tfr. 121* 46. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Mittwoch. 13. März 1S29
Zwischen langsam schmelzenden Schnecwällen geht der Weg zum Heim unserer pflanzlichen Exoten, nach dem Botanischen Garten in Dahlem . Auch hier liegt noch alles unter der Schneedecke und hält Winterschlaf. Aber drinnen, in den Gewächshäusern! Da blüht und grünt es, von wohliger Wärme sorgsam umhüllt, treibt Knospen und trägt Früchte! Eine Welt für sich! In den F a r n h ä u s e r n, wo die Pflanzen dicht und groß gen chimmel wachsen, ist gerade Großreinemachen. Alle zwei bis drei Jahre muß die aufgebrauchte Erde wieder erseht werden: für die Gesteinsmassen, an denen das Farnkraut gedeiht und die gleichzeitig die Aufgabe haben, die Erdfeuchtigkeit abzuhallen, gelangen Schlacke aus Feuerungslöchern und Lava(aus Italien eingeführt) zur Ber- wendung. Alles wird hier gelockert, umgegraben. Später werden die Pflanzen wieder frisch eingefetzt. Im Haus nebenan stehen die Bromeliaceen(Ananas-Gewächse) gerade in voller Blüte. Hier färben sich die oberen Laubblätter am Grunde rot. die Blüte selbst ist meist ganz unscheinbar und versteckt. Die Blütezeit dauert hier zwei bis drei Monate. Nun kommt eine zwar ganz unscheinbare und mißfarbene Pflanze, die Tillandsia, eine Flechtenart aus Florida , die ganz ohne Erde wächst und sich von Luft und Staub ernährt. Im Vananenhaus hängen liefrole Vlükenglocken; der ganze Blühprozeß bis zur Fruchtreise dauert dreiviertel Jahr«, die Zeit, bis zu der eine BaNanenpflanze überhaupt tragfähig ist, beträgt zwei Jahre. Die Eßbananen setzen nie Samen an. Die Befruchtung muß hier wegen der fehlenden großen Insekten auf künstlichem Wege durch Pinselbe st äubung geschehen. Di« wilden Bananen (Faserbananen) liefern das Flechtmateriol für Körbe, Matten usw. in chrer Heimat Südamerika . Süßer Banilledust weist auf das angrenzende Orchideenparadies. In zartlila blüht die Cattleya, in einem tiefen Gelb die bolivianisch« Orchidee, die Banda-Blüt getigert mit lila, der Frauenschuh braunrot-getigert. Früher wurden von Blumenfirmen vielfach Expeditionen ausgerüstet, um all die ver- schiedenarligen, eigenartig-schönen Pflanzen zu sammeln; jetzt werden
auf wissenschaftlichem Wege durch Kreuzungsoersuche(es lasten sich nicht nur Arten, sondern auch Gruppen untereinander kreuzen) inter - essaMe Neubildungen gewonnen. Durch eigenartige Formenzeichnung fällt die tropische Begonie(Bittonia) auf. Manche Blätter hoben lichtempfindliche, linsenähnliche Zellen, die das Licht brechen und so hell und dunkel erscheinen. Ein interestanter Exote ist der nächste Nachbar, die Kannenpflanze. Aus winzigen Spitzen am Ende des Stengels entwickelt sich die Kannenform, die ein« Größe von 20 bis 25 Zentimeter erreicht. In ihrem hohlen Innern sterben die Insekten durch Verdauung einen sicheren Tod. In einem becher- artigen Gehäuse blüht die Feigenfrucht und am blühenden M e- lonenbaum(Earica) wölben sich die Blütenblätter zu einem schützenden Schirmdach. Bei all den tropischen Gewächsen ist die Frucht selbst meist unscheinbar an Form und Farbe und ganz ver- steckt. Schön und eigenartig ist immer nur das Blattgebilde. Im Palmen hau« ist so reiches Blühen und Wachsen, daß gerade wieder durch Ausschneiden Lust geschaffen werden muß. Zwischen den immer wieder neu gepflanztcn Gewächsen stehen einige Urahnen, von denen manche das stattliche Alter von fast zwei Jahrhunderten bereits erreicht haben. Während es im Orchideenhaus 20 bis 26 Grad Celsius haben muß. ist es bei den Palmen schon merklich kühler und bei den Kamelien wird es ganz kalt. Hier ist gerade der März die Hauptblütezeit und schon jetzt breitet sich ein Blütenmeer in weiß, rot und rosa über den Raum; daneben Azaleen in ihren zarten und kräftigen Farbtönen. Mit ihren unzähligen winzig- kleinen gelbe» Kügelchen und dem eigenartig herb-süßen Duft steht auch die Akazie— die wir unter dem Namen Mimose kennen in Blüte. Die richtige Mimose ist eine tropische Pflanze; ihre zarten Blätter schließen sich bei bloßer Berührung. Im Kakleenhau» blüht die Aloe in gelb-brauner LiNenform, die Euphorbia in winzig-zarten gelben und roten Blütchen. Die Kakteen tragen an der obersten Spitze und an den Blütenstielen rote, gelbe oder weiße Blüten. Einige von ihnen tragen oben Früchte, rote, apfelartige Gewächse; die in chrer Heimat Amerika auch gegessen werden. Di« Stacheln der ganz großen Kakteen werden von den Mexikanern als Zahnstocher benutzt;«in sindiges Genie, das die Industrialisierung dieses Artikels in die Wege geleitet hätte, bat sich bis jetzt allerdings noch nicht gesunden. Die A go v e sondert in ihrer Heimat einen stark zuckerhaltigen Saft ab, der, in Gärung versetzt, ein beliebtes mexikanisches Getränk. Pulque, liefert. Ihre Blütezeit ist der Sommer, dann folgt der Tod; wenn die Agave ge- blüht hat. stirbt sie. Man schließt die Türe der Gewächshäuser hinter sich, vorüber ist der Sommer und seine buntfarbene Melodie, schnell ist die Phantasie wieder zurückgedreht zur Gegenwart, zur Schneeschmelze auf den schmutzerfüllten Wegen.
Die Tragödie des Verwachsenen. Das Geheimnis des Lichtenberger Mordes enthüllt. Der wegen Mordes an seiner Schwägerin verhastete frühere Pferdeknecht Paul Krüger hat gestern am späten Nachmittag in einem umfassenden Geständnis den Unter- grund seiner Bluttal enthüllt. Sie stellt sich jehl dar als der Schlußakt einer seit Monaten in dem jungen Manne nagen- den Erbitterung. Der Unglückliche schildert ausführlich, was er seit seiner An-, tunft in Berlin im Hause seiner Berwandten ertragen muhte. Er war hoffnungsvoll hierher gekommen, nachdem er seine Stellung aufgegeben hatte und gedachte bei Bruder und Schwägerin ein Heim und einen Halt zu finden. Bald aber mußte er einsehen, daß das Ehepaar ihn nicht für voll ansah. Einesteils störte sie sein Ge- brechen— er war etwas verwachsen—, andernteils nahmen sie Anstoß daran, daß seine Garderobe nicht sehr umfangreich war. Sie brachten die Mißachtung dadurch zum Ausdruck, daß sie ihn bei Ausgängen am Sonntag oder in den Abendstunden nur selten aufforderten, mitzukommen. Geschah es doch einmal, so sorgten sie dafür, daß er hinter ihnen blieb. Den letzten Anstoß zu der un- seligen Tat gab der Sonntagabend. Das Ehepaar besuchte ein Theater, ließ aber den verwachsenen Bruder zu Haus. Früh- morgens ging Fritz K. auf Arbeit und sein« Frau legte sich noch einmal halb angekleidet zu Bett. Als sie eingeschlafen war, erhob Paul sich leise, nahm eine leere Bierflasche, schlich sich an das Bett und schlug auf die Schlafende ein. Nach zwei wuchtigen Hieben aus den Kopf ging die Flasche in Trümmer. Paul packte nun den Hals der Flasche wie einen Dolch und stieß blindlings mit den zackigen Scherben auf den Kopf der Frau ein. Im ganzen wurden 26 Hiebverletzungen festgestellt. Dann zerrte er sie aus dem Bett und würgte sie so lange am Halse, bis sie tot um- sank. Sein blutbesudeltcs Hemd zog er aus, steckte es in deq Küchenherd, übergoß es mit Pettoleum und verbrannte es. Bei dem Geständnis trat klar zutage, daß der Unglückliche aa der vielleicht krankhaften Einbildung gelitten hat, man verachte ihn und fetze ihn zurück. Durch sein Gebrechen überempfindlich, mag er Worten und Handlungen seiner Verwandten eine Bedeutung beigelegt haben, die nicht beabsichtigt war.
Wieder das tödliche Gas. Ein Todesfall und zwei Vergiftungen. Im hause hochmeisterstr. 12 ereignete sich gestern wieder ein schweres Gasunglück. Auf dem Treppenjlur machte sich plötzlich Gasgeruch bemerkbar, der immer stärker wurde. Hausbewohner alarmierten schließlich die Feuerwehr. Als die Beamten in den Laden des 66jährigen Kauf- mann» Haymann-Schaim eindrangen, fanden sie den Mann i» dem völlig vergasten Raum hinter dem Laden leblos auf. Der hingezogene Arzt konnte nur noch den Tod feststellen. Wie ermittelt wurde, hatte sich die Borschluhschraub« des Gasometers gelöst und die ausströmenden Gasmengen hatten den Tod des Ladeninhabers herbei- geführt. Als die Beamten in die über dem Laden gelegene Wohnung Einlaß begehrten, um nachzusehen, ob dort alles in Ordnung sei, wurde ihnen nicht geöffnet. Die Tür mußte deshalb gewaltsam erbrochen werden. Die Feuerwehrbeamten entdeckten den 66jährigen Ingenieur Richard Buchow und feine 50jährige Frau Margarete bewußtlos im Schlafzimmer. Die Gase waren durch Mauerritzen und Dielen nach oben gedrungen und hatten das Ehe- paar betäubt. Wiederbelebungsversuche waren von Erfolg, doch war der Zustand des Mannes so ernst, daß er ins Krankenhau» im Friedrichshain gebracht werden müßte. Bon der Pressestelle der Städtischen Gaswerke werde» wir um Aufnahme des folgenden ersucht: Die Berliner Städttschen Gaswerke weisen ihre Konsumenten immer wieder darauf hin, irgendwelche Manipulationen am Gas- messer a u f keinen Fall selb st vorzunehmen. In Fällen, wo das Gas schlecht brennt, ist stets die zuständige Geschäftsstelle des
KotttAH einet Kevolulion. Von GecltAtl MettntAMn MosIaz „Wie geht es Eurer Hoheit?" „Danke. Kügelgen. Sie können übrigens auch Durch- laucht sagen, oder einfach Sie, wie Sie wollen.— Der Arzt ist zufrieden." „Und Eure Ho— Cure Durchlaucht? „Ich bin auch zufrieden, nur anders zufrieden.— Wenn Sie sich übrigens immer versprechen wollen, können Sie auch bei der Hoheit bleiben." Sie schwiegen eine Weile. „Sagen Sie, Kügelgen, fragte Alexander Carl dann un- vermittelt,„glauben Sie, daß es Leute gibt, die mich hassen?" „Wer sollte Eure Hoheit hassen?" „Ach, Kügelgen, lügen Sie nicht!" Er lachte leise.„Sie wissen so gut wie ich, daß es welche gibt, hier im Schlosse. Und noch mehr, denen ich gleichgültig bin." Er sah zum Fenster hinaus.„Uebrigens: die im Schlosse meine ich gar nicht so sehr. Aber unten, in der Stadt und im Land«? Daß ich ihnen gleichgültig sein muß. ist ja selbstverständlich. Es kann niemand etwas dagegen tun, andern gleichgültig zu sein. Aber daß man mich haßt, möchte ich doch nicht." „Eure Höhest haßt niemand." „Und die Leute von 49, die Trosegk erschießen und ein- „Auch die werden Eure Hoheit nicht hassen." „Ich möchte es doch genau wissen," sann Alexander Carl . .Komisch, daß ich noch nie jemanden danach gefragt habe. Alles ist so komisch... Sagen Sie, wie hieß doch gleich der Mann, der damals den Aufruhr geleitet hat? Ein Jude war's, glaube ich." Kügelgen erschrak.„Abraham Calm heißt er. Uebrigens sollten Eure Hoheit—" „Vor dem ich damals so erschrak— ja. Das ist auch so komisch... Lebt der Mann noch?" „Ich glaube schon." i.... Jl!.
„Das weiß man nun nicht, und man hat ihn regiert... Sehen Sie, dieser Mann muß mich doch hassen!" „Gewiß nicht." log Kügelgen.„Er wird seinen Irrtum eingesehen haben." „So?" Der Herzog lächelte merkwürdig.„Meinen Sie? Irrtum— ja ja, es war ein Irrtum von ihm, natürlich. Er kannte mich ja nicht. Warum eigentlich nicht?" „Weil Eure Hoheit doch nicht alle 48 vül) Anhall-Bern- burger persönlich kennen können!" „So? Geht das nicht?" Alexander Carl sah Kügelgen voll und bittend an.«Sie müssen mir«inen ganz großen Gefallen tun, Kügelgen. Gleich jetzt." „Alles, was Hoheit befehlen." „Ich möchte den— den Calm da kennen lernen. Holen Sie ihn her." „Hoheit—" „Ich bitte Sie darum! „Hoheit wollen bedenken—" „Dann befehle ich es Ihnen, Kügelgen!" Der Kammerherr verbeugte sich.„Aber heut« wird man kaum---" „Es muß heute fein, Kügelgen. Glauben Sie es mir. Schicken Sie Hulsch und drei, vier andere Diener durch die Stadt. Irgendwo wird man ihn finden." Kügelgen ging zur Tür. Alexander Carl rief ihn noch einmal zurück.„Sehen Sie zu, daß Trosegk nichts davon merkt. Er bringt's fertig und läßt ihn noch vorher ver- haften."— Nach einer Stunde erst brachte man Calm. Der Bot« war nach dem Weinberg gewiesen worden. Der Weinberg. steinig, aus kahlem Muschelkalk, lag dem Schloßberg weit gegenüber auf der andern Seite des Flusses: zwischen den beiden Höhen breitete sich die Stadt. Dort auf dem Wein- berg pflegte Calm, seit er seine Gerberei nicht mehr betrieb, mit Ziegler, dem ehemaligen Schloßgärtner, zu sitzen, der nach den Unruhen seine Stellung verloren hatte. Calm sah erbärmlich aus. An seinen schlecht geflickten, alten Kleidern hastete noch gelber Sand. Er wirkte in dem hellen, mädchenhaften Zimmer wie«in dunkles Loch, das in einen Abgrund voll Schutt blicken ließ. Alexander Carl schien es nicht zu bemerken. Er be- trachtete Calws ewig wechselnde Stirn. „Woher haben Sie das?" fragte er kindisch-direkt. Calm wußte nicht, wie er sich diesem merkwürdigen Ge- schehnis gegenüber verhalten sollt«. Zlber bei de» Herzogs
Frage gewann es in seinem kranken, eng gewordenen Hirn eine undeutliche Selbstverständlichkeit. „Das ist feit's Iefängnis," sagte er ruhig. Alexander Carl wies auf den Riß in seiner Stirn und lächelte.„Ja, ja, es geht uns beiden so. Den Stirnen tut das nicht gut, das alles. Treten Sie doch näher, Calm!" Der stapfte gehorsam durchs Zimmer. Er sah aus wi« ein zerzauster, vergreister Satyr. ■ Die blasse Hand des Herzogs fuhr den in ungeschickten. großen Stichen genähten Rand eines Flickens an Calms Rock entlang.„Wer hat Ihnen denn das gemacht? Haben Si« eine Tochter?" „Io. Awwer die hat's nich jemacht... das hat jeflickt de Gerda, was meine Enkelin is. Ee is man erst an zwelf� jährijes Ding. Da kann se das noch nich so." „So? Eine Enkelin haben Sie?" Die Falten in Calws Gesicht zuckten fröhlich.„Iawoll. Is een jutes Mächen!" Die Frage nahm ihm den letzten Rest von Scheu. .Sehen Sie, das habe ich nun nicht. Das muß
merkwürdig sein, wenn so etwas von einem übrig bleibt. sagte Alexander Carl ernst, besinnlich, traurig fast.„Vielleicht war's auch das mit bei mir— und bei ihr..." Kügelgen. der bisher neben dem Bett gestanden hatte. machte sich jetzt in einer Ecke zu schaffen. Er wäre taktvoll hinausgegangen, aber er dachte an sein nächtliches Erlebnis auf der Landstraße zwischen Käthen und Bernburg und hatte schon den Dienern draußen befohlen, für jeden Fall sofort bereit zu sein. „Sagen Sie, Herr Calm," ging Alexander Calm jetzt un- vermittelt auf seine Hauptfrage ein,„haften Sie mich eigentlich?" Calm schwieg. Solche Frage kannte er nicht. Er hatte sie noch kaum verstanden. „Aber Sie haben mich doch jedenfalls gehaßt— damals?� half ihm der Herzog. „Das," quälte Calm heraus,„das war wall oo so von Sie aus." Alexander Carl sann zurück, dachte an den Vorfall auf dem Kirchplatz. Er fühlt« verwundert, daß er all sein Ver- gangenes heute belächeln mußte.„Vielleicht. Ich will Ihnen ja auch gar keine Vorwürfe machen. Ich will Sie ja nur kennen lernen, endlich einmal. Ich glaube nämlich, das �anze Unglück lag nur daran, daß wir uns nicht gekannt aben, daß überhaupt keiner den anderen kennt." (Fortsetzung folgt.;
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