Nr. 77 46. Jahrgang
2. Beilage des Vorwärts
Ein klassisches Werk über die sowjetrussische Wirtschaft.
Die russische Volkswirtschaft ist im Laufe weniger Nachkriegsahre einer derart radikalen Umstellung unterzogen und so häufigen tiefgehenden Erschütterungen ausgesetzt worden, wie sie die Wirt schaftsgeschichte der Menschheit noch nie in ähnlichem Umfange und folchem Tempo zu verzeichnen hatte. Sieht man von der Ent eignung der Gutsbefizer zugunsten der Bauern ab, die eine natürliche Konsequenz der Revolution war, so wurden die wirtschaftlichen Erschütterungen nicht durch elementare Ereignisse, sondern durch eine willkürliche und gewaltätige Wirtschaftspolitik verursacht, die im Gegensatz zu der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes stand. Als Tropfi 1926 auf dem Kongreß der Komintern darauf verwies, daß die Wirtschaftspolitik der Sowjetregierung doch ein wenig der Wirtschaftsgeschichte Rußlands Rechnung tragen sollte, verhöhnte ihn Bucharin wie folgt Wie kann ein Revolutionär so sprechen? Haben wir doch im Oktober 1917 unsere Wirtschaftsgeschichte recht kräftig mit den Füßen getreten!" Diese
gewollte Loslösung von dem Entwidlungsstand der Wirtschaft
und Kultur des Landes, der kühne Glaube, daß man die Geschichte mit Gemalt überlisten und Entwicklungsphasen nach Belieben überfpringen fann, bildet das wesentliche Merkmal der Wirtschaftsexperimente des Bolschewismus. Als wirklichkeitsfremde Schöpfungen sind die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Sowjetregierung in stetem, vielfach gegensäglichem Wandel begriffen. Schon dieser häufige Wechsel der Wirtschaftspolitik würde genügen, um selbst eine prosperierende Volkswirtschaft durch die stete Unsicherheit ernst zu gefährden. Der russischen Volkswirtschaft aber, die seit Jahren in ein grandioses Bersuchsfeld verwandelt wurde, läßt das laufende Band diktatorischer Wirtschaftspolitik buchstäblich feine Atempause zur lebendigen Entfaltung und organischem Wachstum. Wer sich über die heutige Wirtschaftslage Rußlands in all ihren dramatischen Berwicklungen der drückenden Lebensmittel- und Warennot, dem tatastrophal hohen Preisniveau der Industriewaren, dem Ausbleiben der Getreideausfuhr, der bedrohlichen agrarischen lebervölkerung, der starten Arbeitslosigkeit und dem fintenden Reallohn usw. fachlich orientieren will, der muß den Werdegang der Sowjetwirtschaft, die wirtschaftliche Bielgestaltigkeit der legten zehn Jahre flar übersehen.
-
In der deutschen Literatur fehlte es bisher an einer instematischen Untersuchung der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung Rußlands nach der Revolution. Um so begrüßenswerter ist es, daß A. Jugow, ein gründlicher Renner der Sowjetwirtschaft, ein sehr beachtens wertes Wert„ Die Bolts wirtschaft der Sowjetunion und ihre Probleme"( Berlag Kaden u. Co., Dresden 1929) erscheinen ließ.
Die ganze Tätigkeit der Sowjetregierung auf allen Wirtschaftsgebieten in all ihrer bunten Fülle und ihrem ununterbrochenem Wechsel zieht an uns vorbei. Ein dramatischer 3wiekampf zwischen. den weitausholenden Dekreten und der rückständigen Wirklichkeit, zwischen dem ausgeflügelten Plan und dem eingezmängiem Leben! Ein Kampf, der zeitweilig blutige Formen angenommen hatte, wie in den Bauernunruhen und dem Matrosenaufstand in Kronstadt vor der Einführung der„ Nep", oder der in stummer passiver Resistenz des Bauerntums sich abspielt, wie gegenwärtig, wo die städtische Bevölkerung und die Arbeiterschaft infolgebeffen unter der schweren Lebensmittelnot zu leiden haben.
Frage nach dem pofitiven Wert der bolichemistischen Planwirtschaft
Die
gewinnt daher eine zentrale Bedeutung. Nichts fönnte allen Sozialisten der Welt lieber fein, als pofitive Wirtschaftserfolge in Rußland , die ja im Namen des Sozialismus unternommen wurden. Deswegen ist aber gerade der ehrliche Sozialiſt verpflichtet, auf Grund der Er fahrungen der boljchemistischen Wirtschaftspolitit sich über deren. Grundfehler derselben kritisch Rechenschaft abzugeben. Das Lehrgeld, das die russischen Volksmassen seit Jahren in Not und Leid bezahlen, soll den Arbeitermassen in Westeuropa bei der Vermirklichung des Sozialismus erspart bleiben.
Die Untersuchung Jugoms über die Ziele, die Methoden und die Erfolge der Planwirtschaft und der Verstaatlichung in Sowjetrußland bietet in diesem Sinne wertvolles Material. Die russische Volkswirtschaft, wo über 80 Proz. der Bevölkerung in einer primitiven und rückständigen Landwirtschaft tätig sind, war am allerwenigften für eine sozialistische Planwirtschaft reif: es fehlten die objettiven Boraussetzungen einer planwirtschaftlichen Regu lierung der Wirtschaft. Der plarfozialistische Radikalismus im Sowjetstaat auf der Spize getrieben, hätte selbst viel fortgeschrittenere Volkswirtschaften aufs schwerste lähmen müssen
Ginsegnungs- Anzüge
Anzüge rethig 29.
blau Cheviot...
M.
Anzüge 12reihig
blaue kräftige Ware
Anzüge
M. 34.
blau Kammgarn...... M. 48.m
Anzüge
blau, Cheviot oder Kammgarn M. 62.
Man hat eine allumfassende Verstaatlichung der Industrie bis auf die Zwergbetriebe vorgenommen, ohne sich über das Organisationsproblem nur im geringsten klar zu sein. Nachdem man die mechanische Berirustung der verschiedensten Betriebe auf Befehl durchseßte, wechselte man im Laufe eines Jahrzehntes dreimal von Grund auf das Berwaltungssystem der staatlichen Industrie mit dem Erfolg, daß die Initiative der Betriebe unter dem
ftarren Zentralismus
erstickte: Alle Betriebe unterstehen bei uns einer Leibeigenvormundschaft", wie das nicht einmal in der vorrevolutionären Fabrik der Fall war, bei uns wissen die Betriebe nicht, worüber sie zu verfügen haben," so kennzeichnete den brückenden Zentralismus der Vertreter des Volkskommissariats für Arbeiter- und Bauernkontrolle Golzmann auf der Konferenz über die Reorganisierung der Industrieverwaltung im Januar 1927. Und er stellte die Organifation der ausländischen Trusts, namentlich der deutschen AEG., als nachahmenswertes Muster hin.
industrie vermehrte nur das Chaos und die Dinge sind so weit ge Die permamente Reorganisierung der Staatsdiehen, daß die Truftleiter, wie der Volkskommissar Ordjonitidse auf dem fürzlich abgehaltenen Gewerkschaftstongreß in Moskau feststellte, die Defrete der Sowjetregierung über die Reorganisation der Industrie gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen, geschweige denn zur Ausführung bringen. Und nun lese man bei Jugow nach, wie es in der
staatlichen Industrie in der Tat zugeht: ,, Bureaukratismus, Mangel an Berant mortungsgefühl, Produktionsprogramme, die von oben herab bittiert werden und in feiner Beise der Maschinerie und der technischen Leistungsfähigkeit der Betriebe Rechnung tragen. Die produktionspolitischen, technischen und finanziellen Boranschläge und Pläne passieren Dugende von Aemtern und werden erst am Ende des jeweiligen Geschäftsabschnittes bestätigt. Revisionen jagen einander, und eine jede dauert drei bis fünf Monate. In der Praxis aber völliges Fehlen jeder Kontrolle, unerhörte Unterschlagungen, mißbräuche. Defraudationen. Ein riesiges Personal an Bureauangestellten, Buchhaltern und Statistikern, Zehntausende Kilogramm Berichts- und RundschreibenmatuIatur und in der Trustverwaltung fehlen die elementarsten Angaben über die Arbeit des Einzelbetriebes, der Oberste Volkswirtschaftsrat weiß nichts von der Arbeit des Trusts. Kommisfionen und Sigungen, Millionen von Ein- und Ausgängen. Untosten und Berwaltungsspesen, die ihrem Umfange nach das vor dem Kriege Uebliche um ein Bielfaches übertreffen. Am trasfesten find alle negativen Momente der heutigen Methoden der Industrieverwaltung in der Art und Weise zutage getreten, wie in den legten Jahren der Industrieneubau betätigt wurde Für diesen
-
3wed wurden auf Kosten anderer Bedürfnisse des Landes viele Milliarden bewilligt. Troß des Borhandenseins zahlreicher Organe, die die Arbeit zu leiten und planmäßig zu organisieren hatten, wurde sehr häufig ohne Entwürfe, ohne Voranschläge, ohne Konstruktionspläne, ohne die Berücksichtigung der neueren technischen Errungenschaften, ohne die Klärung der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit gebaut. Gebaut wurde nicht das, was man brauchte, nicht dort, wo es nötig war, und nicht so, wie es sein sollte. Der Bau der Fabrikgebäude dauerte je drei bis vier Jahre, die Kosten stellten sich auf das Zwei bis Dreifache der Boranschläge..3( Seite 70 ff. des Werkes.)
Der Leser des Jugowschen Wertes findet dabei eine Masse tonfreter Tatsachen, die diese Ausführungen bekräftigen. Infolge der Mißwirtschaft hat Rußland den höchsten Teuerungsinder für Industrie waren der ganzen Welt: dieser beträgt durchschnittlich
das Zweieinhalbfache der Vorfriegs- und das Dreifache der Weltmarktpreise.
Die allgemeine Teuerung wächst seit Juli 1928 und der Reallohn fintt, wie auf dem Moskauer Gewerkschaftstongreß festgestellt wurde. Bon den 2 bis 2,5 millionen Erwerbslofen haben 1927/28 nur 550 000 bis 600 000 Unterstützungen von den Versicherungsanstalten erhalten. 1928 betrug die Erwerbslosenunterstützung im Durchschnitt der ganzen Union 14,3 Rubel im Monat, während das durchschnittliche monatliche Arbeitseinfommen fich auf 60 Rubel belief. Und die rund 3 Millionen Arbeiter, die eine Beschäftigung haben, befinden fich täglich auf der Jagd nach Brot, nach Cebens mitteln, nach Schuhen und Kleidung. Was fie erftehen, ist wenig, schlecht und teuer.
Man lese im Mostauer Gewerkschaftsblatt„ Trub " vom 26. Januar 1929 über die miserable Bersorgung der Arbeiter
Ein Tag von besonderer Bedeutung für Ihren Johnein Tag ungetrübter Freude für Lie,
wenn fie den Festanzug billig, aber doch solid und gut bei uns kaufen!
Esders& Dyckhoff
Kommen Sie
zu uns!
Freitag 15. Februar 1929
bevölkerung mit untauglichen Lebensmitteln nach. Der Oberste Boltswirtschaftsrat organisiert jetzt gerade eine Ausstellung mit der vielsagenden Bezeichnung: ,, Ausstellung der Schundwaren."( Siehe Komsomoljtajo Prawda" vom 27. Januar 1929.) Das Blatt bringt auch zahlreiche Abbildungen dieser Schundwaren, die der Arbeiterbevölkerung geboten werden. Es ist eine Ausstellung des wirtschaftlichen Jammers. Der Volkskommissar Ordjonitidse hat fürzlich auf dem Moskauer Gewerkschaftstongreß nach stundenlanger Schilderung der bolfchemistischen Mißwirtschaft ausgerufen:„ Es ist ein purer Bahnsinn!"
Jedem deutschen Arbeiter, der fich über die Ur. sachen diefes ,, Wahnsinns ", der zum Unheil der ruffischen Arbeiter schaft ausschlägt, fachlich orientieren will, ist die flare, systematische Schrift Jugoms zu empfehlen. Hier lernt man praktisch, wie der Sozialismus nicht gemacht werden darf. Judith Grünfeld.
Die Rätsel der Konjunktur. Leberraschend große Eisenerzeugung im Januar.
Bei der katastrophenartigen Wirkung des Frostes auf das gesamte Wirtschaftsleben hat die Frage, ob wir uns in Deutsch land in einer Wirtschaftstrife befinden oder nicht, ent fcheidende Bedeutung. Bon um so größerer Tragweite für die Beurteilung sind daher die jetzt veröffentlichten, mit 1,10 mill. Tonnen ganz unerwartet hohen Ziffern der Roh. eisenproduttion im Januar, da die jeweiligen Leistungen der deutschen Hochöfen einer der wichtigsten Gradmesser für die Beschäftigung der Schlüsselindustrien sind. Sie betrugen im Monatsdurchschnitt 1926
PF
.
"
Januar 1929
1927
1928( Jan.- Oft)
804 000 Tonnen 1 092 000
1 065 000
1.097 980
.
Alle früheren Monatsdurchschnitte find im Januar übertroffen, der Oktober 1928, der letzte Normalmonat um 8 Proz. Mit einer arbeitstäglichen Leistung von 35 419 Tonnen übertrifft der Januar 1929 den Durchschnitt von Januar bis Oktober 1928 noch um rund 490 Tonnen und liegt nur etwa 4 Proz. unter den durchschnittlichen arbeitstäglichen Leistungen in der Hochkonjunktur von 1927. Das sind Ziffern, die beachtet werden wollen.
Der Güterverfehr der Reichsbahn noch relativ hoch.
Für die Beurteilung der tatsächlichen Konjunkturlage find auch die Wagengestellungsziffern der Reichsbahn wichtig, und diese Ziffern waren Anfang dieses Monats trotz der großen Kältewirtungen in der Wirtschaft noch keineswegs so ungünstig, wie man er marten sollte. In der Woche zum 2. Februar wurden arbeitstäglich 130 400 Wagen gestellt, gegenüber 141 700 zur gleichen Zeit des Vorjahres. In den letzten beiden Monaten Dezember und Januar war die niedrigste 3iffer 125 100. Es liegt also eine Steigerung um 5300 Wagen vor. Die entsprechende niedrigste Ziffer im Vorjahr mar 128 600, fo daß damals bis zum 2. Februar 1928 eine Steigerung von 13 000 Wagen erzielt war. Es ist also im Jahre 1929 trog der enormen Kältewirtungen doch eine beachtliche Zunahme vorhanden, und auch das Niveau selbst, das gewiß um 11 000 Wagen pro Tag niedriger ist als im Vorjahr, braucht noch keineswegs zu beunruhigen. Die enorme Kälte der allerlegten Tage wird allerdings die Güterversendung wohl noch weiter einschränken.
Merkwürdige Elektropolitit.
-
Aus dem westlichen Deutschland kommt eine überraschende Mela dung. Danach wurde unter der Führung des Rheinisch- West< fälischen Elettrizitätswerts von diesem, den Mainkraftmerken, der Braunfohlenindustrie A.-G., den Bereinigten Elektrizi tätswerken Westfalen, dem kommunalen Elektrizitätswerk Mark und dem Baden- Werk die Westdeutsche Elettrizitätswirt schafts- A.-G." mit dem Sig in Frankfurt gegründet. Die neugegründete Gesellschaft hat vorläufig ein Kapital von einer Million Mart, in das sich ebenso ist es im Aufsichtsrat die sechs Gründerwerke zu je einem Sechstel teilen. Als Zweck der Gesellschaft wird die Lösung gemeinsamer Aufgaben durch gemeinsames Vorgehen in den von den Gesellschaften beherrschten Elektromirtfchaftsgebieten genannt. Die neugegründete Gesellschaft nimmt in einem Kommuniqué für sich in Anspruch, damit die westdeutsche Elektrizitätswirtschaft unter einheitliche Planung und Leilung zu nehmen( übrigens eine starke Uebertreibung, da die Saar und die Pfalzwerke fehlen).
-
Diese Gründung ist in hohem Maße, merkwürdig. Bor nicht langer Zeit haben Preußen, das Reich und Bayern für
Gertraudten strasse 8-9
An der Petrikirche