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Nr. 16.

Erscheint täglich außer Montags. Preis pränumerando: Biertel­jährlich 3,30 Mart, monatlich

1,10 Mif., wöchentlich 28 Pfg. frei in's Haus. Einzelne Nummer

6 Pig. Sonntags- Nummer mit illuftr. Sonntags- Beilage Neue Welt" 10 Pfg. Post- Abonnement: 3,30 Mt. pro Quartal. Unter Kreuz­ band  : Deutschland   u. Desterreich­Ungarn 2 M., für das übrige Ausland 3 Mt. pr. Monat. Eingetr. in der Post Zeitungs Preisliste für 1896 unter Nr. 7277.

Vorwärts

13. Jahrg.

Infertions- Gebühr beträgt für die fünfgespaltene Petitzeile oder deren Raum 40 Pf., für Vereins- und Bersammlungs- Anzeigen 20 fg. Inserate für die nächie Nummer müssen bis 4 Uhr nachmittags in der Expedition abgegeben werden. Die Expedition ist an Wochen­tagen bis 7 Uhr abends, an Sonn und Festtagen bis 9 Uhr vormittags, geöffnet.

Fernsprecher: Amt 1, Nr. 1508. Telegramm- Adresse: " Sozialdemokrat Berlin".

Berliner   Bolksblatt.

Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands  .

Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2.

Neue Politik.

Sonntag, den 19. Januar 1896.

und zur Herbeiführung einer gerechten, vernünftigen, das geistige und körperliche Wohlergehen aller Gesellschaftsglieder planmäßig fördernden Gesellschafts- Organisation. Aus der Anarchie des Kapitalismus drängen alle lebendigen Kräfte zur Ordnung des Sozialismus.

Gestern feierte ein Werk der alten Politik, das heißt der Dynasten- und Diplomaten- Politik, das deutsche Kaiser­In welch hohem Grade schon jetzt der Sozialismus das reich, fein 25 jähriges Jubiläum. Es stellt sich äußerlich Prinzip der Ordnung verkörpert gegenüber der kapita­dar als die Erfüllung eines Volkswunsches; das ist aber liftischen Anarchie, die in den heutigen Staaten zu tage eitel Echein, der nur den oberflächlichen Beobachter tritt, das zeigt ein Blick auf die Ereignisse der letzten täuschen kann. Das Deutsche Reich wurde errichtet Wochen und auf die Haltung der internationalen Sozial­von denselben Parteien und zum theil von denselben Per- demokratie. sonen, die 1849 dem Versuch des deutschen   Parlaments zur Gründung eines einigen Deutschland   feindlich gegenüber standen, ihn mit den Waffen in der Hand bekämpften und Duzende der Vertreter des Reichsgedankens standrechtlich er schießen ließen. Wäre damals die nationale Einigung nicht ver­hindert worden, so hätten wir heute ein Deutsches Reich  , das auch Deutsch- Desterreich umfaßte, und die Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 wären uns erspart geblieben.

Expedition: SW. 19, Beuth- Straße 3.

Eine Thronrede

verlas Kaiser Wilhelm II.   bei der heutigen Feier des 25jährigen Erinnerungstages der Neubegründung des Deutschen Reiches  . Sie lautet:

Wir Wilhelm  , von Gottes Gnaden deutscher Kaiser, König

von Preußen u. f. w. thun fund und fügen hiermit zu wiffen: Nachdem fünfundzwanzig Jahre verflossen sind seit dem Tage, an welchem unseres in Gott ruhenden Herrn Großvaters Majestät der einmüthigen Aufforderung der deutschen   Fürsten und Freien Städte und dem Wunsche der Nation entsprechend Zwischen den Staaten ein Streit nach dem anderen, ein die deutsche Kaiserwürde angenommen hat, haben wir beschlossen, Konflikt nach dem anderen, wildes Spektakuliren und Säbel- das Gedächtniß dieses denkwürdigen Ereignisses feierlich zu be­geraffel- bis hart an die Grenze des Entscheids durch gehen, welches dem langen Sehnen des deutschen   Volkes endliche das Schwert. Die orientalische Frage Bankapfel für die und glänzende Erfüllung brachte und dem wieder errichteten europäischen   Großmächte, die Venezuela  - Frage Bautapfel fulturellen Entwickelung inmitten der Völker des Erdreichs gebührt. Reiche die Stellung schuf, die ihm nach seiner Geschichte und zwischen England und den Vereinigten Staaten   von Wir haben dazu die Bevollmächtigten unserer hohen Ver­Nordamerika, die Transvaal- Flibusterei Zaufapfel zwischen bündeten und die Vertreter des Volkes sowie diejenigen Deutschland   und England- welche babylonische Ver- Männer entboten, welche in jener großen Zeit an dem Werke Doch fort mit dem müßigen Wenn und Aber. Wir wirrung, welche Verhegung, welche Summe von wüften der Einigung der deutschen   Stämme hervorragend mitgewirkt wollten nur feststellen, daß das Reich von 1849 Leidenschaften, die da entfesselt werden, welcher Aberwig! haben. und das Reich von 1871 himmelweit verschiedene Dinge Und das sind die Früchte der alten Politik, denn auch Umgeben von den Fahnen und Standarten ruhmreicher sind. Jenes war Werk des Volkes, dieses ist's nicht. das Deutsche Reich sein Bestehen verdankt. Regimenter, den Zeugen des Todesmuthes unserer Heere, die an Im Jahre 1849 hatte das deutsche   Volt nicht die Kraft zu jenem Tage den ersten deutschen   Kaiser grüßten, erinnern wir Mit diesem chaotischen, unwürdigen, barbarischen uns tief bewegten Herzens des erhebenden Bildes, welches das einer dauernden Neubildung, weil es an einem bestimmten Durcheinander vergleiche man das ruhige, überlegene in seinen Fürsten und seinen Völkern geeinte Vaterland den tlaren Programm fehlte. Das Bürgerthum, das in all harmonische Auftreten der internationalen Sozialdemo- Beitgenossen bot. gemein demokratischen Phantasien geschwelgt hatte, bekam fratie. Vor uns liegen amerikanische Parteiorgane, die sich In Rückblick auf die verflossenen fünfundzwanzig Jahre Angst, sobald es das Proletariat auftauchen sah seine über den Krakehl mit England, englische, die fich über den fühlen wir uns zunächst gedrungen, unserem demüthigen Danke Attionstraft wurde gelähmt; es schreckte vor den eigenen Krakehl mit Deutschland  , französische, die sich über beide gegenüber der göttlichen Vorsehung Ausdruck zu geben, deren Jdealen zurück und wurde mehr und mehr reaktionär. Kratehle aussprechen- jedes Wort hätte auch von uns Segen sichtlich auf dem Reiche und seinen Gliedern geruht hat. Wie den deutschen   Bauern im Jahre 1525, so mißlang geschrieben sein können. Das bei der Annahme der Kaiserwürde von unseres unver Absolute Einheit des Fühlens ben deutschen   Bürgern in den Jahren 1848 und 1849 die und Denkens- dort wie hier die Verurtheilung des geßlichen Herrn Großvaters Majestät abgegebene und von seinen Nachfolgern an der Krone übernommene Gelöbniß, in deutscher nationale Einigung Deutschlands  . Chauvinismus, die Betonung der internationalen Treue die Rechte des Reiches und seiner Glieder zu schützen, Solidarität, die Erkenntniß, daß der Weltfriede und die Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands   zu stüzen Verbrüderung der Völker zur Wirklichkeit erst werden und die Kraft des Volkes zu stärken, ist mit Gottes Hilfe bis tönnen, nachdem die Bastille des Kapitalismus gebrochen ist. dahin erfüllt.

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Und so war es den siegreichen Junkern und Fürsten  möglich, die nationale Einigung" so zu vollziehen, wie es ihnen beliebte und wie sie im Deutschen   Reiche zum Aus­druck gelangt ist. Und kein Zweifel: herrschte der Kapitalismus   nicht, Von dem Bewußtsein getragen, daß es berufen sei, nie Ist dieses Reich das letzte Wort der Geschichte? Gerade der die Politik seinen Geschäftsinteressen dienstbar macht, mandem zu Liebe und niemandem zu Leide im Rathe der so wenig wie die anderen Staaten der heutigen Welt. Die Ge- der in der orientalischen Frage, in der Venezuela  - Frage, das junge Reich sich ungestört dem Ausbau seiner inneren Ein­Völker seine Stimme zu gunsten des Friedens zu erheben, hat schichte fennt kein letztes Wort, teine Endgiltigkeit; und mit in der Transvaal  - Frage kurz, in jeder politischen Frage richtungen überlassen können. recht ist der englische   Staatsmann Lord John Russel, der nur eine Geldspekulation sieht, diese skandalösen Streitig feine Reformbill als Finality- Endgiltigkeit bezeichnete, feiten hätten nicht vorkommen und den Frieden der Welt als Finality John der Lächerlichkeit verfallen. Die Kultur- nicht bedrohen können. Staaten von heute ruhen allesammt auf dem Boden der Freilich, ein Gutes haben sie: die Gemeinschädlichkeit tapitalistischen Gesellschaft, die sich fortwährend verändert der heutigen Gesellschafts- und Staatszustände wird den und unzweifelhaft einer völligen Umgestaltung entgegen Massen immer deutlicher vor Augen gebracht und das geht. Die tapitalistische Weltordnung mit ihren Klassen Nahen des Zeitpunktes beschleunigt, wo der Sozialismus kämpfen, ihrer Klassenherrschaft, ihrer Unterdrückung und die herrschende Anarchie überwinden und die Blut- und Ausbeutung der arbeitenden Klassen, ihrem Militarismus, Eisenpolitik mit der neuen Politik des Friedens, der Frei­ihrer Massenverarmung und ihrer fortwährenden Un- heit und der Gerechtigkeit vertauschen wird. sicherheit ist gemeinschädlich geworden- Alles: die wirthschaftlichen Verhältnisse, die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen, ja der Selbsterhaltungstrieb der Menschen alles drängt zur Beseitigung solcher Zustände

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Ein Sang von 1871.

Der Dichter ist Prophet. Wenn er mit dem Volfe fühlt und dejfen Schmerzen belauscht, so hört er nicht allein den Pulsschlag seiner Zeit, sondern er stellt auch, gleich dem geschickten Arzt, die Prognose für die Zukunft. Er hört die Klagen der Armen und Enterbten, mag ihre Stimme erstickt sein unter eisernem Zwang oder unter dem Donner der Kanonen; er weiß, daß ihre Schmerzens­laute nachher nur um so gewaltiger die Welt durchzittern werden. Aber er sieht ebenfalls gleich dem Arzt das hippokratische Gesicht der herrschenden Gesellschaft, mag sie im rasenden Jubel den Tod auch noch so ferne wähnen.

1871. Das neue Reich stand aufgerichtet und alles schwamm in Wonne ob der gegenwärtigen und der kommenden Herrlichkeit. Auch seine Barden hatte das Reich gefunden. Die Geibel, Rittershaus und für Augenblicke sogar Freiligrath waren aus Volksfängern zu Anbetern der neuen Macht geworden und Dußende fleinerer Geister priesen die Thaten und Erfolge der Kriegswaffen.

sal dua

Den Siegestrunkenen" schleuderte Herwegh   einige Worte ins Gesicht, deren bittere Wahrheit sich nur zu bald be­stätigen sollte:

Ach Einheit ist ein leerer Schall,

Wenn sie nicht Einheit ist im Guten, Wenn ihr forinthisches Metall

Uns mahnt an Krieg und Städtegluthen; Ach Einheit ist ein tönend Erz, Wenn sie nur, pochend auf Kanonen, Zu reden weiß an unser Herz

Einheit des Rechte 3 ist fein Schild, Der uns bewahrt vor Unterdrückung, Nur wo als Recht das Rechte gilt, Wird sie zum Segen, zur Beglückung, Nur diese war's, die wir erstrebt, Die Einheit, die man auf den Namen Der Freiheit aus der Taufe hebt;

Das arbeitende Bolt hatte nur einen Dichter behalten, der zwar in seiner Weise auch die Gegenwart besang, aber aus ihr Herwegh   liebte sein Vaterland, für dessen Freiheit er einst die Zukunft prophezeite. Ob er recht geweissagt, mögen einige mit der Büchse in der Hand gestritten, wie nur ein Proben aus seinen Liedern lehren, die wir heute, nachdem das Mann Deutschland   lieben konnte. Nicht Schadenfreude Reich 25 Jahre alt geworden, zum Gedächtniß auslesen wollen. und Lärmsucht drückte ihm den Griffel in die Hand, Herwegh   fab das Junkerregiment, das unter Bismarck   bald genug sondern Zorn und Trauer darüber, daß die Einigkeit von 1871 das Volk bedrücken sollte, heraneilen:

Das Blut von Wörth, das Blut von Spiechern,

Von Mars la Tour und Gravelott'

Einheit und Freiheit sollt es sichern

Einheit und Freiheit? Großer Gott!

Ein Amboß unter Einem Hammer

Geeinigt wird Alldeutschland steht,

Dem Rausche folgt ein Ratzenjammer,

Daß Euch die Augen übergehn!

Es wird die Fuchtel mit der Knute

Die heilige Allianz erneun,

Europa   fann am Uebermuthe defen

Siegreicher Junter sich erfreun!!

eine ganz andere war, als die, die im Jahre 1848 vom Volke erkämpft werden sollte. Es warnt Germania  :

Nach vierundzwanzig Schlachten liegt Der Feind am Boden, überwunden; Bis in die Stadt voll Blut und Wunden Die teinen Retterarm gefunden Brichst Du Dir Bahn Du hast gesiegt! Germania  , mir graut vor Dir!

Mir graut vor Dir, ich glaube fast, Daß Du, in argen Wahn versunken, Mit falscher Größe fuchst zu prunken Und daß Du

Das Menschenrecht vergessen haft.

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I

In freudiger Begeisterung über die heiß ersehnte und schwer errungene Einheit und Machtstellung, in festem Bertrauen auf die Führung des großen Kaisers und auf den Rath bewährter Staatsmänner, insonderheit seines Kanzlers des Fürsten von Bismarck  , stellten sich die werkthätigen Kräfte der Nation rückhaltlos in den Dienst der gemeinsamen Arbeit. Verständnißvoll und opferbereit bethätigte das Reich seinen Billen, das Erworbene festzuhalten und zu sichern, die Schäden des wirthschaftlichen Lebens zu heilen und bahnbrechend den Weg zur Förderung der Zufriedenheit der verschiedenen Klassen der Bevölkerung vorzuzeichnen.

Was in dieser Beziehung geschehen und geschaffen ist, dessen wollen wir uns freuen.

Neben der Ausbildung unserer Wehrkraft, welche zum Schuße der Unabhängigkeit des Vaterlandes anf der Höhe der Leistungs­

Du sahst, wie Frankreich   fiel

Durch einen Bäsar, sahst die Sühne Vollzogen auf der Schreckensbühne Deutschland, gedeihe, wachse, grüne Geläutert durch dies Trauerspiel!

Neber die Milliardengröße, die die Gründerzeit einleitete, ipottete der Dichter:

Seid umschlungen Milliarden!" Hör ich mit Begeisterung Singen unsere Einheitsbarden! Welche Federn, welcher Schwung. Sah man jemals solche Beute

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Wir sind groß ich leugn' es nicht. Thöricht zwar ins Herz geschlossen Hatt ich einst ein Jdeal,

Das zerfezt nun und zerschossen Liegt im preußischen Spital.

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Doch was fümmern uns die Wunden, Die der Ruhm der Freiheit schlug, Mag sie wie sie kann gesunden: Wir sind groß das ist genug!

So fang ein Boltsdichter nach dem Kriege. Manches scharfe Wort fanden wir in feinen Verkündigungen. Wie wahr er aber gesprochen, das empfinden heute, nach 25 Jahren Millionen in unserem Vaterlande, die wahrlich nicht zu den schlechtesten seiner Bürger zählen. Und Aufgabe dieser Millionen ist es, dahin zu wirken, daß die Freiheit trotz alledem und alledem gesunde", und daß dereinst in ihrem Sonnenglanze unser Deutschland   wahrhaft

gedeihe, machse, grüne!