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Beilage

Dienstag, 16. April 1929

Schwererziehbare Kinder

Von Dr. phil . Otto Seeling

Gelegentlich der Heilpädagogischer Woche, die 1927 in der Zeit vom 15. bis 22. Mai in Berlin stattfand, hielt der Berliner Ma­gistratsschulrat und Dezernent für das Sonderschulwesen der Reichs­hauptstadt, Schulrat Arno Fuchs, einen Vortrag über das Thema: ,, Schmererziehbare Kinder in der Normalschule". Der Redner trat in seinen Leitfäzen dafür ein, daß schwererziehbare Kinder, die im Berband der Normalſchule nicht länger ertragen werden können und in Gefahr sind, der Fürsorgeerziehung anheimzufallen, rechtzeitig in Spezialklassen( Erziehungs- oder E- Klassen) unterrichtet und erzogen werden. Er fordert weiter, daß diese Klaffen zu Tagesanstalten erweitert werden. Von Interesse ist die Begriffsbestimmung der Schwererziehbarkeit, wie sie Fuchs seiner zeit gegeben hat. Schwererziehbarkeit liegt vor, wenn gewisse Vor­kommnisse( z. B. hartnäckige, abgefeimte Lüge, Unerträglichkeit, Widersetzlichkeit, Rücksichtslosigkeit. Bosheit, Niedertracht, Fälschung, Diebstahl, Einbruch, Umhertreiben, unästhetisches, sexual- unsauberes, fittlich- gemeines Tun, ein Banditenstreich) in gleicher Schwere wieder kehren und durch die gebräuchlichen Erziehungsmittel nicht zu ver­hindern und zu beseitigen find.

Nun weiß jeder Pädagoge, daß derartige Bortommnisse häufig Ausfluß einer psychopathischen Charakterfonstitution sind, daß also gerade Psychopathen Schwererziehbarkeit zeigen. Bei dem von Arno Fuchs geforderten Aussonderungsprozeß sollen aber in die E- Klassen in einem Falle Psychopathen fommen. Für diese bestehen bereits besondere Psychopathenheime. Nun ist man sich ja in letzter Zeit über die Begriffsbestimmung der Psychopathie einigermaßen einig geworden. Damit ist allerdings keineswegs die Garantie gegeben, daß im Einzelfalle der Schwererziehbare von dem Psychopathen ohne weiteres unterschieden werden kann, und zwar deshalb nicht, weil der Psychopath nicht immer seine frankhafte Grundanlage zur Schau trägt und ferner, weil die Psychopathie in sehr verschiedener Form sich äußern fann. Dazu kommt schließlich noch ein Umstand, den Prof. Kurt Schneider Köln folgender maßen ausdrückt: Der abnorme Mensch, der eine revolutionäre Gruppe führt, bedeutet für einen einen Störer, für den anderen einen Erlöser und bei Anwendung unserer Fassung also. je nach dem einen Psychopathen oder feinen." Die hier angedeutete be= fondere Fassung des Begriffes unterscheidet sich von der üblichen psychiatrischen Definition, die den Ton auf die leidende Persön= lichkeit legt, dadurch, daß das Moment des Störenden von Schneider mit hineingezogen worden ist. Er sagt: Psychopathische Persön lichkeiten sind solche abnorme Persönlichkeiten, die an ihrer Abnor­mität leiden oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet." Im Gegensatze zu dieser Auffassung betrachten insbesondere auch die Heilpädagogen solche Kinder als Psychopathen, bei denen bei regel­mäßig erhaltener Intelligenz Abweichungen auf dem Gebiete des

Gemüts- und Willenslebens vorliegen.

Aus den Darlegungen geht deutlich hervor, wie schwer die Ab­grenzung in der Pragis zu machen ist zwischen dem Psychopathen, der ins Psychopathenheim gehört und dem Schwererziehbaren, der in eine E- Klasse überwiesen wird. Das Bild wird noch mehr ver­wischt, wenn man daran denkt, daß die Psychopathie nicht selten in Verbindung mit Schwachsinn auftreten kann.

Darüber besteht kein Zweifel, daß für schwererziehbare Kinder etwas getan werden muß, und es ist ein besonderes Verdienst des Berliner Stadtschulrates Nydahl, daß er bei seinem starken Interesse für das Sonderschulwesen sich auch dem Problem der Erziehung Schwererziehbarer zugewendet und durch die Ein­richtung von E- Klassen den Schritt in die Pragis unternommen hat. Das ist wichtiger als der unfruchtbare Streit darüber, ob schwererziehbare Kinder durch Erbgut belastet sind oder ob sie allein als Milieugeschädigte betrachtet werden müssen. Bor einer extremen Bewertung des Milieus warnt besonders Universitätsprofeffor Her mann Hoffmann in Tübingen . Er betont u. a. den Say: Kein Mensch ist, biologisch gedacht, ohne die ihm zugehörige spezifische Elternfituation denkbar. Er schleppt in ihr seine Bergangenheit, d. h. die keimmaisen seiner Eltern mit sich." Hoffmann ist von der relativen Geringmertigteit äußerer Umstände überzeugt. Einen ähnlichen Standpuntt vertritt auch C. Goroncy in seiner Schrift: ,, Untersuchungen an in der Kindheit genotzüchtigten Personen"! Durch das Studium von 24 Fällen erbrachte er den Beweis, daß die in Frage kommenden jungen Mädchen durch das an ihnen verübte Sittlichkeitsverbrechen nicht aus dem seelischen Gleichgewicht ge­kommen sind. Das Delift hatte bei teinem Mädchen irgendwelche Bedeutung für die spätere Artung des Sexuallebens.

In frassem Gegensaße zu Hoffmann und ähnlich Eingestellten stehen die Psychoanalytiker, die bekanntlich den Umweltseinflüffen in früher Kindheit größte Bedeutung beilegen. Daß das Milieu tatsächlich ungeheure Schädigungen bringen fann, weiß jeder An­staltslehrer und jeder Leiter einer Fürsorgeanstalt. Nicht wenige Fürsorgezöglinge werden durch Milieuwechsel dauernd gebessert. Es ist nach dem Stande der Dinge daher begreiflich, daß die Päda gogit in steigendem Maße sich der Milieukunde zuwendet. Ihr Hauptvertreter unter den Wissenschaftlern ist Adolf Busemann in Greifswald . Freilich ist die literarische Distusfion des Milieu­begriffes quantitativ noch ziemlich bescheiden. Ueber Schwererzieh barkeit ist mir bis jetzt nur eine einzige fleine Schrift bekannt ge­worden. Sie stammt aus der Feder des Dresdener Schuldirektors E. O. Wagner. Er berührt insbesondere auch das von Fuchs start unterstrichene Problem der Lehrerauswahl für Klassen mit Schwererziehbaren, und er warnt vor der Hoffnung, durch spezifischen Unterricht allein eine dauernde Besserung zu er zielen. Auch Wagner ist für Tagesheime, befürchtet aber, daß die Eltern gegen die neue Einrichtung ebenso Sturm laufen werden wie noch immer gegen die Hilfsschule. Ganz abmegig erscheint aber Bagner, wenn er in Beziehung auf die Arbeit des Lehrers in einem folchen Tagesheim den§ 28 des Sächsischen Schulbedarfsgefeges fritisiert: Es ist zu bezweifeln, ob diese gesetzliche Feffel für die Lehrerschaft notwendig war. Es gibt Fälle wo sie( gemeint

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ist die förperliche Züchtigung, Anm. d. Berfassers) als legtes Diszi­plinarmittel schwer zu entbehren ist." Ganz abgesehen von dem noch heftig tobenden wissenschaftlichen Streit: hie Anlage hie Umwelt, tann bezüglich des Problems der dauernden Besserung Schwererziehbarer schon jetzt gefagt werden, daß die Lehrerfrage allein nicht ausschlaggebend ist für den Erfolg. Kinder, die nach beendetem Unterricht in der E- Klasse zurüd müssen in das graue Elend, die erneut 3eugen find von bittersten Sorgen der Eltern ums tägliche Brot, die bei der noch immer herrschenden Wohnungsnot im heim" tein Plätz­hen finden für ruhige Selbstbesinnung, werden durch die E- Klassen

Der Abend

Shalausgabe des Vorward

Ein schlechtes Quartett

Hugenberg, Hartz, Haberer, Bier gegen die Sozialversicherung

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In der letzten Zeit machen sich Anzeichen eines neuen organi­fierten Sturms gegen das System der Sozialversicherung bemerk bar. Wenn man auch diese Vorbereitungen im Augenblick nicht ernst zu nehmen braucht die Arbeiterschaft hat schon wiederholt ähnliche Versuche, sie ihrer größten Errungenschaft zu berauben, abgewehrt so ist doch deutlich erkennbar, daß die wirtschaftliche und politische Reaktion den Moment für geeignet hält, die ersten Minen zu legen. Es ist kein Zufall, daß fast gleichzeitig mit dem Minen zu legen. Es ist kein Zufall, daß fast gleichzeitig mit dem Hugenbergschen Rotprogramm", das die Sozialver ficherung mit einem Federstich beseitigen möchte, im Hugenberg­Verlag ein Herr Gustav Harz ein Buch erscheinen ließ, das den charakteristischen Titel: rrwege der deutschen Sozial­politit" trägt und in dilettantischer Weise die angeblichen Schäden des Sozialversicherungssystems bespricht. Es erübrigt sich, auf das Hartzsche Buch näher einzugehen. Es genügt, wenn man die Kritik eines gewiß parteipolitisch nicht eingestellten Beobachters, der ,, Sozialen Pragis", anführt:

Gleichwohl fann sein Buch ungemein gefährliche Folgen haben. Der Geist eines hemmungslosen Individualismus, der es durchweht, schredt insbesondere nicht davor zurück, einseitig und tendenziös die Kosten des bisherigen Systems zusammenzustellen, unter völliger Außerachtlassung sowohl des Umstandes, daß die Leitung der Versicherung in der Tragung des Risitos liegt ufw. Die Soziale Bragis" nennt die Hartsche, dee", die soziale Frage durch kleinen Eigenbesitz lösen zu wollen, als auf einer laien haften Analyse des heutigen Wirtschaftslebens beruhend.

Es genügt weiter, auf die Glosse eines bürgerlichen Blattes, der Bossischen Zeitung", hinzuweisen, in der die Bor schläge Hugenbergs und seiner Getreuen ironisch als Märchen für Rinder und Narren apostrophiert werden.

bergiche Don- Quichoterie gegen die Sozialversicherung auch im Festgehalten zu werden verdient es dagegen, daß die Hugen deutsch nationalen Lager und zwar nicht nur auf dem Lambach- Flügel schärfste Ablehnung erfährt. Kein Geringerer als der Reichstagsabgeordnete Reinhold Mumm wendet sich gegen die versicherungsfeindlichen Pläne seines Parteiführers, der für sich selbst die Rolle eines Diktators beansprucht. Herr Mumm wird kaum in Verdacht kommen, ein besonders fortschrittlich gesinnter Mann zu sein. Er ist seit Jahren eine der stärksten Stützen der politischen und kulturellen Reaktion. Die wüsten Angriffe Hugen­bergs gegen die Sozialversicherung gehen aber selbst ihm über die Hutschnur. In einer Zuschrift an die Soziale Pragis" kritisiert Mumm das Buch von Hartz in Grund und Boden. Er schlägt den Sad und meint den Esel. Seine Worte treffen ebenso sehr Hugen­ berg , den Inspirator und Auftraggeber des Herrn Hark.

,, Als rechtsstehender Politiker, der seit Jahrzehnten in den öffentlichen Kämpfen steht, wende ich mich gegen die Ver­fuch es die bestehende Arbeiterversicherung durch ein, Sparsystem zu erlegen:.. Golche Angriffe wären vielleicht unbeachtlich, wenn es eine einzelne Stimme wäre. Aber man hört zu oft solche An­griffe, als daß man sie überhören tönnte. Die Gesamtlage er fcheint mir ernsten Einspruch gegen solche, vielfach nicht bis zu Ende durchgedachte Zerstörungsversuche zu erfordern. Hier handelt es sich um das, was in einer fast fünfzigjährigen Arbeit im Deutschen Reich aufgebaut worden ist. Und sonderlich die jenigen, die in dieser christlich- sozialen Aufbauarbeit gestanden haben, werden zur Gegnerschaft gegen die Versuche, individuelles Sparen an die Stelle der deutschen Arbeiterversiche­rung zu sehen, gezwungen.... Wir lassen uns den stolzen Bau unserer Väter. die deutsche Arbeiterversicherung, nicht zerstören."

In der

und die entsprechenden Tagesheime wohl mur in Ausnahmefällen zu gesunden, für das Gemeinschaftsleben geeigneten Charakteren heraus­gebildet werden können. Dabei ist selbstverständlich, daß man nicht so lange die Hände in den Schoß legen kann, bis die sozialen Ver­hältnisse günstiger geworden sind; daß diese in der Tat die Schwer erziehbarkeit zu einem großen Teile verschulden, beweist die Statistit der Stadt Berlin vom Jahre 1926. Hälfte aller Fälle war nämlich als Grund für die Schwererziehbar­feit angegeben worden: Berziehung durch das Haus, Verführung durch natürliche oder zufällige Miterzieher usw. Es ist bezeichnend, daß die neu eingerichteten E- Klassen sich besonders in den dicht be. völferten Gegenden der Außenbezirke befinden. Die Zahl der Schwererziehbaren selbst ist erfreulicherweise relativ gering. Es wurden 1926 in Alt- Berlin mit seinen 300 Voltsschulen nur 377 Kinder gemeldet. 154 Schulen machten sogar Fehlanzeige. Wenn man von den Schwachsinnigen und den Epileptikern absieht, dann blieben nur 287 Fälle übrig.

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Die E- Klassen. sollen höchstens 12 Kinder umfassen, unter Um ständen jedoch von zwei Jahrgängen. Die wöchentliche Stundenzahl beträgt unabhängig vom Alter der Kinder 36. Die Hälfte dieser Zeit wird auf die förperliche Betätigung verwendet. Die Errichtung eines Kinderhortes ist in Aussicht genommen, ebenso die Speisung innerhalb der Schule. In Interesse der gefährdeten Speisung innerhalb der Schule. Jugend ist der Ausbau der Einrichtung zu wünschen.

Aerzte in der Reichswehr Ein Vergleich

Man schreibt uns:

ganz

Aus dem Haushaltsplan für 1929 geht hervor, daß auf 100 000 Reichswehrangehörige 293 Sanitätsoffiziere, 200 Beterinäroffiziere sowie 97 Beamte und Beamtenanwärter im Sanitätswesen fom. men. Ist dies viel oder wenig? Die Antwort gibt ein Bergleich mit dem zahlenmäßigen Berhältnis in der Zipilbevölkerung. Wenn mit dem zahlenmäßigen Verhältnis in der Zivilbevölkerung. Wenn man den gleichen Maßstab an die Zivilbevölkerung von Deutsch and im allgemeinen anlegen wollte, fo müßten auf 62 Mil lionen Einwohner 181 660 Aerzte fommen. In Wirklichkeit gibt es aber in Deutschland nur 40 000 Aerzte und dabei sprechen die ärztlichen Organisationen noch von einer unerträglichen Ueber­füllung des ärztlichen Berufes. Die relative Zahl von 181 660 Aerzten stimmt aber trotzdem noch nicht ganz. Denn das Heer feßt sich aus ausgesucht gefunden Menschen im fräftigsten Mannes alter zusammen. Es fehlen hier gerade die Schichten der Bivil bevölkerung, die auf die ärztliche Sylfe besonders angewiesen sind: Kinder, Frauen und Greise. Benn, man diese überwiegenden, der Reichswehr gegenüber gesundheitlich benachteiligten Teile der Bivil

Für dieses Wort sind wir Herrn Mumm dankbar. Die Bäter dieses stolzen Baues waren die Sozialdemokraten. Die Berstörer sind die Parteigenossen des Herin Mumm, die Deutsch­nationalen, mit Hugenberg an der Spitze. Wir haben die Worte Mumms wiedergegeben, um zu zeigen, daß Hugenbergs Pläne schon im eigenen Lager ein schnelles Ende finden würden, wenn die Deutschnationalen überhaupt die Macht hätten, ihren Anschlag auf die Sozialversicherung in ein aftives Stadium zu leiten. Aber das wird nie geschehen. Hugenberg, Hart und Klüngel machen ihre Rechnung ohne den Wirt: die organisierte Arbeiterschaft.

So erfreulich es ist, daß selbst ein Reaktionär vom reinsten Wasser, wie Herr Mumm, die Sozialversicherung gegen die Butsch­abfichten aus dem eigenen Lager verteidigt, so traurig ist es, daß in der Aerzteschaft es nicht an Stimmen fehlt, die folche Putschpläne noch fräftig unterstützen. Es ist noch erinnerlich, daß bei der diesjährigen Berliner Chirurgentagung die Hetze gegen die Sozialversicherung in verstärktem Maß fortgesetzt wurde. Der Düsseldorfer Professor v. Haberer fonnte es sich nicht versagen, von den ungeheuer viel Kranken in, Düsseldorf " zu sprechen ,,, bie als Träger einer Sozialversicherung nicht den Willen und Wunsch haben, schnell zu genesen und ganz gesund zu werden, und die von ihrer Krankheit leben". Herr Haberer erblickt in der jetzigen Form der deutschen Sozialversicherung eine große Gefahr für das Bolkswohl: ie verweichlicht das Bolt, ja er. zieht zur Rentenfucht".

Auch Herr Geheimrat Bier fonnte es sich nicht versagen, in die gleiche Kerbe zu schlagen. Man forderte schließlich, die deutsche Gesellschaft für Chirurgie solle alles einschlägige Material sammein und den geseggebenden Körperschaften zur Abstellung der Schäden der Sozialversicherung vorlegen.

Es ist kein Wort zu verlieren über die speziell für Wissen­schaftler doppelt verwerfliche Art, aus. Einzelvorkommnissen all­gemeine Folgerungen über die Sozialversicherung als solche zu ziehen. Seit Jahren kann man diese Art von Guerillafrieg ärzt­licher Organisationen gegen die größte soziale Errungenschaft der Gegenwart beobachten. Lächerlich ist dabei das scheinheilige philan­tropische Mäntelchen, in das alle diese antifozialen Kundgebungen gekleidet werden. Aus purer Sorge um das Bolkswohl, in Besorgnis einer Verweichlichung des Volkes wollen die Herrschaften diese ein­zigartige und bewährte Institution für das Volkswohl mit Stumpf und Stil auszurotten? Man wäre versucht zu lachen, wenn der An­laß nicht ein so trauriger wäre.

Die ärztliche Kampagne ist um so unbegreiflicher, als sie ge­eignet ist, die wirtschaftliche Existenz vieler Tausende. von Aerzten zu vernichten. Heute liegen die Dinge so, daß die Aerzteschaft wirtschaftlich von der Sozialversicherung abhängig ist. Hugenberg, Harz , Haberer und Bier werden die Sozialversiche rung nicht zerstören, aber ihre Zusammenarbeit ist soziologisch äußerst interessant. Die Absichten der Hugenberge sind durchsichtig. Sie wollen die Sozialversicherung beseitigen, um sich der Sozial­lasten zu entziehen. Und die Haberer und Bier? Sollten hier die Hintergründe nicht in dem frommen Wunsch zu suchen sein, sich einer unbequemen Konkurrenz zu entledigen und weniger ein freies Spiel der Kräfte als ein freies Spiel der Honorarforderungen zu ent­fesseln? Das Quartett der Hugenberg, Harz , Haberer, Bier mag seine Forderungen begründen wie es will, eins sollte es aus dem Spiel lassen: die Bolts wohlfahrt.

Medicus.

bevölkerung mit berücksichtigt, so muß man eine noch größere Zahl von Aerzten nehmen.

Das Berhältnis perschiebt sich weiter, wenn man die Reichs. marine zum Bergleich heranzieht. Hier tommen auf 15 000 Mann 98 Sanitätsoffiziere. Dementsprechend müßten auf 62 Mil­lionen Zivilbevölkerung ganz Deutschlands 300 000 Aerzte anstatt der vorhandenen 40.000 fommen. Wenn man aber auch hier die Frauen, Kinder und Greise berücksichtigt und das Verhältnis dem­entsprechend ändert. dann kommt man zu einer grotesten Ziffer.

Man verstehe diese Rechnung nicht falsch. Kein vernünftiger Mensch wird dem Heer und der Marine den notwendigen ärztlichen Schutz nehmen wollen. Aber selbst wenn man die eigentümlichen Verhältnisse von Heer und Marine, wie starte örtliche Berstreuung, Notwendigkeit eines selbständigen Verwaltungsapparates, die nun einmal nicht eine umgehende Bereitschaft für den Ernstfall berück­sichtigt, muß der Bergleich doch nachdenklich stimmen, um so mehr, als für Heer und Marine außerdem noch 470 000 mt. Honorare für Zivilärzte usw. in Fällen gezahlt werden, in denen Sanitäts­offiziere nicht zur Verfügung stehen. Das hat selbst im bürgerlichen Lager Aufsehen erregt. Der Han fabund z. B. schlägt in seinem Sparprogramm vor, durch Streichungen bei sächlichen Ausgaben bei Heer und Marine mindestens 325 000 Mt. einzusparen, ins­besondere bei den Arznei- und Krankenpflegekosten, der Lazarett­wirtschaft usw. Wenn wir auch davor warnen möchten, Ein­sparungen am falschen Platz zu machen, so verdient doch dieses Kapitel eine ernste Nachprüfung.

,, Nikotinfreie" Tabakfabrikate.

Das preußische Ministerium für Boltswohlfahrt hat folgenden Erlaß herausgegeben, betr. nitotinarme und nitotinfreie Tabatfabritate:

Wie die vom Reichsgesundheitsamt und von anderen sach­verständigen Stellen vorgenommenen Untersuchungen ergeben haben, befinden sich unter Bezeichnungen wie entnikotinifiert", | ,, nifotinarm", nikotinfrei", nikotinunschädlich"; natürlich- nikotin­arm" ,,, nikotinneutral" Tabatwaren im Handel, die ebensoviel oder nur unwesentlich weniger, zum Teil fogar mehr Nitotin enthalten oder an den Rauch abgeben wie durchschnittlich die ge­wöhnlichen Tabakerzeugnisse. Hierin liegt deshalb eine erhebliche Gefahr, weil empfindliche oder frante Personen, denen der Arzt nur nikotinfreien Tabat gestattet hat, durch den Genuß solcher Tabafwaren gesundheitlich geschädigt werden können.

Tabakwaren, die als nikotinfrei" ,,, nifotimunschädlich" ,,, nikotin­neutral", entnifotinifierte" oder mit gleichfinnigen Bezeichnungen in den Handel kommen, sich aber in ihrem Nikotingehalt von ge­wöhnlichen Tabaferzeugnissen nicht wesentlich unterscheiden, find jedenfalls als irreführend bezeichnet im Sinne des§ 4 Nr. 3,§ 13 des Lebensmittelgejeges vom 5. Juli 1927 anzusehen.