Beilage
Dienstag, 22. Januar 1929
Der Abend
Shalausgabe des Vorward
Die Palme am Strande der Armut.
Besuch bei den Obdachlosen.
Die Musit für die armen Leute wird sehr oft von den noch ärmeren Leuten gemacht, von den Hofsängern, von den Drehorgelspielern. Die Drehorgelspieler leihen sich bei einem Dreh orgelfonzern ihre Bimmerfästen aus und unterhalten durch ihre Bettelpfennige das gutgehende Geschäft. Der Mann, der die Drehorgeln verleiht, braucht nicht auf den Höfen zu spielen, er ist ein Unternehmer wie die anderen Unternehmer auch. Die Höffänger nun haben feinen anderen Apparat notwendig als den, ihrer Stimme. Sie singen Volkslieder, sie singen die letzten Schlager und manchmal auch die Kampfgefänge der Arbeiter. Einer von den Hofleuten ist der Redner der Not und Brotgemein schaft. Er spricht die Hausfrauen, die in den Fenstern liegen, mit ,, meine sehr verehrten Damen" an und erzählt eine gut aufgesetzte, rührende Geschichte, bis die Sechser auf das harte Pflaster springen. Viele von den Diehorgelspielern und Hoffangern nachtigen in den Berliner Asylen. Das Hauptasyl liegt im Nordosten der Stadt und wird Die Palme" genannt. Der Ursprung des Namens ist unbefannt, aber das ist allen Leuten bekannt: an der Fröbelstraße wachsen teine Balmen.
,, Die Palme" liegt zwischen einem Spital und den mächtigen Anlagen eines Gaswertes. Wenn der Obdachlose die trostlose Straße zum Asyl hinaufgeht, sieht er die runden Kuppen der Gasometer, er fieht über den schwarzen Kohlengebirgen des Lagers die gewaltige Eifenkonstruktion einer Fahrbrücke, den herrischen Schattenriß eines Krans. Er sieht die alten Leute am Spital und schräg gegenüber die Garagen der Straßenreinigung. Dann steht er vor dem lang gestreckten Asyl und geht durch das Tor der Hoffnung und meldet sich bei der Aufnahme.„ Die Palme" gehört der Stadt Berlin . Jeder Obdachlose fann dort vierzehn Tage schlafen. Er fann auch in der Woche einmal baden, er bekommt eine warme Suppe, ein Stück Brot. Er kann sich lang ausstrecken und hat ein ficheres Dach über dem Kopf. Und wenn er frank werden sollte, nun, es gibt eine Krankenstation mit anschließendem Operationsjaal und einer schönen, fühlen und neuen Totenfammer.
An der Kontrolle.
Jeder Obdachlose muß, ehe er die Suppe und das Bett bekommt, mit seinen Papieren die Kontrolle der Kriminal. polizei passieren. Do tommen sie nun an, die jungen Tippelbrüder von den Landstraßen, die Arbeitslosen kommen an und die alten Bettler mit den hoffnungslosen Gesichtern. Sie geben die Papiere ab und hören den Spruch: Vierzehn Tage können Sie hier bleiben, in der Zeit müssen Sie sich Arbeit und Wohnung verschaffen." Das wird von den Beamten nach der Prüfung der Papiere gesagt, nach dem Bergleich mit den Steckbriefen, nach der Einsicht in die riesenhafte Kartothet. Im Zimmer der Prüfung hängen auch die roten Plakate der Polizei. Mörder werden gesucht, Urkunden fälscher, Brillantenräuber, Sittlichkeitsverbrecher, große und fleine Diebe, entspringene Häftlinge, Brandstifter, Hehler und Zucht häusler.
Mor Rosenfeld aus Budapest ist auf der Wanderschaft in Deutschland und sucht Arbeit. Er hat ein Visum für drei Monate und spricht gebrochen deutsch mit jüdischem Einschlag, ist zweiund zwanzig Jahre alt und will nach Hamburg , wenn Berlin teine Arbeit für ihn hat. Der Kriminalbeamte ist skeptisch und macht dem Rosenfeld wenig Mut, aber der ist jung und unterschreibt die Karte, die für jeden Afylisten angelegt wird, nimmt den Rucksack und geht in den Schlafraum.
Ein kaltblütiger Filmschauspieler. Nicht Dichtu g. sondern Wahrheit: In Amerika ist es gelungen, einen Frosch filmphotographisch aufzunehmen und nun werden seine Bewegungen auf der Leinwand getreulich wiedergegebe
Hein
rich Meyer tommt aus dem Saargebiet Wie sieht es es dort aus? fragt der Beamte. Nicht gut, sagt Meyer, als ich fortging, waren viertausend Bergleute arbeitslos. Damn steht Georg Schmidt vor den Schranken Das ist ein Metallarbeiter mit fühnem Gesicht und steilen Haaren. Er will sich Deutschland ansehen: Berlin , Hamburg , Bremen , Köln und den Rhein und den Bodensee. | Ein Schlächtergeselle tommt. Seine tätowierten Hände ergeben ein Ein Schlächtergeselle tommt. Seine tätowierten Hände ergeben ein fleines Geschwätz über den Wert der Tätowierungen vom friminaliftischen Standpunkte aus. Der Geselle lacht. Alte Leute trefen ins Zimmer. Ein Fünfzigjähriger steht da mit grauem Frad, Papier fragen, buntem Schlips und totmüdem Gesicht. Das ist ein ehe maliger Baumeister, den der Alkohol und die Frauen in den Schmutz der Weltstadt warfen. Immer neue Männer treten in das tahle Zimmer und stehen zwischen den Mörderplakaten an der Wand und den fragenden Beamten hinter der Schranke, werden befragt, geprüft und in den Schlafraum entlassen. Manchmal werden fragt, geprüft und in den Schlafraum entlassen. Manchmal werden fie festgehalten, verhaftet, eingeliefert. Dann war irgendein Sted brief schneller als ihre Flucht, als der Versuch, im steinernen Urwald Berlin unterzutauchen. Die beiden jungen Attentäter von Leiferde hat man in der ,, Palme" gefunden.
leber eine Stunde saß der Journalist in jenem Prüfungszimmer und besah sich den Betrieb. Er dachte an die Zeit, als er selber tippelte und in den Asylen und Herbergen schlief. Ja, es war schon ein wenig andersund beffer geworden in den deutschen Polizeistuben, es war menschlicher geworden, aber ganz flar fann über diese Dinge nur ein Tippelbruder oder Obdachloser berichten, ein Mensch, der müde, ungeschüßt und verlaust in die Benne tommt. mit den Asylisten sprach der Reporter später und hörte ihre Ge: schichten aus der Tiefe.
Bierzehn Tage und dann wohin?
Die Asyle werden von der Stadt Berlin verwaltet. Der Dezernent wird von den Asylisten gehaßt. Der Haß ist begründet. Nämlich: nach vierzehn Tagen passiert es manchmal, daß der Aufnahmebeamte einem Mann, dessen Zeit abgelaufen ist, das Bett verweigert Was soll der arme Teufel tun? Früher ging er, menn feine Papiere sauber waren, zum Kriminalkommiffar, und der
brüdte manchmal durch, daß der Herausgeworfene doch ein Bett betam. Und wenn es im Asyl nicht gelang, fo gab es immer noch einen Ausweg, den Weg zum Polizeipräsidium. Und dort mußte er, wenn auch nur im Polizeigewahrsam, ein Bett bekommen. Aber das hat nun aufgehört. Der Obdachlose, der aus dem Asyl verwiesen wird, kann nur noch nach dem Bezirksamt geschickt werden. Aber das Bezirksamt hat abends feine Sprechstunden mehr. Und dann liegt der Mensch buchstäblich auf der nackten Straße.
Die Aufgabe der Polizei aber ist mit die Sauberhaltung der Straße, die Sicherung der Millionenstadt. Was fümmert das die Bureaukratie? Die Bureaukratie hat ihre Borschriften, und die fagen: das Nächtigen im Freien ist in die Griffnähe des Arbeitshauses und Gefängnisses gestellt. Und so werden viele tausend Menschen im Jahr durch ihre Armut, durch ihre Not auf die Bahn des Berbrechens getrieben. Die Ordnungshüter schaffen sich selbst ihre Ordnungsstörer. Und wenn die aus dem Asyl Bertriebenen hoffnungslos untergegangen sind, dann erst erhebt sich ein großes Geschrei, dann werden die roten Polizeiplakate gedruckt: Ein Mörder gesucht! Grauenvolles Verbrechen im Part! Rätselhafte Brandstiftung in Berlin ! Unholde schlagen neunzigjährige Greifin nieder! 1000 Mart Belohnung: in der Nacht vom 14. zum 15. Januar.. und so weiter, wie es auf den roten Plakaten und in den Schlagzeilen der Sensationsblätter zu lesen ist.
Das Asyl in der Fröbelstraße und auch die anderen Asyle werden jedes Jahr überlaufen. In den Hungerjahren der Inflation schliefen allein in der Palme" jede Nacht über 5000 Menschen. Diese Palme steht am Strande der Armut und in ihrem Schatten ist wenig Glüd. Auch hier oben im Norbosten der Stadt sammelt sich, wie im Osten am Schlesischen Bahnhof , piel Lumpenproletariat: die Straßen werden terrorisiert, die jungen Banderburschen betrogen, der Handel mit gestohlenen Papieren geht gut. Und an jenem Tage, als der Reporter das Afyl besuchte, begann der erste Aft einer blutigen Tragödie: ein Gastwirt verwies aus seinem Lotal randalierende Rowdys. Am nächsten Tag, zweiter Aft, wurde er von vier jungen Burschen überfallen und mit einer Hundepeitsche erschlagen. Und in der Nacht, dritter Aft, wurden die Totschläger bei einer Razzia verhaftet.
Außenarbeit im Winter.
Mitternacht Eisiger Wind pfeift durch die fast menschenleere Straße und treibt mit den Schneeflocken ein tolles Spiel. In einer windgeschüßten Haustürmische steht ein Säuflein Menschen, die Hände in den Manteltaschen vergraben und mit den Füßen stampfend. Ab und zu wird ein Fluch laut, weil die letzte Straßenbahn so lange auf sich warten läßt. Plötzlich wird die winternächt
liche Stille durch rauhe Männerstimmen unterbrochen. Eine Ko
lonne Gleisbauarbeiter rüdt an, mit Brechstangen, Steinmeißeln, Zuschlaghämmern, Schienenzangen und sonstigem Handwertszeug bewaffnet. In wenigen Stunden müssen sie die alten, ausgefahrenen Gleise dieser Kreuzung mit neuen ausgewechselt haben. Das Arbeitstempo wird durch die ihnen gestellte Aufgabe bestimmt, da die Arbeit nach Schluß der Betriebspause erledigt sein muß. Korbähnliche Defen werden den Schienensträngen entlang aufgestellt, um den Boden etwas anzuwärmen und um die eine Zeit lang auch die Arbeiter händereibend stehen. Und dann geht's an die Arbeit. Im Viertatt sausen die schweren Hämmer auf die Steinmeißel nieder, Brechstangen werden in die Fugen gestoßen und bald wandern die Pflastersteine flink von Hand zu Hand, als wären es leere Pappfartons. Schon sind die Schienen freigelegt, und während noch eine Kolonne mit Schweißbrennern und Schraubenschlüsseln mit der Entfernung der Gleise beschäftigt ist. wälzen andere Arbeiter unter hau- rud- Rufen" bereits neue Schienen heran. Alles vollzieht sich im Eiltempo. Die Leute geraten trotz der minus 8 Grad in Schweiß. Sie spüren faum die Kälte, die der eisige Bind ihnen ins Gesicht bläst, nur wenn fie fich einmal ver. fchnaufen, padt fie ein Schauer. Und diese Pausen dauern nicht fange, dürfen nicht lange bauern, meil fie den schweißgebadeten Menschen den Tod bringen tönnten. In wenigen Stunden angestrengtester Tätigkeit ist das Berf vollbracht. Jeßt, da die Leute nicht mehr arbeiten, sondern zum Aufbruch rüsten schüttelt sie erbarmungslos der Frost. Eilenden Schrittes, bibbernd am ganzen Körper und hundsmüde, hasten sie ihrer Behausung, dem warmen Bett, zu. Das ist eine Gruppe von Menschen, die um ihrer Eristenz willen in Wind und Wetter arbeiten, wenn man nicht einmal einen Hund hinausjagt. Aber sind diese Gleisbauar. beiter, troß ihrer beschwerlichen Arbeit, nicht noch besser daran als Die Beitungspertäufer und verfäuferinnen, die
schon in aller Herrgottsfrühe an den Straßeneden stehen? Wer achtet schon groß auf sie, die den zur geheizten Arbeitsstätte Eilenden die frostftarren Hände mit der gewünschten Zeitung entgegen strecken und in den paar„ Geschäftsstunden" vor Kälte faft vergehen? Ihre Kollegen und Kolleginnen in den Kiosten haben es dagegen schon etwas besser, obwohl auch fie bei einer solchen Dauertälte nicht zu beneiden sind. Man schaue nur einmal einem solchen fliegenden Zeitungshändler, der an einer recht mindigen Ede steht, ins Gesicht, wie sich darauf das aus den Augen getriebene Wasser zu Eisperlen verwandelt. Oder sind etwa die Bollejungens" beneidenswert, die schon in den frühesten Morgenstunden auf ihren luftigen Sitzen durch Berlin gondeln und, auf einem Halteplatz angekommen, wie die Besessenen umberfpringen, weil ihnen die Glieder steif vor Kälte geworden sind? Wenig angenehm ist es auch, um diese Jahreszeit an einem Eisentonstruktionsbau zu arbeiten, wie er zum Beispiel augenblicklich am Hochbahnhof Rottbusser Tor ausgeführt wird. Da fizzen die Schloffer mit ihren Helfern in luftiger Höhe auf den Eisenträgern. Das Handwerkszeug ist eistalt. Der scharfe Wind pustet nur so durch die Kleider, daß die Zähne flappern. Die flammen Finger fönnen faum den Breßlufthammer halten, der im Ma schinengewehrtaft auf die Mieten pocht und den Körper schüttelt, wie ein Sturm die Baumkronen. Welcher Mensch, der in der geheizten Werkstatt oder im warmen Bureau sein Tagewert ver richtet, möchte jetzt mit dem Berkehrsid) utmann tauschen, der wohl zwei Stunden lang mie angenagelt auf einem Fleck aus. halten muß. Seine gymnastischen Uebungen sind nicht so intensiv, daß sie den Körper warm halten fönnten. Er hat während seines Dienstes teinen anderen als den einen Wunsch:" Ablösung". Ale, bedienstete, Rutsher, Zeitungs- und Depeschendie der Beruf auf der Straße festhält, ob sie nun Berkehrs. fahrer, Wurst magen, Motorradfahrer, Straßen
reiniger, Nachtwächter oder dergleichen sind, empfinden diese Dauerfälte besonders bitter. Gerade diese Berufe gehören nicht gerade zu den bestbezahlten, so daß die, die sie notgedrungen ausüben müssen, nicht einmal die Mittel erübrigen fönnen, um sich durch zwedentsprechende Kleidung und Ernährung gegen die Un bilden der Witterung einigermaßen zu schüßen.