Unterhaltung unö Wissen
Sdmard Slilgebauer: JJ Rolf Roller war alt Wenn irgenö ieiruntb diese ihn meder- schinerternd« Versicherung abzugeben vermochte, dami war er es selber. Er. der Menschenkenner, vor dem Forum seines eigenen Intellekts. Jahrzehnte lagen die Tage seines Ruhmes zurück, da man sein Bild, das des FünjuntSreivigjährigen, in den Schaufenstern aller Buchhandlungen gesehen, und da sich das Publikum in den Leih- bibliotheken die abgegriffenen Exemplare seines„Wichet Sturmflut" aus den Händen ritz. Damals hatte er den allgemach schon oerebbenden Strom der eigenen Jugend wie durch ein Stauwerk in den Kapiteln seines vielgelefenen Romans aufgefangen, und jeder Leser und noch viel mehr jede Leserin, empfanden, dah auf dem ewig rätselvollen Wege der dichterischen Äoerzeption das eigene Herzblut des Schöpfers sich mit des Schreibers seelenloser Tinte wundersam vennischt hatte. Das war nun vorbei. Wie aus Dutzenden seiner Kallegen, so war auch aus Rolf Roller ein hochgeschätzter Routinier geworden, dessen noch immer ziehenden Autornamen man nach Zeilen und Druckbogen pro Auslage honorierte und motz. Die Sechzig standen dicht vor der Tür. Rolf Roller beobachtete das wohl. Seinem jcharsen Kriterium entschlüpfte doch das eigene Ich nicht so leicht! Die Leidenschaft, mit der er sich in früheren Zeiten an den Schreibtisch gesetzt hatte, war verflogen. Erfindungs- gäbe und Einbildungskraft ließen nach. Sonst wäre er doch m dieser Abendstunde des scheidenden Hochsommertages schwerlich dazu im- stände gewesen, in der fast vergessenen alten Manuskriptenmappe zu wühlen, schwerlich dazu, den Schrank zu durchkramen, ob sich nicht am End« etwas Verschollenes und Vergcsiencs, aber immerhin noch Brauchbares, fand! Er hatte es nicht nötig. S«-n„Michel Sturmflut" hatte goldene Früchte getragen. Und nicht nur dieser! Auch die Leihbibliotheken- schmöker, die diesem auf dem Futze gefolgt und gleich in Zehntaufen- den von Exemplaren»erkauft worden waren, hatten das ihre getan. Die Villa„Hippokrene"(wie war«r nur auf den überspannten Ramen verfallen?), die er sich im Laufe seiner besten Jahre zu- sammengeschrieben, war sein, sein der Garten, der sie umgab, sein die wertvolle Bibliothek und die kostbare Kunstsammlung, die er auf Reisen sorglich zufainmengetragen, und hier, in dem schönen Starn- berg, eine Bahnstund« vor Münchens Toren, war er zum mindesten lokale Attraktion. Aber der Ehrgeiz folterte ihn. Der Ruhm der Jungen zehrt« an seinem eifersüchtigen Herzen und lietz ihn von Monat zu Monat bitterer empfinden, dah es mit der Epoche seines„Michel Sturm- flut" zu Ende war. Damals, in Berlin , hatte er Karl Bömel gekannt. Einen drei» undzwanzigjährigen Jungen, der den berühmten Verfasser des „Michel Sturmflut" in dessen in der Motzstratze gelegenen, noch völlig nichtssagenden Wohnung aufgesucht hatte, lind hier ward ihm anvertraut, daß Karl der Verfasser einer noch iitellosen Liebes- gcschichte sei. Um seine Protektion, um ein empfehlendes Borwort sür sein Erstlingswerk hatte der Jung« den großen Kollegen ge- beten und sogleich hinzugefügt, daß ihm der Arzt einen langen Aus- enthalt in Daoos oerordnet habe, weil er Blutspeien gehabt und nicht sehr fest auf den Lungen sei. Die Tuberkulose nahm galoppie- renden Verlauf. Auch Asiouan. für das sich die Aerzte sozusagen in letzter Minute entschieden, halt hier nichts. Die Rückreise gelang noch bis Genua . Dann hatte man ihn begraben. In Nervi , wo er letzt« Station gemacht... und das Manuskript seiner titellosen Liebes- geschicht«, zu der er ihm das Vorwort versprochen und niemalz geschrieben hatte, lag noch immer hier. Seit fünfzehn Iahren, wenn nicht noch länger, denn es hatte die Uebersiedelung von Berlin nach München und dann in die Villa„Hippokrene" in Starnberg mitgemacht. Was wollten die vergilbten Blätter? Warum fielen sie ihm denn, da er in diesem allen Schranke kramte) jult im Augenblicke des Bewußtseins furchtbarer Ohnmacht in die Hand? Es war doch seltsam. Kein Mensch hott« sich um den Nachlaß
»8 HHanufkript des armen Jungen gekümmert. Nichr der Vater und nicht die Mutter, auch nicht die Geschwister! Schließlich! Wußte denn überhaupt ein Mensch, daß es einen literarischen Nachlaß des mit vierundzwanzig Jahren in Nervi verstorbenen Karl Vömel gab? Irgendein Mensch? Außer ihm, Rolf Roller, dessen Name noch immer trotz allem und allem jeder Publikation von vornherein ein gewisses Relief gab! Draußen war die Sonne längst untergegangen. Die Dämmerung kroch in das Arbeitszimmer des Dichters und ließ das markante Profil Rolf Rollers in ungewißen Linien verschwimmen. Der saß vor dem Tisch, das charakteristische Haupt d«s Intellektuellen in die zierliche Linke gestützt, und wandte mit der Rechten Blatt für Blatt. Er las mit fieberhafter Hast den Jugendroman Karl Vömel», den er in dem allen Schrank« gefunden und den er bislang auch noch nicht eines einzigen Blickes gewürdigt hatte. Und mehr und mehr stieg fieberhafte Röte in sein Gesicht, je weiter er las! Das war ein Meisterwerk. Ihm wenigstens erschien es so in dieser verhängnisvollen Stunde, denn es barg in seinen Tiefen das, was ihm abhanden gekommen war im Lause de« Lebens und der Jahre... das Unentbehrlichste, das unverlierbar für den Dichter bleiben müßte, der Jugend leidenschaftliche Glut! Als Rolf Roller sich in der ersten Stunde des Morgens erhob und das elektrische Licht der Studierlampe ausschattete, um sich zur Ruhe zu begeben, war der verbrecherische Vorsatz gefaßt. „Der Tempel der Jugend" erschien. Der Erfolg war der von Rolf Roller erwartete. In Jahres- frift erlebte das Buch über sechzig Auflagen, und die Presse de- richtete, daß der große Dichter des„Michel Surmflut' sich selbst wiedergefunden, ja, daß er sein Standardwerk womöglich noch über- troffen I>abe! Da klingelte es in der zehnten Vorinittagsstunde eines trüben Febrnartages, da der Winter nimmer zu End« gehen wollte, vor dem Gartentor der Villa„Hippokrene". Der eintretende Diener präsentierte Rolf Roller eine Karte. Oer aufs neue berühmt gewordene Autor schüttelte das Haupt. „Jfa Rau?" Noch nie in feinem Leben hatte er diesen Namen gehört oder gelesen. „Ich lasse bitten. Richard." Die in das Arbeitszimmer Rolf Rollers führende Tür öffnet« sich. Ueber ihre Schwell« trat«ine Vierzigjährige in schlichter, schwarzer Kleidung. Erfahrungen und Kummer hatten bereits ihre unverkennbaren Runen in das einst schön« Gesichtchen gegraben. dessen braune Madonnenaugen auch heute noch in Güte erstrahlten. Vor diesen Augen senkte Ralf Roller den Blick. „Darf ich Sie bitten. Platz zu nehmen? Womit kann ich dienen?" „Ich störe? Entschuldigen Sie bitte! Nur eine Frage!" �' SäWl, gtstt der Blick der Befucherin durch den mit etegant«» Möbeln vollgepfropften Raum, dessen Tapete hinter hohen Bücher- regalen verschwand. Die Dame war stehen geblieben. „Sie haben Kart Vömel gekannt?" Rols Rover suchte nach Worten.'Angesichts solcher Frag« hatte er all« Haltung verloren, und er fühlte es, der Schweiß perlle auf seiner Stirn. Aber er faßte sich. In leichtem Tone kam«s von seinen Lippen:„Flüchtig... in Berlin ... vor vielen Jahren, mein« Gnädige, doch warum?" Der tiese Schmerz, kwn die Madonnenaugen bei dieser seiner oberflächlichen Redeweis« widerspiegelten, schnitt Rolf Roller ins Herz. Schon wollte sich etwas wie«in Geständnis auf seine Lippen drängen. Da vernahm er:„Flüchtig...? Und doch hat er Jhnen unser süßestes Geheimnis anvertraut, das uns beiden ganz allein gehört«, doch hat er Sie meine Briefe lesen lassen?" Es war wie das Stöhnen einer auf den Tod Verwundeten. Roch war Rolf Roller nicht zu sich selbst gekommen, da hatte sich Jfa Rau lautlos entfernt.
SL SPr&ybysstetrski: 3)ChttlCl Dr. Schleich hatte«in« schöne chirurgische Privatklinik und an- schließend«ine sehr vornehme Wohnung. Schleich war nicht nur ein ausgezeichneter Chirurg, er besaß auch eine prachtvolle Bariton- stimme, und Gesang liebte er über alles. Man hätte wohl in ganz Berlin schwerlich ein schöneres Instrument finden können, als es der Steinwai Schloichs war. Ms wir hinkamen, trafen wir schon die ganze Gesellschast ver- sammelt. Einige mir schon bekannte Literaten: Hartleben , Scheer- bart und andere, und aus irgendeiner Ecke beugte sich ein junger schlanker Mann heraus. Das ausdrucksvolle Gesicht voller Schmisse, ein intensiver und gleichzeitig gütiger Glanz glühte in den Augen: Richard Dehmel . Ich kannte bereits den Namen. Tief verneigt« ich mich vor ikirn. Da lachte er laut und verneigle sich noch tiefer vor mir. Er wollte mir nur Mut machen. Trat an mich heran, als hätten mir uns sott Jahren gekonnt. .�feute wirst du aber spielen— nur für mich wirst du spielen!" Ost überlegte ich. was denn an meinem doch ganz dilettantischen Spiel war, was die Leute so mitriß, jo. sie völlig aus der Fassung brachte... Was die Demichen ganz meine Technik vergessen ließ. mer das Erstaunen, daß das, was ich ihnen vorspielte— wirklich Chopin war: diesen Chopin hlitten sie noch nie gehört. Sie konnten of sich nicht einmal vorstellen, daß das, was ich chueu vorspielte» Chopin sein könnte. Ein staunendes Entsetzen packle sie, als sie das A»Mvll-Scherzo, die Tis-Mvll-Polo nasse, die?-Moll-Phantasie. die zweite Ballade, die Barkarole vernahmen! Don meinem Spiel beeinflußt, ensstanden Dehmels„Verwandlungen der Venus", vielleicht das herrlichste Dokument seines Schaffens. Diesem Spiel verdankte ihr Cussteheu Julius Harts beste Dichtung„Sehnsucht"— Johannes Schlaf schrieb damals seine wundervollen Gedichte... Diese Abschweifung war nötig, um mein Verhältnis zu Dehmel zu erüären: die Ehopirisch« Musik hat zwischen uus sene festen, unzerreißbaren Bande glühender und treuer Freundschaft geknüpft, die uns seither bis zu seinem Tode verbanden, nicht jener alltäglichen
- Wille- Jßiliencron Freundschaft, die man gewöhnlich so nennt— nein, jener tiefen, und gewöhnlich seltenen, die man bei primitiven Völkern noch findet, und deren barbarisches Symbol das Aufschneiden der Adern und der gegenseitige Blutaustausch ist. Diese Freundschaft eittsteht wie die Liebe: in einem Sekunden- blitz. In demselben Augenblick, als Dehmel an mich herantrat und mit einein geheimnisvollen Lächeln sagte:„Heute wirst du spielen", wußte ich: Ich habe einen Freund gefunden! O wie habe ich damals für ihn gespielt! Ich vergaß voll- kommen, daß außer uns beiden noch andere in dem vornehmen Salon waren— immer tiefere Dämmerung umhüllte alles—«n großes, andächtiges Schweigen entstand, das ich stets so fürchtete. Ich stand auf vom Klavier und ging verstohlen zur Seite. Da fühlte ich plötzlich Dehmels Hand ous meiner Hand. .Komm fort von hier!" Es war nicht sehr höflich. Schleich oerzieh jedoch Dehmel alles. Lange gingen wir schweigend nebeneinander— Dehmel nahm die Mütze ab, sein« Stirb mar mit Schweiß bedeckt. In ein anständiges Restaurant konnten wir nicht gehen, das konnten wir uns nicht leisten. Ich führte ihn also in eine Kaschemme in der Mhe der Gegend, in der ich wohnte, hinter dem Wedding . Ein Sammelpunkt der sogenannten„großstädtischen Heje". Und hier, in dieier, wie Dehmel bemerkt«,.Herrlichen Gesell- schast" oerbrachten wir viel«, viele Stunden. Zusainmen besaßen wir einen Taler, doch reichte dieser Taler vollkoirnn-en, um uns in «ine äußerst angenehm« Exstase zu versetzen, in der sich uisseo« Seelen in brüderlicher Lieb« verbanden. Seither kamen wir fast täglich zusammen— Dehmel war damals Sekretär der„Vereinigten Versicherungsgefellschaiten" In Berlin und arbeitet« angestrengt von zehn Ilbr früh bis drei Uhr nachmittags, um monatlich«ine in jenen Zeiten riefenhast« Summe zu verdienen— 230 Mark. Das Elend in Friedrichshagen war direkt sprichwörttich— die Brüder Hart erhielten sich irnrch gemeinsame und erschöpfende jour- naliffilche Arbeit, Wilhelm Bölsche rettete sich durch klein« populäre naturwissenschaftliche Artikel— auf diesem Gebiet besaß er, der
Lieblingsschüier Haeckels, ein großes Wissen—, Bruno Wille bezog ein winzig kleines Eehali als sozialistischer Agitator und Leiter der „Freien Volksbühne ", Arno Holz verfertigte Kindertpielzeiig und fristete so sein Dasein. Der arme Johannes Schlaf brachte ein halbes Jabr in einer armseligen Mansarde zu, die andere Hälfte in einem Irrenhaus. Der fähigste und heroorragendst« Lyriker neben Dehmel , Detieo von Liliencro», lebte in krassem Elend in Hamburg . Alle seine Briese an seine Freunde und die wenigen Verehrer sind ein einziger Selirei:„Laßt mich doch nicht vor Hunger krepieren!" Paut Scheerbart wäre sicher nackt herumgelaufen, hätte sich seiner nichr Erich Hartleben erbarmt, der von seinem Großvater nicht allein ein ansehnliches Vermögen, sondern auch dessen ganze Garde- rode geerbt hatte. Eine besonder» jchinerzhaste Erinnerung quält mich bi» heute. Eines Tages kam Peter Hille zu mir, ein großes Künstler, ein tiefer und wirtlicher Kenner aller Literaturen, nicht nur der europäischen, sondern auch der asiatischen, ein vornehmer Schriftsteller, dessen Aphorismen unser Staunen erregten. Dar arme Peterlein kam also zu mir. Die deutlichen Zeichen des Hungerdelirinms waren klar erkennbar. Seine Hauswirtin hatte ahn fortgejagt, weil er ihr seit Monaten den Mietzins in.Höhe von fünf Mark schuldig geblieben war. Ein« ganze Stunde lang hörte ich seine Erzählungen, seine delirendrn Visionen an. Er nahm sie natürlich für volle Wirk- lichteit, mir aber liefen kalte Schauer über den Rücken bei diesen Erzählungen. Ein paar Tassen schwarzen Kaffee» beruhigten ihn. Er blieb bei mir über Nacht. Bald schlief er ein. Doch mitten in der Nacht fprang«r Plötz-- lich auf. Ganz nackt stand er jetzt in der Mitte des Zimmers. Entsetzt sprang ich auf. Hille besaß also überhaupt kein Hemd. Die mit winziger Schrift, die nur er entziffern konnte, vollbeschriebenen Papiermanschetten waren an einer Schnur befestigt und hingen am Hals dieses armen Teufels. Prunkvoll in seiner majestätischen Tragik war der Tod dieses Dichters. Man fand ihn in irgendeinem Park bei Berlin , von Hungerqualen ganz erschöpft und bewußtlos. Else Lasker-Schüler , die große Dichterin, erfuhr es aus den Zeitungen. Sie brachte ihn in ihre Wohnung, pflegte ihn und wachte bei ihm Tag und Nacht. Endlich erlangte Peter Hille nach einigen Tagen das Bewußtsein wieder, blicke umher, schaute auf die saubere Bett- wäsche, auf der er lag, lächelte dann still vor sich hin und flüstevte: „Ich mußte es ja, daß es dem Menschen einmal im Leben doch gut gehen muß..." und starb. Und der sechzigjährige Liliencron pochte mit immer größerer Verzweiflung an die Türen von 78 Redaktionen und sichte, man möchte doch seine Erinnerungen„Leben und Lüge" abdrucken— man geruhte nicht einmal ihm zu antworten. So sah das Künstlerparadies aus... Was Wunder, wenn einem oft der Strick als Erlösung in den Sinn kam, um alles zu vergessen, mit irgend etwas sich zu betäuben. um nur nicht an das seiend des Tages zu denken... Ein scheuß- licher Fusel, irgendeine Flasche Nordhäuser— ein« Mark das Liter— genügte, um den verzweifelten Gadanten an den morgigen Tag in einen tkttnkensn Tranxezustgnd, in einen wollüstigxn zTraum von einer große nrjzcrrlichen Zukunft zu verwandeln, von Triumphen und.Ruhm, von der Ausrottung der Philister und dem Sieg der Schönheit über des Lebenz Ekel und Grauen. Und von diesen armen Teufeln wurden staunenerregende Äe- rüchte und Legenden verbreitet, daß sie in ihren Zenakeln ungeheuer-- liche Orgien feierten und Bacchanalien, daß sie in Schnaps und Sekt badeten— daß sie unmenschliche„schwarze Messen" feierten! Es fehlte nicht viel, um der bürgerlichen Gesellschaft die Sicherheit zu schassen, daß in den Kreisen dieser armen Zigeuner das alles geschah, was Minutiu? Felix von den ersten Christen erzählt. Mehr vielleicht als in irgendeiner anderen Gelellschast lebte der deutsche Künstler ganz und gar außerhalb dieser bürgerlichen(Bei eil- schast. Die Türen der Bürgerhäuser waren für ihn mit zehn Riegeln verschlossen. Es war in jener Zeit, da man Ibsen im Berliner Theater zweimal ausgepfiffen hatte, als man in Leipzig fünf Natu rallsten«inen Prozeß machte wegen Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit. „Heute mußt du zn mir kommen, unbedingt—" sagte einmal Dehn«! zu mir,.Liliencron ist gekommen— er ist vor seinen Glau- bigern geflüchtet— du wirst es nicht bereuen." Wir saßen gerade in dem kleinen Casö, in dem wir uns jeden Nachmittag trafen. Gegen Abend ging ich zu Dehmel . Außer Liliencron traf ich noch Scheerbart an und den Vennittler zwischen Jung- Deutschland und Jung-Frantreich: den Elsässer Henri Albert. Aeußerlich bemerkte ich nichts Außergewöhnliches an Liliencron : der einfach« Typ eines preußischen Offiziers in Zivil, jeder Zoll aber der vornehme, in den strengsten Traditionen des Junkertums er. zogen« Herr— der einzige Junker von den verschiedenen, die fast mit Gewalt in unseren Zigeunerkreis eingedrungen waren, der nicht den spezifischen Stallgenich mitbrachte. Dehmel tischte«in paar Flaschen Wein aiss— da» Gespräch belebte sich, man sprach nur noch von Literatur. Plötzlich zog Dehmel ein Manuskript hervor und begann, zu losen: es waf eine Dichtung, eine der schönsten, die damals geschrieben wurden: Lilien-- crom» ÜUdobaran. Dehmels Dortrag weckte einen unerhörten Zauber. Jedes Wart lebte intensiv auf, funkelte in einem unvergleichlichen Glanz, lachte. knirschte, winselte, prangte im Purpur nchnbener Majestät. Eine Menge Dichter habe ich gehört, die ihre eigenen oder fremde Werke vortrugen, doch nie vorher noch je nachher habe ich jemand gehört. der es wie Dehmel vermocht hatte, das Wort zu dieser riesenhaften Macht im Ton zu erheben... Als Dehmel geendet hatte, trat ein langes feierliches, versunkenes Schweigen ein. „Jetzt werbe ich such etwas anderes vorlesen", sagt« Dehnwl nach einer langen Pause. lind er las uns seine fadeichaste Uebersetzimg— nein, keine Uedersetzung, vielmehr die wundervolle Paraphrase auf Verlornes „Li sagsss«". Ms er den letzten Seufzer las:„o pauvre ame— o'est cela..(o arme Seele, fo ist's recht...) brach er plötzlich in Tränen aus... Lang« schwiegen wir. Endlich hatte sich Dehmel berichigt. und allmählich belebte sich wieder das Gespräch. Eigentlich schämten wir uns unserer Ergriffenheit, und rasch leerten wir die Flaschen. Dehmel brach!« neue... Der Wein begann zu wirken: ich sehe noch Scheerbart , wie er mit der Faust auf den Boden haut und brüllt:„Weltgeist, wo bist du?!"... ich sehe, wie Liliencran sich luunüht, Scheerbart zu beruhigen, dann sehe ich noch deutlich die schwankenden Bewegungen der Lampe in Dehmels Hände«— er begleitet« uns die Stiege hinab—, dann flog mir die höllische Glut der Straße ins Gesicht..« EAuwrislerte Albertrazung ran S. 6. Nntr» unfc A.®.©attts.)