Nr. 162» 46. Jahrgang Ii* �00<��01 Sonntag. 7. April �929
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Der Sport gilt als Symbol unserer Zelt, und mancher, der sich nicht für ihn begeistern kann, schiebt das mangelnde Interesse unserer Jugend für die Fragen der Politik und Weltanschauung auf die Sporlpropaganda. Dabei vergißt er freilich, daß es für den Typ des politischen Drückebergers immer Narkotika gegeben hat, die ihn über Zeiten trösten mußten, in denen auf den politischen Fronten die Langeweile des Stellungskrieges herrschte. In unserer Zeit heißt das Betäubungsmittel Sport. Vor hundert Jahren hieß es Theater, Musik und Oper. Es ist aber noch heute amüsant, welche Purzel- bäume der Begeisterung damals die nüchternsten Leute schlugen. Mimen, Sänger und Direktoren. Drei Theater besaß damals, in den dreißiger Jahren, Berlin : neben dem Königlichen Opernhaus und dem Schauspiel- Haus noch das am Alexanderplaß gelegene König st ädtische Theater. Um dieses Theater, das im Gegensatz zu den königlichen Bühnen als eine Art Volkstheater nur leichtere kleine Schauspiele, Operetten, Lustspiele bringen sollte, war schon seit dem Jahre 1815 von den verschiedensten Bewerbern gekämpst worden. Der König ober bewilligte die Konzession erst im Jahre 1822, als der große Brand des Schauspielhauses den Berlinern die zweite königllche Bühne genommen hatte. Die Konzession wurde an den früheren Kaufmann Friedrich C e r s gegeben— wie es hieß, für Kriegsdienste geheimer Natur, die man nicht gut mit einem„Ehrensold lohnen konnte. Das Geld beschaffte er sich durch Bildung einer Aktien- g e s e l l s ch a s t, deren Spitze hauptsächlich aus den Häuptern der allen Berliner Bankiersfamilien bestand. Diese von den Aktionären gewählte Direktion pachtete dem Cerf seine Konzession ab. Aber weder die angeblichen Wiener Zauberpossen noch die kleinen, aus dem Französischen übersetzten Schauspiele konnten dos Publikum in der gewünschten Zahl ins Theater locken. Da gelang der Direktion ein großer«chlag. 1825 trat Henriette Sonntag im König - städtischen Theater in der längst verschollenen Oper Rossinis„D i e Italienerin in Algier' auf. Es wurde ein unglaublicher Ersol(j. Man schlug sich um die Billetts, die Meldungen für Plätze auf viele Tage im voraus, die schriftlich einliefen, blieben stoßweise ungeöffnet liegen, wer die„Italienerin" nicht gesehen halle, durfte sich nicht mehr in der Gesellschaft zeigen; die Enthusiasten behaupteten sogar, man dürfe eigentlich, nur noch mit denen umgehen, die keine dieser Aufführungen durch eigene Schuld versäumt hätten. Das Bild der Sonntag hing in billiger Lithographie in der Stube des Handwerkers— ihre Mormorbüfte stand in den Häusern der reichen Bürger und auf dem Schreibtisch des Königs. Die Begeisterung für die schöne Henriette war das Hauptthema aller Zeitungen und Witz- blättcr. Freilich konnte auch die Anziehungskraft so berühmter Gäste dem Königstädtischen Theater nicht dauernd helfen, denn die G a st- gagen waren zu hoch; und so kam es. daß dos Theater schließlich zur Subhastotion kam. Der Inhaber der Könzession, Friedrich Cerf, erwarb es schließlich sehr billig. Nun war er Direktor— und wohl einer der originellsten Theaterdirektoren Berlins . Cerf besaß keinerlei Bildung. Anekdoten. Die Zahl der Anekdoten, die über ihn erzählt wurden, war Legion. Einmal, als der König sein Theater besuchte, und sich well aus seiner Loge beugte, um umzuschauen, rief Cerf ängstlich laut in das Theater hinein:„Nehmen Sie sich in acht, Majestät.
sie spucken von oben!" Cerf hatte aber das Glück, mit den von ihm hauptsächlich ausgeführten Lokalpossen nicht nur den Ge- schmack der Berliner zu treffen, sondern auch hervorragende Kräfte zu gewinnen. Das Königstädtische Theater war auch die Geburt-- statte des„Eckenstehers Nante", der hier in einer kleinen Posse„Ecken- steher Nante im Verhör" zum erstenmal von dem berühmten Komiker Beckmann verkörpert wurde. Auch das wurde ein fabelhafter Erfolg: um den Typ des Eckenstehers<des Vorgängers unserer späteren Dienstmänner) herum entstand eine ganze Nanteliteratur, deren Erzeugnisse leider meist platt gemein und witzlos waren. Die Theaterbegeisterung war überhaupt eine eigenartige wache: sie tobte sich meist in einem wüsten Personenkultus aus. Dafür ist der Streit der beiden wterne des damaligen Schauspielhauses ein Zeugnis. Charlotte von H a g n und Clara Stich waren sich um eine Rolle im vollsten winne des Wortes in die Haare geraten und hatten diesen Streit mit Ohrfeigen, Kratzereien usw. vor versammeltem Theoterpersonal ausgesochten, sogar km Parkett hatte man diesen Zank hinter den Kulissen noch hören können! Das Publikum nahm in seiner Mehrzahl für Clara Stich Partei, und als Charlotte von Hagn , die nach dieser Szene wirklich vor Ausregung erkrankt
„Itehmen Sie fich in achi, TflajeflSI, fie Spucken von oben.'
war. wieder auftrat, erlebte sie einen solchen Theaterskandal, daß sie erst spielen konnte, als sie auf offener Szene kniend dem Publikum mit flehender Gebärde Abbitte geleistet hatte!— Den Gipfel des Personenkultes aber erreichten die Berliner bei den Gast- spiel des gefeierten L i s z t, nicht einmal der Sonntag-Kult konnte gegen den L i f z t w a h n s i n n ankommen. Die Damen kaufte» für tueres Geld die ausgekämmten Haare Liszts, um immer eine solche Reliquie bei sich tragen zu können! Bei Liszts Abschied von Berlin bereiteten ihm die begeisterten Verehrer einen derartigen Triumph, daß diese Demonstratio» sogar bei Hofe viel böses Blut erregte, „weil hier ein Musikant wie ein König geehrt wurde". Vom Zentrum Berlins bis nach Friedrichsfelde war alles voll von Wagen und Fuß- gängern... in dem damaligen kleinen Berlin ! lind das geschah im Jahre 18 4 2, sechs Jahre vor den Märztagen... Was das Volk aus den Opern machte. Ein Gutes hatte diese Zeit immerhin: wohl nie wieder war der Zusammenhang des Volkes mit der„hohen Kunst" ähnlich stark wie in der Vormärzzeit. Jeder Handwerker ging alle Paar Wochen mal ins Theater, ufid wenn's auf die ,,T r a m p e l l o g e" war. Wer die drei Silbergroschen auch dafür nicht übrig hatte, der ging für sechs Dreier in eines der vielen Puppentheater. Hier wurden in „passenden" Bearbeitungen alle Novitäten des königlichen und König- städtischen Theaters gezeigt. Das von dem kleinsten Publikum be- suchte Puppentheater von Richter befand sich in dem Hause Jeru- salemer Straße 23, in dem berüchtigten Lokal„Zur ledernen Flinte". Das bessere Handwerkerpublikum bevorzugte dann noch die„Gartenkonzcrte"— die manchmal freilich in„Keilerei mit Gartenvcrgnügen" ausarteten; besonders berühmt war hierfür das Lokal mit dem eigenartigen Namen„H u n d e le b e n", das in der Alten Jakobslrahe 64 lag. Puppentheater, Blaskonzert und Leier- kästen aber popularisierten die Melodien der Opern der Saison. Bei allgemeinverständlichen Texten sang bald jeder das Hauptlied der Lieblingsoper. Denkwürdig ist der Erfolg des„Freischütz " van Weber, den die Berliner böswilligerweise zum„S ch r e i f r i tz" um- tauften. Deshalb sang oder pfiff doch alles den„Jungiern'kraiiz", und die Antwort des Schusterjungen, dem ein Stutzer bei der„veil- chenblauen Seide" ins Lied fiel:„Sie, Herr, fangen Sie doch Ihren Jungfernkranz alleene an!" wurde weit über Berlin hinaus berühmt. Dann aber gab es noch zahllose Opern, deren Arientextc nicht so sangbar waren, und da half man sich mit merkwürdigen, unterlegten Texten, die zun, Teil bis heute leben. Wer weiß aber heute noch. daß„Äomm'n Se rein, komm'» Se rein, komm'n Se rein— komm'» Se rein in de gute Stube!" auf eine Melodie der„S t u m in c n von P o r t i c i" gesungen wird? Gehn wir mal rüber, geh» wir mal rüber, gehn wir mal rüber zu Schmidts!" stammt aus „F r a D i a v o l o", es war der Anfang einer bis in die neunziger Jahre hinein beliebten Quadrille aus alten Opcrnmelodien. Der schöne Marsch aus Donizettis Oper„Lukretia B o r g i a" hatte den erschütternden Text„Meines Bruders versoffene Kehle schreit schon wieder nach bayerischem Bier. Bier, Bier!", während der Schmiedechor aus dem„Troubadour" den philosophischen Text bc- kam:„Siehst, ick Hab et jleich gesacht— die Wurscht die schmeckt nach Seefe!" Der Marsch aus der Operette„Fatinitza " bekam noch in späteren Jahren den Text:„Du bis verrückt mein Kind, du mußt nach Berlin !" Ein nettes Beispiel, wie sich das Volk bei sangbaren Melodien mit ihm unverständlichen Texten half, ist auch das bekannte Studentenlied:„Ca ca, geschmauset", dessen lateinischer Kehr- reim„Eckitc, bibite, collegiales, post ranlta saecula poculg niilla'! in Berlin auf die Worte ging:„Edelmann, Bettelmann, Kollegen alle, Posthalter Säbelmann, Popelmann, MüllaI"
Wie wählen die Krauen? Bei Wahlen soll in Berlin die Ermittelung der abge« gebenen Stimmen nach dem Geschlecht der Stimm- berechtigten auch in Zukunft ausgeführt werden. Der Magistrat hat das beschlossen und teilt es den Stadtverordneten zur Kenntnisnahme mit. Wenn gleichzeitig mehr als eine Wahl zu voll- ziehen ist, wird vi« nach Geschlechtern getrennte Zählung der Stim- men nur für eine Wahl ausgeführt, die jedesmal besonders be- stimmt wird Bei den im Herbst dieses Jahres zu vollziehenden Wahlen der Stadtverordneten und Bezirksverardneten ist die Stadl- verordnetenwahl für die getrennte Zählung in Aussicht ge- nommen. Diese Ermittelungen sollen jedoch künstig nur von Be-
RomM einet JZevohiiion. Von GeeUari Yiercma.nn Woslat
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(Schluß.) Erstauntes, achtungsvolles Schweigen war über viel- tausend gespannt gehobenen Köpfen. „Nun aber hatte er nicht viel Bildung genossen und konnte natürlich seine Gedanken, die damals noch neu und noch nicht so oft klar formuliert waren wie heute, nicht richtig ausdrücken. Auch war er häßlich von Gestalt, und als nun Militär heranrückte und auf die Revolutionäre schoß, wollte auch er sich für die andern erschießen lassen; weil er aber stammelnd sprach und komisch aussah, lachte ihn der Kürassier- leutnant, der die Truppen befehligte, einfach aus, und seine Soldaten taten ihm nach. Sehen Sie, Genossen: dies Lachen traf ihn tiefer als eine Kugel, und von da an verwirrte sich sein Geist. Und dies Lachen ist es, von dem ich eigentlich sprechen wollte." � Das junge, weiche Gesicht da oben wurde eckig in der Suche nach Worten, die Gedanken röteten die hohe, schmale Stirn. „Sie haben ihn vorhin ausgelacht, weil er stammelte und komisch wirkte. Genossen! Dies ist dasselbe Lachen wie das des Leutnants. Dies ist dasselbe Lachen, mit dem euch und eure Bestrebungen die Besitzenden auslachen, well Sie, Genossen, sich nicht klar ausdrücken können und durch Ihr schweres Los körperlich und geistig den andern gegenüber benachteiligt sind. Dies Lachen ärgert Sie, empört Sie— mit Recht. Aber Sie geben dasselbe Lachen nach unten wester, sobald Sie jemanden hoben, der schwächer ist als Sie. Solange Sie das tun, sind Sie nicht einen Funken besser als Kürassierleutnants und andere Bedrücker. Solange Sie das tun. sind Sie nicht reif zum Sozialismus." „Sehr richtig!" rief August Bebel in das gedrückte Schweigen hinein.
Die junge Stimme oben hatte sich freigemacht und klang frei und sicher.„Und glauben Sie denn, daß Ihnen der So- zialismus, selbst wenn er erreicht werden sollte, etwas nützt, solange Ihre Herzen nicht sozialistisch sind, so lange Sie noch so lachen können. In diesem Lachen liegt aller menschliche Dünkel» alle menschliche Ueberheblichkeit, die nur wir selbst ändern können. Täglich lachen wir so über tausend Dinge und tausend Menschen. Besitz, Glaube, Heimat— gut, dieser alte Mann hat es oder hatte es. Sie haben es nicht— bekämpfen Sie es, wenn Sie es für schädlich halten, aber lachen Sie nicht über Dinge, di� andere lieben! Lachen Sie nicht über Schwache und Schwächen, es kommt Ihnen nur so vor, weil Sic lieblos find— genau so lieblos wie Ihre Feinde. Und wie sich das Lachen Ihrer Feinde einst gegen die Lacher selbst kehren wird, so wird auch Ihr Lachen sich einst gegen Sie kehren, wenn Sie es nicht schnell verlernen, dies— dies Lachen der furchtbarsten Reaktion, die in uns ist!" Eine Hand legte sich dem Jungen auf die Schuster. Er blickte zur Seite; neben ihm stand Bebel. „Genossen!" rief Bebel,„ich danke diesem jungen Mann in eurer aller Namen. Denn er hat recht, Genossen, wir haben es alle empfunden. Und auch jener alle Mann hatte recht, und ich danke auch ihm. Und wenn wir dereinst die Macht haben sollten in der Heimat, die auch wir lieben, die wir nur anders haben und jedem zur Heimat machen möchten, dann werden wir nur dadurch bestehen können, daß wir die andern alle, die Widerstrebenden, zu uns ziehen. Und das können wir nicht, indem wie sie verlachen. Wenn unsere Revolution geglückt ist, nicht eine Revolution, welche die Hei- mat niederbrennt, sondern unsere ernste, stillee, schwere Re- Solution, welche die Heimat freimacht— dann wird es Zeit sein, an die Stelle des Kampfes die Liebe zu setzen. Und dann, Herr Kniephacke. werden wir Menschen wie Sie brauchen können!— Mit jenem ernsten, stillen, schweren Wollen aber werden wir jetzt auf die Straße gehen.. Die Menge verließ still und geordnet den Saal, auf sinnenden Stirnen das Schweigen der Ergriffenheit. Draußen formierte stch der Zug, setzte sich in Bewegung— bald kein Zug mehr, ein schwarzer, Menichenwelle um Menschenwelle ruhig hinwogender Strom zwischen steilen Häuserufern, der nicht rauschte und nicht tobte und nicht sang, der aber Lasten zu tragen verstand, auch die schwersten Frachtschiffe der Ideen— sie konnten ruhig auf dem breiten Rücken dieses Stromes gleiten von Land zu Land. Hecker-Calm hatte mit Hampel, Gerda und Alexander
draußen am Tor gestanden. Da hatten ihn zwei junge Ar- beiter zart unter die Arme gefaßt und waren mit ihm in die erste Reihe getreten. Hampel, der ihn sich lächelnd hatte ent- führen lassen, schritt mit Gerda und Alexander neben dem Zuge her. Calm hatte sich anfangs leise gesträubt, wie ein fremd- artiger, von der Wucht der Flut ins Meer mitgerissener Fisch — dann aber hatte der hämmernde Rhythmus der Schritte sein Trippeln geweitet, er war ganz eingegangen in die Masse, eine winzige Welle zwischen Tausenden im Strom, eine Welle, die vielleicht etwas weiter hergewandert kam als die anderen und doch eins mit ihnen wurde. Plötzlich aber stockte er, riß die beiden Arbeiter neben sich zurück, in jäh zitterndem Schreck: vor ihnen lag ein Platz, ein weißer Platz, rund, weit— wie einst ein anderer Platz... Seine Hände flatterten in der Luft wie die ängstlichen Flügel eines Bogels, der feine Jungen warnt. Er rief mit hoher, quäkender Greisenstimme:„Nich— nich uff den Platz!" rief er immerzu... Aber der Zug teilte sich, marschierte rechts und links an ihm vorbei, schon kroch eine schwarze Menschenraupe mitten im Platz... Calm schrie auf:, jetzt— jetzt mußte der riesige Schuh kommen, der knallende Tritt, der aus all den Menschen da Blut machen würde und Tod... Immer noch zogen ernste Männer an ihm vorbei. Er sah starr nach vorn— wischte sich übet die Augen, als glaube er ihnen nicht. Die Raupe dort breitete sich aus, war überhaupt nicht hllflofe Raup« mehr, war wieder Strom, der schwarz und grau am Häuserstrand, an den Laternenklippen, im Denk- malsfelsen cmporschäumte, der alles ausfüllte, zum Meer wurde— Calm begriff jäh: In diesem Meer mußte die Ge- wall ertrinken... kann man ein Meer zertreten? Calm lachte hell, kindlich auf. Noch war neben ihm der Rhythmus der Schrstt«. Gerda und Alexander hotten ihn jetzt erreicht, traten zu ihm. nahmen chn mit. Er ging... ging mit weiten, räumigen Schritten auf den Platz, blieb noch einmal stehen, hob beide Arme, rief, laut, lachend. leuchtend:„Brüder... Brüder...!" und brach zusammen, mit einem letzten, jubelnden Lachen... Jemand beugte sich über ihn, legte die Hand auf sein Herz, trat zurück:„Es schlägt nicht mehr." Ein Rauschen wehte über den Platz; die Arbester zogen die Hüte. Abraham Calm lag zwischen den beiden Jungen, tot und lächelnd. �_