Morgenausgabe
Nr. 156
A 79
46. Jahrgang
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Donnerstag
4. Apríl 1929
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Wien , 3. April. ( Eigenbericht.)
Die Regierung Seipel hat Mittwoch nachmittag um 4 Uhr demissioniert.
Als nachmittags der Unterausschuh bes Mietenausschusses zusammentrat, erklärte dessen Obmann:„ Der Bundeskanzler hat mir soeben mitgeteilt, daß die Regierung dem Bundespräsidenten ihre Demission überreicht hat. Der Bundespräsident hat die Demission angenommen und die Regierung mit der einit weiligen Fortführung der Geschäfte betraut." Diese Mitteilung kam vollkommen überraschend.
Geipels Demiffionsrede.
Wien , 3. April. 3m Ministerrat, welcher die Demission der Gesamt regierung beschloß, führte Bundeskanzler Scipel zur Be gründung seines Beschlusses aus:
Die inneren Spannungen, welche der Ausdrud ftarfer lebendiger Kräfte im Bolke sind, haben ein hohes Maß erreicht. Gelegentliche Explosionen haben feinen allzu großen Schaden angerichtet, im Gegenteil hat sich des Antlig des Staates mejentlich verändert. Die polifische Lethargie ist überwunden. Die Einschüchterung und Gleichgültigkeit bei einem großen Teil der Bevölkerung besteht nicht mehr. Die Erkenntnis, daß
tein einseitiger Radikalismus Aussicht auf Erfolg bat, ist endlich allgemein geworden. Damit lenkt nach zehn Jahren des Bestandes der Republik unser politisches Leben von den Bahnen ber Revolution auf den Weg normaler Entwicklung ein. Die Gefahr, daß die bestehenden Spannungen in inneren Krisen die Demokratie ernstlich bedrohen tönnten, sehe ich nicht. Wohl aber besteht die Gefahr, daß infolge der Spannungen einige für das Wirtschafts- und politische Leben wichtige Fragen, wie Wohnbauförderung, Mietrechtsreform, Justizreform einschlich lich der Polizeikompetenzfragen das Verhältnis zwischen uns und den Ländern keine befriedigende sung finden, welche sachlich mög lich wäre. Würden solche Streitpunkte beseitigt, fönnten sich Regierung und Gesetzgebung verhältnismäßig ungestört mit den Sorgen des Wirtschaftslebens beschäftigen. Dies könnte um so eher geschehen, als die österreichische Außenpolitik auf gutem Wege ist, da die Notwendigkeit ehrlicher Realpolitif, welche einseitige Bindungen nach irgendwelcher Seite vermeidet, gemeinsame Auffassung aller Parteien ist. Die Berhandlungen zur Vorbereitung der Inve= ftitionsanleihe sind mit fo gutem Erfolg foweit geführt, als es in diefem Zeitpunkt sein kann. Durch intensive Wirtschaftspolitif im Innern würde auch in der Handelszollpolitik wieder mehr Stetigkeit tommen, welche in jüngster Zeit infolge der inneren Schwierigkeiten etwas gestört wurde.
Drama in der Grenzwachstube. Russischer Handelsvertreter erschießt polnische Polizisten. Warschau , 3. April.
Die Sozialpolitit ift in Desterreich soweit fortgeschritten, daß fie teine Erbitterung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern mehr zu erzeugen brauchte,
wenn nur gründliche Abkehr von Rechthaberei und terroristischen Methoden erfolgte,
wofür volle Sicherheit allerdings auch durch die Gesetzgebung wird geboten werden müssen. Die angeführten Spannungen werden zu erheblichen Teilen, wenn auch mit Unrecht, der gegenwärtigen Regierung zu Laft gelegt. Durch beharrliche Agitation wurde viel aß angehäuft, melcher, fomeit er die Person betrifft, zu ertragen wäre, obwohl er ohne jeglichen Schein eines inneren Grundes auf meinen Stand und auf die Kirche ausgedehnt wird. Aber es soll weder den einen ein Ausweg, auf dem sie zu rein fachlicher Arbeit für das öffentliche Wohl zurückkehren können, verschlossen, noch den anderen eine Ausrede gelassen werden, wenn sie es nicht tun. Deswegen halte ich es für richtig,
den polifischen Parteien die Möglichkeit zu geben, in anderer Weise, als es unter meiner Führung geschehen könnte, die Zukunft sicherzustellen.
Zu diesem Behuf habe ich mich entschlossen, die Demission zu geben. Auf Antrag des Bizetanglers Hartleb beschloß der Ministerrat, da die vom Bundeskanzler angeführten Gründe für die Demission in gleicher Weise alle Mitglieder der Bundesregierung betreffen, den Rücktritt der Gesamtregierung.
Der Wohnungsunterausschuß vertagte die Berahung der Wohnungsfrage mit Rücksicht auf die Regierungsdemission auf unbestimmte Zeit.
Nachrufe.
Die Arbeiter 3eitung" fagt in ihrem Nachruf auf die Regierung Seipel , daß Dr. Seipel den Gegensatz zwischen der sozia listischen Arbeiterschaft und den bürgerlichen Barteien auf das äußerste verschärft, sein 3iel der Schwächung der Sozialdemokratie aber nicht erreicht habe. Seipel stehe am Ende feines Kirchenlateins und nun gelte es, zu sehen, welche Konsequenzen die bürgerlichen Parteien ziehen werden. Was Deutschöfterreich brauche, sei nicht bloß ein Personenwechsel, sondern ein Wechsel der politischen Methode!
Die Bilanz Seipels.
Mieterschutz und Kirchenaustritt.
Dr. Ignaz Seipel hat nun fünf Jahre lang die Staats geschäfte der Republik Deutschösterreichs geleitet. Er war es, der 1922 in Genf den Sanierungspakt abschloß, durch den die Inflation beendet und die Währung stabilisiert wurde. Ein gewaltiger Beamtenabbau und eine furchtbare Drosselung der Staatsausgaben wurden von der Völkerbundskontrolle unter der Leitung des Holländers Zimmermann befohlen; dazu kam eine dauernde schwere Arbeitslosigkeit, die jahraus, jahrein gegen 300 000 Arbeiter erwerbslos machte. Die Unterstügung ist gering, und es gibt viele Tausende, die nicht mehr empfangsberechtigt sind. In Zeiten wirtschaftlicher Krise steigt die Erwerbslosigkeit noch darüber hinaus, in Wien wird sie durch die gewaltige Wohnbautätigkeit und die sonsti= gen Berbesserungswerte der Rathaus- Marristen" dauernd unter dem Staatsdurchschnitt gehalten.
alten großen Wirtschaftsgebietes geschaffen hat, und dessen In dem verkümmerten Staat, den die Zerreißung des Ausfuhrindustrie durch die Zollmauern schwer gehindert ist, kann der allergrößte Teil der städtischen und auch der länd lichen Bevölkerung sein färgliches Leben nur dadurch fristen, daß die Wohnungsmiete äußerst niedrig iſt. Diesen Mieterschuh, der im Weltkrieg verordnet worden ist, wollen die bürgerlichen Parteien abbauen. Sie behaupten, daß jeder Anreiz zum privaten Wohnungsbau fehle, wenn nicht die Aussicht winkt, damit ein Geschäft zu machen. In der Tat hat sich gezeigt, daß nur die Städte Neuwohnungen gebaut haben, wien bereits über 30 000. Nachdem ein früherer Bersuch der bürgerlichen Koalitionsregierung, den Mieterschuß abzubauen, an der Obstruktion der Sozialdemofraten im Parlament gescheitert war, errang der Bürgerblock bei der Neuwahl 1927 nochmals die Mehrheit, allerdings unter der Parole: Mieterichuz gesichert, wählt Einheitsliste!" Trozdem hat die Regierung abermals den Abbau des Mieterschutzes beantragt. Wiederum traten die Sozialdemokraten in den schärfsten Kampf, und da bei ihrer Stärke und bei ihrer Zweidrittelmehrheit in der Bundeshauptstadt ein glattes Hinweggehen über sie nicht möglich ist, wurde schließlich ein Vertrag zwischen den Sozialdemo fraten und den Regierungsparteien geschlossen. Er bestimmte, daß in einem Unterausschuß des Mietenausschusses sachlich und ohne Obstruktion verhandelt werde, um zu einer Einis gung zu fommen sollte dies nicht möglich sein, so sei das Volf zu befragen entweder durch Neuwahl oder durch Volks abstimmung.
Der führende christlich- soziale Abg. Kunj chat fagte heute abend in einer Bersammlungsrede u. a.: Es mar für Dr. Scipel unerträglich, daß ihm die Schuld gegeben wurde, an der Zuspizung der inneren Gegensätze und namentlich auch an der Kirchengung zu kommen austrittsbewegung. Jetzt ist die Klärung geschaffen, die die Sozialdemokraten gefordert haben. Die Person Dr. Seipels ift meg. das System der bürgerlichen Koalition bleibt. Aber darüber darf man sich nicht täuschen: Seipel kommt nicht mehr!
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Da nun die Beratungen im Unterausschuß ergebnislos geblieben sind, wäre der Zeitpunkt für die Volksbefragung gekommen. Die Führer der Regierungsparteien wünschen jedoch die Boltsbefragung nicht; einmal müffen sie sich ein gestehen, durch ihr Verhalten die eigene Wahlparole von 1927 Lügen gestraft zu haben, dann aber mögen die start geftiegene Arbeitslosigkeit, die mutwilligen Aus perrungen und sehr wohl auch die zunehmenden Ausschreitungen ber faschistischen Heim wehren die Bürgerblodführer mit Angst vor der Antwort des Volkes und nicht nur der sozialdemokratischen Ardes Volkes erfüllen! Jedenfalls lehnt Seipel die Volks
der ruffisch- polnischen Grenze ein Mitglied der russischen Handels brädent Bartel in seinem eigenen und im Namen des befragung ab, und da er, mit einem offenen Vertrags
Heute früh erschien im Polizeikommissariat Baranowitschi an mission, 3wan panasewitsch, und verlangte Schuh, weil er fich bedroht fühle und ein Attentat auf ihn geplant sei. Während der Polizist Kucharkowskimit der Wojwodschaftsbehörde telephonierte, 30g der Ruffe einen Browning und streckte den Polizisten mit drei Schüffen tot nieder. Den entgegenkommenden zweiten Polizisten Zelazkowski verwundete er so schwer, daß dieser bald darauf starb. Danach richtete Apanajewitsch die Waffe gegen feinen Kopf und verwundete sich. Seine Frau sah der ganzen Szene regungslos zu. Beide lehnen jede Erklärung ab. Sie wollen erft vor einem höheren Gerichtsbeamten und in Anwesenheit eines Delegierten der Sowjetgefandtschaft in Warschau aussagen. Apanasewitsch hatte seine Familie in Polen befucht und sollte heute über Baranowitschi nach Moskau abreifen. Er drahtete aber nach Moskau , daß er sich bedroht fühle und Polizeischuk verlangen werde. Ueber die Motive der Tat hat man teine Anhaltspunkte. Es ist möglich, daß Apanajewitsch dadurch erregt wurde, daß man ihm nicht sofort den verlangten Schuh gab, sondern sich mit den Behörden in Berbindung fehte, was längere Zeit dauerte.
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Ent.
Regierungswechsel in Polen . Demission genehmigt und geheimaehalten. Warschau , 3. April. ( Eigenbericht.) Von unterrichteter Seite verlautet, das Minister. Kabinetts den Staatspräsidenten um lassung ersucht habe. Sie ist wie weiter mitgeteilt wird bewilligt worden, soll aber erst mit der Er - bewilligt worden, soll aber erst mit der Er nennung der neuen Regierung bekanntgegeben werden. Staatspräsident Moscisti hat, wie es heißt, in den Verhandlungen einen selbständigen Standpunkt eingenommen und sich mehreren Kandidaten, die von der biktatorischen Oberstengruppe für den Posten des Ministerpräsidenten aufgestellt wurden, entschieden widerfest. Mehr als die Hälfte der bisherigen Minister dürften der neuen Regierung nicht angehören. Es fällt auf, daß Pilsudski sich bei der Regierungsumbildung völlig im Hintergrund hält.
Reichsaußenminiffer Dr. Stresemann trifft heute abend aus Heidelberg wieder in Berlin ein und nimmt seine Amtsgeschäfte mieder auf.
bruch belastet, nicht gut weiter regieren fonnte, ist er zurüdgetreten. Wenn die übrigen Minister sich dem Rücktritt angeschlossen haben, so war das ein Att begreiflicher und geradezu selbstverständlicher Solidarität, die aber für die Zufunft nicht bindet.
Es ist bekannt, daß das Verhältnis unter den Regierungsparteien weit entfernt von Intimität, oder selbst von aufrichtiger Freundschaft ist. Die Groß deutschen als antifleritale Partei verlieren durch ihr dauerndes Zusammengehen mit den Christlichsozialen den letzten Rest von Anhang. Die Bauernbun bler, mit ihren unflaren Bestrebungen sowieso unsichere Kartos nisten, stehen in dauerndem Gegensatz zu jenen Christlich sozialen. die städtische Interessen doch nicht ganz hintans fegen fönnen. Soeben hat die Regierung durch sanitätspolizeiliche" Maßnahmen gegen die Vieh- und Fleischeinfuhr aus Polen eine gemaltige Droffelung dieser für die Städte lebensnotwendigen Einfuhr im Interesse der Agrarier vorge