bombe. Eine zweite ähnliche Bombe wurde von einem Funt Jahr wieder mancherlei geschehen, das über die Bestimmun Bekanntschaft der„ Verschworenen" nicht erforderlich tionär und einem Polizeibeamten aufgefunden. Die Bomben wurjet Die gewaltfame Beseitigung der Antifaschisten hat von Anfang ben der berechnetente, insieme comportlichen festzustellen. an zu den normalen Kampimitteln des Faschismus gehört. Die fort Recherchen eingeleitet, um die Berantwortlichen festzustellen.
Novembergefeze vom Jahre 1926 legalisierten fie durch Einführung der Todesstrafe für politische Verbrechen, und das Jahr 1928 hat Der Antifaschist die erste Anwendung dieses Gesezes gesehen. Della Maggiora ist wegen Totschlags an einem Fischisten er= schoffen worden. Raum einen Monat später sprachen die Geschworenen von Ferrara einen Faschisten frei, der einen Cara biniererfchoffen hatte, von dem er zum Einhalten der Bolizei
Der Faschismus verfügt alio meiter über alle Mittel der Gewalt und der Bedrohung, die
ftunde aufgefordert worden war.
sich aus der rücksichtslosen Handhabung der Staatsmaschine im Dienste eines Barteiintereffes ergeben.
Auch die Wirtschaftstrife bat nicht die Folgen gezeitigt, die die Gegner der Dittatur von ihr erhofft hatten. glaubwürdige Sto Wohl ist die Arbeitslofigfeit groß tiftiten fehlen, die Einnahmen der Staatsbahnen find um 438 millionen Lire gegenüber dem Borjahr gefunten, Der Ueberschuß der Einfuhr über die Ausfuhr betrug in den ersten 10 Monaten des Jahres 1928 rund 6260 Millionen, gegen 4268 Millionen in der entsprechenden Periode des Borjahres Die Auswanderer, deren Ersparniffe bisher, zufammen mit den Ausgaben der Touristen, das Defizit der Handelsbilanz deckten, ziehen ihre Spareinlagen zurüd und legen sie im Ausland an. Troß des forcierten Zuwachses nordamerikanischer Touristen, die fich fo etwas als Aktionäre des italienischen Staates und der itafrenifchen Industrie fühlen, geht der Fremdenverkehr zurüd
Die Löhne und Gehälter sinken, die Preise sleigen langsom, aber beständig.
Die Angaben erschließen sich neue Quellen in weiterer Besteuerung bes Mossenkonjums, jo 222 Millionen für höhere Salz. preise, 155 Millionen für die neue Erhöhung des Kornzolls
im laufenden Budgetjahr. Das alles bedeutet wirtschaftliche Stag nation, unzufriedenheit, Not, aber noch feineswegs den
not.
Das gleiche gilt von der Außenpolitit. Man fagt immer, daß sie dem Faschismus den Hals brechen werde, aber bis jetzt hot fie es nicht getan. Sie ist, bei aller Großmäufigkeit, vor fichtig und leiletretend. Daß Italien in feinem neuen Dreibund mit Ungarn und Albanien - eine größere Rolle fptelt ale im alten, ist einleuchtend. Bei dieser balkanischen Drientierung fommt bas faschistische Hegemoniebebürfnis billig auf seine Rechnung. Bon bem zwischen Italien und Frankreich immer bereit liegenden Zünd.
Der Parifer Gesandte bei Briand .
Paris , 29. Dezember.( Eigenbericht.) Der bolivianische Gesandte in Paris hat am Sonn
abend gegenüber Briand die Nachrichten von einem Bor stoß der
bolivianischen Truppen gegen Baraguay auf das nach
drücklichste dementiert. Er hat außerdem zugesichert, daß Bolivien alle Verpflichtungen, die es gegenüber dem Böllerbundsrat auf die Intervention Briands hin eingegangen fet, aufs peinlichste beobachten werde.
Der Turban beseitigt. Eine persische Kulturreform.
Teheran , 29. Dezember. Das perfifche Parlament hat ein Gefeß angenommen, das bejagt, daß Turbane uur von Geistlichen und Studenten der Iheolo. gie getragen werden dürfen, während für die übrigen Männer europäische Kleidung und eine Kopfbededung vorgeschrieben wird, die etwas an die franzöfifche Militärmühe erinnert.
110 Fischer in Eisnot.
Auf einer. Scholle treibend dem Tod entgegen. Auf dem Peipusjee im Osten Eitlands spielt
ich eine furchtbare Fischertragödie ab. 160 Fischer find auf einer großen Eisscholle durch starken Wind mit allen ihren Neten in den offenen Peipussee abge trieben worden. Mit größter Mühe ist es gelungen. 50 Fischer zu retten, während die übrigen 110 als bezichollen zu betrachten sind. Es ist zu befürchten, daß sie sämtlich ertrunken sind. Die estnische Regierung beabsichtigt, die Suche nach den Verschollenen mit Flugzeugen aufzunehmen. Die Rettungsaktion stößt auf starke Schwierigkeiten, da die vorhandenen Schiffe sehr flein sind, so daß fie das Eis nicht passieren können.
bereitenden Abrüstungskommission abgezweigte Sicherheitsausschuß hat Bertragsvorschläge ausgearbeitet, deren Be
nugung geeignet wäre, noch bestehende Befürchtungen beträchtlich zu verringern. Der Kellogg - Bakt, der den Krieg als Mittel nationaler Bolitit ausschalten will und streitende Staaten auf den Weg der Schiedsgerichtsbarkeit vermeist, ist am 27. August i Paris feierlich unterzeichnet worden; außerdem wurde eine Anzahl neuer Schiedsverträge abgeschlossen. Und. was für uns und unser Verhältnis zum Auslande wichtig ist, Deutschland hat zu all diesen Fragen pofitiv Stellung genommen. Es hat im Sicherheitsausichuß aufs eifrigjte mitgearbeitet, es hat als erste Macht dem ellogg Baft zugestimmt, hat weitere Schieds. verträge abgeschlossen und am 2. Februar die bekannte Fakultativflaufel des Staates für den Internationalen Gerichtshof parlamentarisch ratifiziert.
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Deutschland ist unter diesen Umständen am ehesten berechtigt. an der Unergiebigkeit der Abrüstungsverhandlungen scharfe Kritik zu üben, und es durfte daher auch durch Stimm enthaltung der Resolution der lekten Bölkerbundverjanim lung, die die Einberufung der Abrüstungstonferenz aufs neue verschiebt, und alles auf eine vorherige Berständigung unter den einzelnen Militärmächten abstellt. seine Zustim mung verfagen.„ Wir fönnen", jo erklärte Graf Bernstorff so am 25. September in Genf ,,, nicht einer Resolution bei pflichten, die vor allem die Bedenken gegen ein schnelles Borwärtsschreiten hervortreten läßt, anftatt dem Berlangen der Bölker zu entsprechen, die in der ganzen Welt zum mindesten ein kleines Ergebnis dieser Arbeit erwarten.
Die Sicherheit ist dann aber auch einer der Borwände, die vor allem Frankreich einstweilen eine vorzeitige Räu mung der befegten Gebiete ablehnen lassen. Die deutsche Regierung hat sich auf ihren Rechtsanspruch berufen und diesen am stärksten durch den Mund des Reichstanzlers Hermann Müller in Genf geltend gemacht. Mag sein, Daß bei der Unflarheit der einschlägigen Bestimmungen des Berjailler Vertrags der rein juristische Standpunkt nicht start genug ist, doch über die Erfordernisse des formalen Rechts gehen die der politischen Befriedigung. Daß die Besetzung ein Hemmnis der wirklichen Berständigung ist, hat unter Bu ftimmung so gut wie aller Parteten der Außenminister Stresemann im Reichstag mehr als einmal dargetan, und als Führer der deutschen Delegation hat es Hermann Müller in