Beilage Montag, 11. März 1929
Der Abend
Spalausgabe des Vorwärt
Bettler in aller Welt
Begegnungen mit dem Elend
An der Ede von Bedford Place, einer Wohnstraße Londons , stand ein wohlgekleidetes, beinahe elegantes Ehepaaar mit einem fleinen Mädchen, rosa Schleife im Haar, und überreichte mir eine Karte. Ich dachte, es sei eine Einladung. Es mar auch eine Einladung: zum Geben. Weare starving"( Wir verhungern) stand auf der Karte. Ich gab.
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Ohne das Kind.
In einem kleinen Ristorante von San Remo, in dem ich zu spetsen pflegte, erschien ein etwa vierzehnjähriges Mädchen mit einem Widelfind im Arm. Die hartgefottensten aller Menschen verkehrten in diesem Ristorante: Berufsspieler nom Circoío Matuzzo. Von den Furien des Elends gepeitscht, stürzte das Mädchen von Tisch zu Tisch, und siehe: die Hartgefottenen griffen in ihre Taschen, und der Teller des Mädchens füllte sich. Noch einmal tam die Bettlerin ins Risto rante, zur Zeit der Fremdensaison, als dort Kurgäfte speisten, ehrbare Bürger, die Wert darauf legen, es nicht nur zu scheinen. Auch sie war ehrbar geworden, haufierte mit Handarbeiten ohne Kind. Niemand gab.- Wo ist das Kind?" fragte ich fie und dachte: vielleicht längst unter der Erde." Bei seiner Mutter," erwiderte die Bierzehnjährige. Gibt es nicht mehr her, seit es auf ist."
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Zwei Wochen später wurde sie als Leiche an die Küste geschwemmt.
Angebettelte Bettler.
Bir marschierten, ein langer 3ug von vertriebenen Südseedeutschen, durch Wesel . Zerfumpt, zerbrochen, verarmt. Beinahe an den Bettelstab gebracht.
Ein Schwarm von Kindern stürzte sich auf diesen Bettlerzug: ,, Gebt Brot! Gebt Brot!"
Wir gaben. Wir gaben von hem gesparten Schiffsproviant, den wir unseren hungernden Familien mitbringen wollten.
Angst um die Wunden.
Ich ging mit einem deutschen Arzt die Zitadelle von Kairo Hinauf.
Im Nn waren wir von einem Trupp von Bettlern umringt, die ihre Gebrechen zeigten. Wir gaben. Der Arzt hatte Mitleid mit einem ngen Burschen, dessen linker Fuß einer einzigen eiternden Bunde glich. Er bestellte ihn zu sich und versprach, ihn zu heilen.
,, Nein," jaminerte der ,,, um Gottes willen, laß meine Wunden bluten. Wenn heil, bekomme ich keinen Backschisch mehr." Die zuckende Maffe Mensch.
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In Buri mar's, an der Koromandeltüste zwischen Madras und Kalkutta . Hier sah ich die zuckende Masse Mensch. In dem berühmten indischen Wallfahrtsort, dem Tempel des lotosäugigen Dichagannah, eine halbe Stunde vom Meer entfernt, sah ich sie. Das größte Pantheon der Welt, Inbegriff aller Gnadenschätze, Inbegriff aller himmlischen Verheizungen und- Inbegriff alles frdischen Elends ift Puri. Hier wohnt nicht jenes andere Elend, das Mitleid wachruft, hier herrscht das Elend des Grauens, ein Massenelend, vor dem man schaudernd zurückprallt.
Ein unreinlicher, übelriechender, choleraverpesteter Ort von sechseinhalbtausend fensterlosen Häusern, Pilgerherbergen und fcheußlichen Spelunken, in denen jahraus, jahrein und jeden Tag Tausende von Pilgern, Bettelpilgern, zusammengepfercht wohnen, ist Puri.
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Beim Bagenfest aber, wenn der Götze Dichagannah von der delirierenden Menge unter Geschrei und Gesang auf mächtigem Wagen in seine Sommerwohnung gezogen wird Fanatifer werfen sich unter die Räder und lassen sich zermalmen: zu dieser heißesten Zeit, in der man kaum atmen fann, trifft man in dem Seuchennest nicht weniger als 300 000 Bilger. Bettelnd und darbend die meisten. Unsägliche Leiden erduldend- die Hälfte von ihnen ist schon auf dem Herweg gestorben, find sie über Land gezogen, um ihr Letztes zu opfern, um weiterzubetteln, sich wieder heimzubetteln wenn sie das Heim noch erreichen.
Aus allen Teilen Indiens sind sie gekommen, die Bettlerbüßer, den Weg mit ihrem Leib ausmessend, die Hände hochhaltend, ein Gitter um den Hals, sind zusammengeströmt in dem Glauben, daß derjenige, der in Puri geopfert, gebetet und von dem Reisbrei des Tempels gegessen hat, wenn er stirbt, von allen Sünden gereinigt in den siebenten Himmel einzieht.( Doch verratet nichts von den Greueln, die ihr hier seht, wenn ihr der Gnade nicht verluftig gehen mollt!, lehrt der Brahmane.) Frauen find es zum größten Teil, Witwen, die in Indien ein freudeloses, faftenreiches Leben führen, und mögen fie unmündige Kinder sein, die verstorbenen Kindern angetraut waren.
Ich war auf einem fleinen Dampfer gelommen, der Madras mit Raffutta verbindet und auf der Reede von Puri für einige Stunden vor Unter lag. In einem Ochsenfarren fuhr ich den Kuppeln, Binnen und Byramiden entgegen, die von den hundert Pagoden herüberwintten. Das Land ist öde, ohne Begetation. Ein Trupp brauner, faft nackter Menschen rückt gegen mich an. Bald bin ich yon einer Mauer schmutziger, schweißtriefender Leiber umringt: der Karren kommt faum vorwärts. Schreien, Heulen und Jammern. Hände strecken, Hälse recent fich entgegen. Es stöhnt, ächzt, mimmert und winselt aus Hunderten von Kehlen.
Das Lied der Bettler und Büßer. Wie ein Schwarm von Horniffen sind sie um mich herum, zeigen mir ihre Martermale
und Wunden, die Krätzen und Scheußlichkeiten ihres ausgemergelten j Leibes. Was ich nur in den Taschen habe an Badschich werfe ich hin, um loszukommen von dem entsetzlichen Anblick. Das Fernglas entfällt mir. Die Bettler stürzen sich darauf. Ein zottiger Mann mit blutendem Arm hebt es auf, ein anderer mit halbweg gefressenem Gesicht entreißt es ihm. Ein dritter schnappt es mit den zwei übriggebliebenen Fingern seiner verfaulten Hand. Ihm gehört es, und ich lasse es ihm gerne, wenn er nur damit abzieht. Aber das tut er nicht.
,, Backschisch!" und er springt auf meinen Karren.
Ich fahre entsegt in die Höhe: ein Ausfähiger. Die Peitsche hom mein Gott, mas soll ich tun? und ich haue wie ein Wahnsinniger auf die Ochsen los.
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Nur fort, nur fort!
Die Bettlerbrüde in Pefing.
Ueber den Fluß Hutschenho, der den großen Blah im Einheimischenviertel von Pefing durch schneidet, führt eine breite schöne Steinbrüde mit Geländern aus gemeißeltem Marnmor: das ist die Bettlerbrücke. An dieser Brüde ver sammeln sich Menschen, die jeder irdischen oder himmlischen Hoffnung bar sind, die feine Bes rührung mehr haben mit der menschlichen Gemeinschaft: Auswurf, Abschaum, Ungeziefer. Wer hier vorübergeht, wendet ungerührt den Blick ab und hält die Nase zu. Niemand gibt ein Almosen: er würde die fürchterlichen Heerscharen nie wieder los.
Der Bettlerfönig.
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Aber diese Heerfchaaren sind eine Macht. die respektiert sein mill. Eine organisierte Macht unter einem Führer, einem Fürsten : das ist der Bettlertönig. Der ist ein Machthaber, der in Lurus lebt, Häuser und Grundstücke tauft und an seine Kinder ver= erbt. Und er verschafft den Hungernden, zu hunderten Berhungernden ihr verbrieftes Recht. Den Tribut, den der chinesische Bettler von den Reichen seines Landes verlangen darf. Wenn ein Besigender dem Bettlerkönig den rechtmäßigen Tribut vermeigert, fo erzwingt er ihn auf eine sehr einfache Weise.
Ich wollte eines Tages in Tientsien einen fleinen Seidenladen Derlassen. Der Befizer geleitete mich, höflich seine eigene Hand schüttelnd und den Atem monnig durch die Nase einziehend, zur Tür. Da verfinsterte sich der Horizont wie durch eine Gewittermolte. Ein abscheulicher Geruch erfüllte die Luft. Ein Zetergeschrei ertönte. Wir blidten hinaus.
Die Straße war blockiert, der Laden umstellt von menschlichen Scheusalen, die Handel und Wandel zum Stillstand brachten, und vormurfsvoll ihre Monstruositäten vorwiesen: Der Geschäftsinhaber hatte dem Bettlerkönig die Abgaben nicht bezahlt; jetzt wurde er sozusagen von den Bettlern gepfändet. Er mußte bezahlen und er bezahlte.
Jetzt dankten diese Bettler aller Bettler in vollendeter Weise und sangen( o China !) das Hohelied des Seidenhändlers: er habe sie sicherlich nur aus Liebe und zarter Fürsorge hierher tommen lassen, um ihnen ein Geschenk zu machen.( Das sie übrigens bis auf die letzte Münze ihrem König zur Verteilung einhändigen mußten.)
Alsdann verschwand die Wolfe wieder, und der Horizont lichtete fich. Die Hochzeit des Geizigen.
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In Hangtschau erlebte ich mein mertmürdigstes Bettlerabenteuer. Mein Zimmer ging auf einen Hof, der einem reichen, aber geizigen Chinesen gehörte. Eines Tages
wurde
mit
großem
Bomp und Geleit eine
rote Sänfte durch den of getragen. Mein Nachbar führte eine Braut in sein Haus. 21s es zum Nachmittag ging, widerhallte die Luft von fröhlichem Ge lächter. Auf einmol trat ein Bettelmeib in den Hof, anzusehen wie die Best und das Laster, und bettelte laut und vernehmlich. Aergerliche Stimmen riefen ihr zu, sich zu paden. Sie ließ sich nicht stören. Inmer eindringlicher murde ihre Melodie, ein paar Schritte, und sie verschwand im Haus.
Doch der Hof blieb nicht leer. Eine Gestalt mit schaurig leeren Augenhöhlen, geführt von schlotternden, geisterhaft fahlen Opiumrauchern in stinkenden Fezen trat ein, das Lied des Elends auf den Lippen, und nahm den Weg zum Hochzeitsfaal. 3wei Aussägige mit entstellten Gesichtern und verfaulten Gliedern folgten Arm in Arm. Alle tamen sie, das ganze Bettlervolt vor der Stadt, und der Gesang des Elends schwoll brausend aus ihrem Munde.
Ein Bote läuft über den Hof. Eine leere Sänfte wird hastig zum Haus hinausgetragen. Ich werde vom Fenster weggerufen. Als ich wieder hinaussah, tam die Sänfte zurück. Ein vor. nehmer Mann entstieg ihr, in feinste Seide gekleidet. Er tänzelte mit pfiffigen Augen und legeren Manieren dem Hauseingang zu. Da tam schon der reiche Mann selbst heraus und zahlte. Zahle dem Bettlerkönig den noch ausstehenden oder verweigerten Bettler tribut für die Hochzeit und beschwor den Machthaber, dem Treiben seiner Getreuen Einhalt zu gebieten.
Der Bettlertönig machte eine Handbewegung wie ein mittelalterlicher Fürst zu seinen Vasallen. Und das Heer des Schreckens verzog sich, wie durch eine Zauberformel gebannt.
Als ich am Abend auf die Straße ging, sah ich das Wappen des Bettlerkönigs am Hause des reichen Mannes. Ein Kürbis zeigte an, daß der Tribut für die Unglücklichen entrichtet worden mar, und schützte die Glücklichen. Heinrich Hemmer.
Saguig, den 10. März 1929.
,, Brr," wird der Leser sagen und ein Kälteschauer wird ihm den Rücken hinunterlaufen, wenn er die Ueberschrift liest. Aber Rügen ist auch im Winter weder Sibirien noch Land am Nordpol . Wenn nicht gerade ein steifer Ost- odet Nordost weht, ist's dort sogar im Winter meist um einige Grade wärmer als in Berlin , eine Folge des infularen Klimas, das die Temperatur mildert. Immerhin waren es doch die anormalen Eisverhältnisse rund um Deutschlands schönster Insel, die mich diesmal zu ihr hinauslockten. Wenn man täglich in den Zeitungen liest, daß der Strelasund, die Meerenge zwischen Stralsund und Rügen, zugefroren ist, so daß man sogar mit Autobussen hinüberfährt und daß die Schwedenfähren von Saßnig nach Trelleborg oft im Badeis fleden bleiben, so daß die Ueberfahrt, die sonst vier Stunden dauert, des österen 24 oder gar 43 Stunden währt, so reizt es einen Rügenschwärmer", wie ich es bin, mit eigenen Augen zu sehen, wie dort die Natur dem Menschen ihre Stärke zeigt.
Deshalb Sonnabend abend 8.25 Uhr ab Stettiner Bahnhof mit dem Schwedenzug" nach Norden! Schon auf der Fahrt durch die Schneebedeckten Felder der norddeutschen Tiefebene merkt man, daß etwas anders ist als sonst. Stredenweise stoßen und schlenfern die Wagen, daß man meint, es sei eine Feder gebrochen. Aber der Schaffner belehrt einen, dies ,, angenehme Schaufeln rühre von den ..Frostbeulen" der Bahnstrecke her, die dadurch entständen, daß der Frost den Lehmboden unter den Geleisen stellenweise hochtreibe. Fährschiffen in der schmalen Fahrrinne, die der Eisbrecher freihält, Bon Stralsund geht's in der Mitternachtsstunde mit den kleinen hinüber nach Altefähr auf Rügen . Der Bug des Fährschiffes stößt die treibenden Eisschollen auseinander gegen das feste Eis rechts und links der Fahrrinne, das wie eine Rüfte quer über den Strelasund steht.
Auf Rügen selbst hinter Bergen bei der Landenge von Ließom, mo man sonst rechts und links der Bahn die großen Wasserflächen ter beiden Jasmunder Bodden gewahrt, dehnen sich jetzt endlose schneebebedte Eisflächen. Kurz vor 2 Uhr nachts kommt der Zug in Saßniß, der Endstation auf deutschem Boden, an. Im Hotel wird erzählt, daß an den Fährschiffen nach Schweden an manchem der letzten Tage ein ,, Betrieb geherrscht habe mie an den Pfingsttagen. Nicht nur von Rostoc- Warnemünde, sondern auch von Lübeck , Kiel und Hamburg her seien dänische und schwedische Reisende, die von dort nicht weiter fahren konnten, nach Saßniz gekommen, um mit den Schwedenfähren in die Heimat zurüd zukehren.
Heute, Sonntag morgen um 6 Uhr, fahren denn auch zwei der Fähren, die deutsche Preußen" und die schwedische Drotning Victoria", von Saßniz- Hafen aus nach Trelleborg . Bon Sqßniz bis turz vor Stubbentommer ist die Bahn jezt ziemlich eisfrei, von dort
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und besonders von Arfona an aber sta ut sich das Padeis oft haus hoch. Um Mittag wird in Saßnitz gemeldet, daß die Breußen" glücklich über die Mitte der Ostsee gekommen sei, aber wieder hätte umtehren müssen, um der„ Drotning Victoria" zu helfen, die im Eise festsaß. Von Trelleborg her wird schon um 8 Uhr früh das schwedische Schwesterschiff ,, König Gustav" erwartet, aber am Nachmittag ist es noch nicht in Saßniz; es sizt bei Kollider Ort, in der Nähe von Stubbenkammer, fest. Wer eine | dieser Schwedenfähren" benußen will oder muß, dem ist also zu raten, sich mit Geduld zu wappnen. Das Schwesterschiff der Preußen", die Deutschland ", liegt bereits seit einigen Wochen auf der Deutschen Werft in Kiel , um von den schweren Schäden repariert zu werden, die es sich im Padeis geholt hat.
Wenn man von Saßniß aus über die Binzer Bucht und auf's Meer schaut, so sieht man fast nur eine endlose schneebededte Eisfläche. Erst von der Höhe des Steilufers gewahrt man, daß ein dunkler Streifen, den man porher auf dem Eise bemerkt hat, die offene Fahrrinne der Schwedenfähren ist. Im Saßnitzer Hafen fizzt vor dem Bahnhof der schwedische Dampfer Svenste" aus Göteborg schon sechs Wochen fest und es fann noch Wochen dauern, bis er wieder ausfahren kann. Am Saßnizer Strand liegt eine mehrere Meter hohe Eisbarriere, gebildet von einhalb Meter farten Eisschollen. Der Eisgang hat die Dampferanlegebrüde für die, Bäderdampfer einfach fortrafiert. Die mannsstarken Pfähle und Balken sind wie Streich hölzer Auch ein Teil der Badeanstaltsbauten am Strande ist von gefnidt und steden in mirrem Durcheinander in den Eismassen. den Eismassen niedergerissen.
Wer im Sommer die schöne Strandpromenade in Richtung Stubbenfammer bewundert, weiß meistens nicht, daß sie fast alljährlich in den Winterſtürmen arg beschädigt wird, so daß sie immer neu hergerichtet werden muß. An vielen Stellen haben jetzt die Eisschollen, die bis an das Steifufer geschoben sind, den Brome nadenweg fast gänzlich fortgerissen. Auch die tilometerlangen Rohre der Saßnizer Ranalisation find dem Anprall der Eismaffen zum Opfer gefallen und liegen verstreut zwischen den Eisschollen. Mit dem einsetzenden Tauweiter beginnen auch bereits die Abstürze von dem schönen Kreidehochufer. Solange der Frost die Kreide, den Lehm und den Sand bindet, ist keine Gefahr. Sobald aber der Boden taut, sprengt ihn das Schmelzwasser und in gewaltigen Massen stürzt das Hochufer ein, alte herrliche Buchen, die 60 bis 100 Meter hoch auf der Kreide thronten, mit ins Meer hinabstürzend. Man sieht von unten aus Duzende solcher Bäume, die absturzreif find. Gelbe Lehmwolfer und weiße Kreidewolken, die vom Hochufer herabriefeln und bröckeln, find die Vorboten kommender großer Abstürze. Stellenmeije find jest bereits große Erdosaffen abgestürzt. Kd