Nr. 93* 46. Jahrgang
± Beilage des Vorwärts
Sonntag. 24. Februar 4929
D«r harte Winter scheint eichlich zu weichen. Und durch in« Kahlenknopphcit, die Misere der kallen Wohnungen, werden Menschen aus die Straße gejagt, die bei aller Armut sonst doch noch ein Gegenstand des Neides für alle die waren, die, wenn schon nicht ganz ohne Obdach, doch als arbeitslose Inhaber einer „Schlafstelle' nicht wußten, wo sie den Tag verbringen sollten. Ueberftillt sind die Räume der Arbeitsnachweise, überfüllt sind die Warmehallcn und die Wartehallen des Obdachs. Aber sie dienen nur den Allerärmften. Und auch unter denen gibt es Einzelgänger, die die Wissenschast von den warinen Winteln. kn denen man in der kalten Stadt Verlin seinen Tag mehr oder minder gut zu- bringen kann, zu einer richtigen Wisienschast ausgebildet hoben. Freilich: eine einigermaßen annehmbare Garderobe ist die Bor- aussetzung sür die Benutzung fast aller dieser Winkel, denn der „Spechjäger' fällt in seiner grotesken Zerlumptheit unangenehm auf — und dann wird ihm überall die Gastfreundschast gekündigt. Im Warenhaus. Zu allen Erfrischungsräumen kann mau sie jetzt vor den leereu Tischen sitzen sehen. Im Bewußtsein, daß sie hier nur geduldet« Gäste sind, drücken sie sich in die wenigst respektable Abteilung, da, wo weder bunte noch weiße Decken aus den Tischen liegen. Die wenigsten haben noch die Energie, oon Zeit zu Zeit einen Rund- gang durch das Haus zu machen. Man kennt sie in den Waren- Häusern, und wenn sie nur still und ruhig bleiben, dann sind sie geduldete Gäste des Warenhauses, auch wenn sie nichts verzehren. Bei einem Besuch eines größeren Berliner Hauses wurde mir von der Leitung erklärt:.La, es stimmt: in unserem Erfrischungsraum sitzen die Leute oft mit ihrer Tasse Kaffee für zwanzig Pfennig oder auch ohne die stundenlang. Manch« bringen sich ein Buch mit, um nicht einzuschlafen. Wir kennen diese Gäste schon— aber wir stören sie nicht, solange st« nicht durch Erscheinung oder Benehmen unsere anderen Gäste stören. Denn wir liegen in einem Arbeiterviertel, und Arbeiter sind unsere besten Kunden. Dir haben darum schon,
.Schön isl'a nithi, aber itarm.*
um den einfacheren Dedürfniffen Rechnung zu tragen, außer unserem Erfrischungsraum im Erdgeschoß noch eine billige Konditorei ein- gerichtet, in der die Tasse Kaffee mit Zusatz nur zehn Pfennig kostet. Aber selbst wer nicht einmal die verzehrt, bleibt bei uns unbehelligt. Denn der Arbeitslose von heule ist der Sund« von morgen, und der Begriff des„Service', des Dienstes am Kunden, darf nicht nur für die Leute mit dem immer vollen Portemonnaie da sein.' Und richtig! Als ich der Wissenschaft halber mir in der „Groschenkonditorei' eine Tasse besagten Kofsees geHoll Hab«, sitzt an meinem Tisch, eng in ein Cape von vorsintflutlichem Schnitt gewickelt, ein altes Frauchen vor dem leeren Tisch. Roch dem ersten Lössel Kaffee ist mein Wissensdurst in jeder Beziehung gestillt, und ich woge es. sie zu fragen, ob ich ihr mein« Tasse Kasfee anbieten darf— ich hatte ja nicht davon getrunken.„Aber gewiß doch. meine Dam«, warum sollen Sie nicht dürfen?' Und eilig zieht sie das Tablett zu sich herüber.„Schön heiß ist der Kassec!' sagt sie lobend. Da erhebt sich vom Nebentisch«in« Dam«, deren alt- modischem Staat man«txnsolls das Bestreben ansteht, mit den ge- ringen Resten ehemaliger Pracht noch immer«inen respektablen Eindruck zu machen. ,Lch habe gestern sür mein« Tochter zum Geburtstag gebacken— kosten Sie mal, Frau Petzer ...' und schon liegt neben der geschenkten Tasse Kaff« ein kleines Stück Kuchen. Die Alte fühlt nun das Bedürfnis, sich und mich zu unterhalten. „Seh'n Sie, meine Dame, olle kennen mich hier. Ich wohne schon ! vierundzwanzig Jahre hier, so lang« bin ich Witwe. Nun bin ich ganz allein, ich Hobe sie alle zu Bett gebracht, arbeiten kann ich nicht mehr mit bloß einer gesunden Hand. Do gehe ich oll« Tage hierhin, immer sehe ich was Neues, und oft kriege ich was geschenkt. Ja, mich kennen sie hier alle...' Und die dünnen Finger um» klammern die Kasseetasse, als wollten sie ihr gewaltsam den letzten Rest Wärme entziehen. �Kunststudenten.� Das ist eine'alte Sache: Der gar nicht mehr weiß, wo er hin soll, der geht ine Museum. Also habe» tn diesen toltea lagen die Museen«ine antzaordenlNch gestiegen« Besucherzahl. Früher war ja das einfach: da konnte man in jedes Museum gehen, es war an fünf Tagen der Woche sicher geöffnet und kostete kein Geld. Jetzt ist das anders geworden, und ganz vorsichtig« Leute schreiben sich die Besuchsordnung ab. damit sie nicht etwa in der Borhall« wieder umkehren wüsten, well das Eintrittsgeld unter Umständen mehr tostet, als ihr« ganze Barschost beträgt. Aber das ist nicht alle». Zwischen Museum und Museum ist ein gewaltiger Unter» schied, und wenn es den meisten dieser Besucher auch ganz egal ist. ob sie ein« üppige„Aurora in.. Oel ' oder einen knochendürren ge- pökellen Pharao ansehen— es gibt ausschlaggebend« Unterschied«. Denn im Museum' für Bölkerkund« z B. ist ein« so prähistorisch« Litstheizungsanlag». daß dl« armen Ausseher in Hut und Mantel Dienst tun, well in den oberen Räumen die Temperatur ganze zwei Grad beträgt: in der„Sammlung für Deutsch« Boll»tun de' aber ist es wunderschön warm, well sie vom Finanzamt mitgeheizt wird. Und darum hat diese», ein» der kleinsten Museen Berlin », ein dankbare, Stammpublikum— es wurden an einem Tag« hier schon dreihundert Besucher ge- zählt! In seinen winkligen Räumen, ongestopst mit Urväterhausrat, sichtt man sich jetzt wohl und heimisch—- und was nützt einem heute die ganz« klassisch« Kunst der Griechen, wenn man bei ihrer Betrachtung frieren muß! von ähnlichem Publikum gern besucht werden auch die Lese- säl« der Bibliotheken, vqran die Räum« der Stadt- bibliothet, tn der sich die Klugen rechtzeitig den Platz un-
millelbar vor der Heizung zu sichern pflegen. Aber heimtückisch legt sich die milde Wärme um die erstarrten Glieder, und bald kämpft man heroisch einen Kamps gegen den Schlaf, indem man doch nur durch immer wiederholte Ausflüge auf die Korridore und Treppen den Sieg davontragen kann. Denn die Räume des ehemalgen Marstolls sind beklagenswert schlcchr zu lüsten und die von vielen Menschen verbrauchte Luft wirkt an sich schon wie ein Narkotikum. Die Gäste der Post und der Eisenbahn. Daß sich in den Berliner Marlesälen oft mehr Leute finden. die eigenllich jeden Anschluß verpatzt haben, als solche, die wirklich noch aus einen Zug warten, der sie einem neuen Schicksal entgegen- führt— das wissen schon alle. Auch hier ist es dasselbe Bild: Je elender dos Bolk ist, das hier— zehnmal unberechtigt— Schutz und Notobdach sucht, desto schärfer lverden die Armen angepackt. lind wenn«ine sauber und einfach gekleidete Frau bei der Fahr- kartenkontrolle auf dem Bahnhof Friedrichstraße wohlwollend über- sehen wird, schmeißt man denselben Menschen auf dem Schlesischen Bahnhof rücksichtslos hinaus. Am Tage gelingt es eher, sich durch- zuschwindeln— und dann hat der Bahnhos ja noch so viel Kvrrt- dore und Nebenräume, in den«n man sich herumdrücken kann, wenn die Kontrolle naht. Schlimmstenfalls muß man sich schließlich mit der berühmten Fernzugskarte bis zur ersten Station legitimieren. Freilich tostet die, wenn sie auch drei Tage gilt, doch noch über ein« Mark— und wenn man das Manöver öfter wiederholt, hat man schließlich Schwierigkeiten beim Zurückgeben, wenn man dann erklären will, daß man die beabsichtigte Reise leider nicht antreten kann.... Aber auch die Pofl hat ihre ungeladenen Gäste. In allen Post- ämtern mit dem altmodischen Schollerbetrieb gibt es doch schwer übersichtliche Ecken, in denen man sich schon etwas Wärme stehlen kann. Schwankend stehen auch in den belebtesten Postämtern der
SlüMe Völkerkunde- City zerlumpte Gestallen an den Wänden, drücken sich in der Nähe der Heizkörper herum, und selbst dos„gute Publikum', das sich sonst sicher über diese Gesellschaft beschweren würde, hilft jetzt manchmal so einem armen Teufel vor den Augen dar Beamten decken. Eins unserer Postämter aber hat sogar sein« regelrechten Schlasgäste, denn unmittelbar neben der Zentralheizung steht da eine kurze Bank, und in dem Raum ist bis in die späten Abendstunden
82] Kcm&n citut Kevoluliou. Von(jetlia.rl HetrmaMH I�losiat Ungeachtet der gegebenen Versicherungen liegt mithin unser braver 5)erzog in einem solchen Netz, daß er nichi frei verfügen kann. Es lagert sich zwischen Fürst und Bolk«ine unhnlvolle Partei, die im eigenen Jntereste lieb- und herzlos die Wünsche des Voltes niemals an den Thron gelangen läßt. (Dem Redner wird der durch die Reihen gesandte Zettel zu- rückgereicht.) Was muß nun geschehen, um den unheilvollen Zuständen endlich einmal abzuhelfen? Da werden wir denn mit dem Minister von Trosegt ganz einfach sagen müssen: Das einzige, was hier helfen kann, ist ein« Regentschaft. Aber nicht die Regentschaft einer Frau, die wir erst kurze Zeit kennen, d'e nicht unseres Landes und nicht unseres Stammes ist! Das hieße, aus dem Regen in die Traufe kommen.(Sehr richtig) Gehen wir den geraden Weg, bitten wir denjenigen um Uebernahme der Regentschaft, gegen den man uns heute mit hochverräterischen Lügen aufzuhetzen versuchte, der nach dem Ableben unseres Herzogs ohnedies der angestammte und ver- tragsmäßige Erbe des Herzogtums ist: ich meine Seine Durch- lavcbt den Herzog von Dessau . Er ist der natürliche Regent des Landes! (Minutenlanger Beifall. Der M-V. Vlcy verläßt schnell den Sitzungssaal.) Ich habe eben einen diesbezüglichen Antrag herumgehen lassen. Er ist von sämtlichen Abg mit Ausnahme der nicht anwesenden Abg. Oehlke und Schiele unterschrieben worden! (Minutenlanger Beifall.) Meine 5)erren. wir verbinden mit diesem Antrag die Bitte um sofortige Ernennung eines volksthümlichen Ministe- riums und um unverzügliche Einrichtung von öffentlichen Geschworenengerichten. Wir haben erst heute wieder gesehen, welche Dinge im Dunkel der Amtsstube geschehen können! (Wieder lang anhaltender Beifall.) Laßen QU uns also nicht mehr reden» meine Herren»
lassen Sie uns handeln für unser gutes Volk und unser schönes Land! Es lebe Anhalt ! (Bravo !) Präs.: Der Antrag lautet: Herr Präsident, Wir beantragen zu beschließen, Der Landtag wolle sich an Seine kaiserlich« Hoheit den Herrn Erzherzog -Reichsverweser mit der Bitte wenden, daß wegen der hier stattfindenden politischen Umstände und wegen der eigentümlichen Verhältnisse in der Herzoglichen Familie------ Hier bricht das Protokoll plötzlich ab. Es ist nie fort- gesetzt worden- Denn in diesem Augenblick wurden die beiden Saaltürcn sowie die Tribünentür aufgirisien. Soldaten des AnhaU-bern- burgischen Militärs postierten sich an den Eingängen. Durch die mit offenen Mundern stumm starrenden Abgeordneten, an dem seine Verlesung jäh unterbrechenden Präsidenten vor- bei, stapfte in schweren Kanonenstiefeln der Major Schumann bis in die Mitte des Raumes, entfallet« ein Papier und las: „Im Namen Seiner Durchlaucht des Herzogs Alexander Carl , Herzog von Bernburg und Ballenstedt , Herr in Gernrode und zu Hoym etc.! Der conftlluierende Landtag des Herzogthums Anhalt-Bernburg wird seiner hochverräterischen Umtriebe wegen hierdurch mit sofortiger Wirkung aufgelöst. Sämtliche Akten, sämtliche Protokolle sowie der dem früheren Abg Oehlke entwendete Brief werden beschlag- nahmt. Ee wird darauf hingewiesen, daß jede schriftliche oder mündliche Verbreitung der Vorgänge, die in der heutigen letzten Sitzung zum Landesverrat durch die Volksvertreter führten, als Landesverrat zu betrachten ist. Den Abgg so- wie dem anwesenden Publicum wird strengstes Still- zur Pflicht gemacht. Die Namen der Anwesenden werden festgestellt. Sobald in der Stadt oder im Land das ge- ringste bekannt wird, erfolgt Verhaftung und Bestrafung sämtlicher Teilnehmer. Alle im Saale Anwesenden haben sofort nach Vollzug der in dieser Verordnung enthaltenen Bestimmungen durch das Militär unter Führung des Majors Schumann den Saal zu verlassen. Renitenz wird mit sofortiger Verhaftung bestraft. v. Trosegk, bevollmächtigter Minister/ —--- Ein« Stunde später erstattete der Major Schumann
dem Minister Bericht. Die Abgeordneten sowie das Publikum hatten sich ohne Widerstand gefügt. Troseaks bleiches, maskenhaft ruhiges Gesicht beugte sich über die Papiere, die der Major auf den Tisch gelegt hatte. Es war alles da: die Akten, die Protokolle, der Brief. „Sie haben instruktionsgemäß Posten in der Stadt ver- teilen lassen?" „Ist geschehen. Herr Daron." „Gefängnis, Rathaus, Stadttore sind doppelt befetzt, das Schloß dreifach?' „Ist geschehen, Herr Baron ." „Stellen Sie bitte sofort eine starke berittene Eskorte aus absolut zuverlässigen Leuten zusammen für Ihre Durch- laucht die Herzogin, die Seiner Durchlaucht noch heute nach Quedlinburg folgen wird." „Wird veranlaßt, Herr Baron" „Weiter müssen die drei gewandtesten Reiter der Truppe die Nacht in meinem ersten Vorzimmer verbringen und jeder- zell bereit sein, auf mein Geheiß nach Quedlinburg , Halber- stadt oder Berlin zu reiten." „Wird veranlaßt, Herr Baron ." „Es ist gut. Herr Major. Sie können gehen. Ich ver- lasse mich auf Sie." Schumann ging. Sein bärtiges Gesicht war unbewegt. Sein Herz war liberal. Aber seine Stirn kannte nur Pflicht. Trosegk ging im Zimmer auf und ab, bis Friederike kam. Er hatte es erwartet, daß sie kommen würde, und hatte be- schlössen, es kurz zu machen. Ihr Leib war noch gelöst vom Genuß, ihre Bewegungen waren weich und satt. Aber ihr Gesicht war verzerrt, die Stirn eckig gefaltet, der Mund schmal und lang. „Ich soll reisen?" Trosegk ging ins Schreibzimmer.„Bleiben Sie heute draußen im ersten Vorzimmer bei den Soldaten, Bley, daß die keine Dummheiten machen." Achselzuckend kam er zurück.„Du mußt." „Was ist geschehen?" „Ich kann dir das jetzt nicht so sagen. Es wird schon noch alles gut werden. Dein Wagen wartet." Zittern sank vom erschreckten' Hirn schwer durch ihren Körper.„So schnell? Das sieht— das sieht nach— Flucht aus...?" „Frag doch nicht! Nickt jetzt!" Ihr Leib spannte sich. Sie hatte sich in der Gewalt.„Du mußt mir das noch sagen. Ich oerlange es." (Fortsetzung folgt.)