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Jtr. 208 46. Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Gonntag. 5. Mai 4929

Es ist müßig, darüber zu streiten, obdas Kind in die Familie gehört', ob unter allen Umständen dieMutter immer die beste Erzieherin' ist. Denn in Wirtlichkeit stehen die Dinge schon bald jo, daß sich erwerbstätige Menschen nur dann den Luxus, Kinder zu haben, leisten können, wenn sie schon vorher wissen, daß ihr Kind in den ersten zwei Iahren in der Krippe, bis zur Schule in einem Kinderhaus und nach der Schulzeit in einem Kinderhort aufgehoben werden kann. Denn immer mehr wird auch die verheiratete Frau zur Erwerbsarbeit ge- zwungen. Ob sie als Heimarbeiterin an der Maschine sitzt oder ob sie weiter die Buchhalterin bleibt, die sie vor ter Ehe war: In jedem Fall bleibt ihr für die Erziehung der Kinder kaum noch Zeit und Kraft übrig. Dann bleibt eben nur das Kinder- Haus, in dem das Kind vom Morgen bis in den späten Nach- lnittäg behütet wird. So haben wir in allen Stadtteilen jetzt diese Ergänzungen der Schulkinderhorte: die K l e i n k i n de r h o rt«, in- denen die Kinder betreut, erzogen, ernährt werden? vom Morgen bis zum Nachmittag, bis die Eltem von der Arbeit kommen und das Kind wieder der Familie gehört. Aber diese Kinderhäuser sehen recht verschieden aus. Das Musterhaus im Westen. Nahe dem chohenzollernplotz schließt eine Mauer«inen ehemaligen Bauplatz von der Straße ob. Dahinter liegt erst ein Depot der Strahenreinigung und dann, von einem Drahtzaun um- geben, ein« Baracke mit Notwohnungen. Es liegt an der gegen- überliegenden Seite noch eine Baracke, freundlich hell gestrichen: Darinnen ist das Kinderland. In zwei großen, hell- gestrichenen Räuinen stehen winzige weißgestrichene Stühle und Tische. Die Wand umziehen niedere Borde, von denen sich die Ktnder selbst ihr Beschäftigungsmaterial holen können. Niedrig hängen die liebevoll ausgesuchten Bilder. Alles ist auf die Größe drei- bis sechsjähriger Kinder zugeschnitten, denn das ist ja ihr Haus, das Kinderhaus: sie wohnen darin, und ste pflegen es selbst. Kleine Waschtische nehmen die eine Wand vollständig ein: jedes Kind hat lin eigenes Handtuch. Dann hängt da, puppcnwinzig, aber für die kleinen Hände gerade recht zum Gebrauch, Besen, Schippe, Schrubber und alles, was man zum Reinemachen gebraucht. Denn die Kinder setzen ja ihren Stolz darein, ihr Haus selbst in Ordnung zu halten, und so geht an jedem Morgen das Fegen, Aufwischen und Staubwischen los. Immer finden sich genug Freiwillige, auch zum Abwaschen und Abtrocknen des Frühstücksgeschirrs. Zum Mittagessen werden die Tische weiß gedeckt. Auch hier be- dienen zwei Kinder die übrige Tischgesellschaft, und formgerecht servieren die drei- und vierjährigen Kellner von links: natürlich ist auch das Geschirr ganz wie bei den Großen schönesPorzellan mit einem niedlichen Streublumenmuster. Alle Sachen, alles Ma- terial ist hier so schön, so gepflegt, daß es schon durch seine Cr- scheinung allein zwingt, sorgfältig und behutsam zu sein. Wer wollte der prächtig grün lackierten Treppe, dem herrlichen lila Turm auch wohl das erste Leid zufügen! Im zweiten Zimmer steht ein großer Flügel: darauf liegen Tambourins . An der Wand hängen Triangel. und es ist sogar ein ganzes Iazzschlagzeug da, in einer Größe, die gerade für so einen kleinen Musikanten paßt. Alle Kinder sind für die Musik begeistert, und wenn die Leiterin sich an

den Flügel setzt, dann kommen sie all« nur zu

dem

.Strich', der die Mitte des Zimmers umzieht, üben sie sich in rhythmischem Schreiten, andere bilden die.Kapelle'. Bor den Fenstern liegt, riesengroß und sonnig, der Spielplatz. Freilich. sein Grund ist häßlicher grauer Bauschutt, der abscheulichen Staub entwickelt. Sonst haben die Kinder hier alles: Licht, Sonne, Musik und eine so schöne gepflegte Umgebung, wie sie selbst in bürgerlichen Familien den Kindern nicht immer geboten wird. Wer sind die kleinen Gäste des Kinderhauses? Zumeist Kinder aus bürgerlichem Hause: dann Kinder kleiner Geschäftsleute: und einige wenige, bei denen Mutter und Vater arbeiten müssen, vorwiegend Intellektuelle. Der Erziehungsbeitrag beträgt 20 M. im Monat, das Esten, Mittagbrot und Vesper, kostet 3 Mark wöchentlich: aber es gibt einige ganze und halbe Freistellen. Im Osten. Vlumenstraßel' Wie ein Hohn klingt dieser Name in einem Bezirk, in dem jedes Fleckchen bebaut ist. Rechts und links trostlos graue Häuser, sonnenlose Höfe: die Straßen überfüllt von Verkehr. Irgendwo stolpert man mal über ein paar klein« Göhren , die aus- sehen, als hätten sie gerade Zille Modell gestanden. Herrgott hier gibt's auch Kinder! Wo mögen die stecken, wo mögen die spielen? Da steht an einem Miethause, das sich in nichts von seiner Nachbarschaft unterscheidet, plötzlich eine Tafel: hier ist ein kleinkinderhork, der von der Arbeilerwohlfahrt betreut wird. Hier...? Aber hinter dem Hau-slur wird einem eine Osfen barung: Do liegt rückwärts dem Miethaus ein großes Schul- grund stück, und an seinem Ranke steht der Rest eines alten Miethauses: Hier hat die Stadt der Arbeiterwohlfahrt die Räume für ihren Hort überlasten. Zwei Zimmer im Parterre, eins im ersten Stock, dazu im Parterre noch ein Küchcnraum. Früher gehörte der Hort dem Verein für Volkskinderhorte, vor vier Jahren ungefähr wurde er von der Arbciterwohlfahrt übernommen. Damals wurden die Räume frisch gestrichen. Die Küch« freilich nicht, die sieht aus wie eine bessere Räuberhöhle. Auch der Anstrich in den anderen Räumen könnte Heller sein. Zersetzt ist der Linoleumbelag des ersten Raumes, die Dielen biegen sich, wenn man stark darauf tritt. Aber in der Mitte des Raumes stehen kleine rote Tischchen und Stühlchen, an der Wand hängen Handtücher, eines für jedes Kind, und darüber stehen auf einem Bord, o Wunder, kleine Emaillebecher vor jedem hängt eine Zahnbürste! An einer Wand steht ein« lang« Waschbank, darauf setzen sich die Kinder ihre Emailleschüsselchen es ist Ehrensache, sich selb st walchen zu können, und sie waschen sich vor und nach jeder Mahlzeit. Oben im ersten Stock ist der Schlafraum. Da stehen auch die niederen Metallrahmen, und es liegen richtig« Bettchen drauf: Di« Arbeiterwohlfahrt hat das ganze Bettzeug gestiftet, kenn hier können die Eltern nicht so schöne Bezüge mit- geben. manches der Kinder schläft zu Haus im unbezogenen Bett. Porzellangeschirr gibt's hier nicht; mal mal hat der Hort zwanzig Stemgutbecherchen besessen. Da hat«in kleines Unglücks- wurm sie die Trepp« herunterfallen lasten. Nun gibt's nur noch Emaillebecher, die alle die Spuren des langen Gebrauches aufweisen. Di« Spielsachen auch: die unpoliertcn, Klötze der Fröbel- schen Baukästen sind schon durch unzählige Kinderhände gegangen,

so daß sie grau an den Kanten sind. Aber jede Beuanschassung an Spielzeug ist«in schweres Problem: Zwei Mark zahlen die Eltern wöchentlich, kost Inbegrissen, und dafür muß auch das Spielzeug ergänzt, die Wäsche gewaschen werden. Mit rührender Liebe basteln Leiterin und Helferinnen manchmal selbst herrliche Ding« zusammen: So die beiden vielbegehrten Puppenbettchen, deren leuchten- den Farben man es nicht ansieht, daß diese herrlichen Möbel ur- sprünglich als ganz einfache Mandarinenkörbchen auf die Welt ge- kommen sind. Musik gibt's nur, wenn sich die Leiterin mal die Gitarre umhängt. Welch Schatz wäre hier ein altes Klavier! Tisch- decken gibt es nicht: die Tischchen sind mit Linoleum belegt. Der Unterschied in den Räumen ist, wenn man aus dem Hort im Westen kommt, erschütternd. Aber man darf nicht vergessen, was die Arbeiterwohlfahrt hier vorfand: Schmutzig grau ge- strichen« Schulbänke und Tische als einziges Inventar des Kinder- Hortes ohne jedes kleinste Stückchen Spielzeug. Die Baukästen waren das erste, was sich beschaffen ließ. Man darf nicht vergessen, wie aufopfernd hier mit bescheidensten Mitteln Leiterin und Helfe- rinnen den Kindern ihr«Heimat auf Zeit' behaglich machen. Für die Kinder, die hierher kommen, ist der Hort ein Erlebnis und er ist in vielen Fällen die einzige Stelle, an der sie vor geistiger und körperlicher Verkümmerung gerettet werden können. Woher sie kommen. Da sind zwei liebe, wohlerzogene Kinder: die Mutter war Stenotypistin, der Vater Kaufmann. Jetzt hat der Dater«inen Lumpenkeller, die Wohnung liegt am Geschäft, und wenn sie noch so sauber gehalten ist: Außer den beiden und einem schulpflichtigen Kind schlafen auch noch die Eltern in der Kellcrstube, die nur ein Fenster in der Eck« hat dasB e r l i n e r Zimmer" im Keller. Vor der Kellertreppe aber läuft diese menschenüberfüllte Straße des Ostens wo sollen diese Kinder spielen? Für sie ist das Stückchen Schulhos, das dem Hort gehört, ein ganzes Paradies. Stehen doch sechs richtige Bäume und eine Sandkiste drin! Dann ist da ein hübscher blondlockiger Bengel von sechs Jahren: die Eltern leben in Scheidung, der Vater trinkt, das Kind ist beider Prügelknabe. Ein Dreijähriger: der Vater hat die Mutter so mißhandelt, daß sie einen Schädelbruch davontrug. Dann wurde sie verschickt: nun hat der Vater das Kind zur Großmutter gegeben. Auch die liebt den kleinen, noch unsauberen Jungen nicht. Aber weil die Eltern jetzt in Scheidung liegen, ist es eine Prestige- frage für den Dater, den Jungen nicht herauszugeben... Nur im Kinderhort findet das Kind Verständnis und Liebe. Da schickte die Fürsorge einen kleinen elternlosen Jungen von vier Iahren, der bei der Großmutter war. Auf demselben Korridor wohnte eine Prostituierte, die sich schon mehrmals an Kindern vergriffen hatte... Bis zu sechs Iahren war der Jung« im Hort, dann mußte er zur Schule, mußte wieder bei der Großmutter bleiben... Das rührt an den Kern des Problems: Wohl kann man Kinderhorte schassen, kann sie, wenn die nötigen Mittel zur Verfügung stehen, mustergültig ausgestalten. Aber immer werden sie nur von einer kleinen Anzahl von Kindern besucht. Gerade an die elendesten, der Hortpfleg« bedürftigsten Kinder kommt man mit der Freiwilligkeit' des Hortwefens nicht heran: außerdem sind für eine wirklich ausreichende Fürsorge alle privaten Mittel unzulänglich. Wie ein Kinderhaus aussehen müßte, zeigt da- Haus in Wilmersdorf , das, ursprünglich nur für die Kinder besitzender Kreise geschaffen, erst jetzt zum Voltskinderhort geworden

in SSitd aus dem SCeim. ist. Wie unsere wirklichen Volkskinderhäuser aussehen, weist dos Beispiel des von der Arbeiterwohlfahrt geleiteten Kinderhauses auf. Dabei darf nicht vergessen werden, daß in vielen, von konfessionelle» Verbänden geleiteten Horten zu dieser unzureichenden Einrichtring noch eine unzureichende Pädagogik tritt: Nur in den Montessori.Höusern und im Hort der Arbeiterwohlsahrt ist die Prügelstrafe prinzipiell beseitigt. Müßig ist hier der Streit um Montessori - oder Fröbel-System: Mit den unzureichenden Mitteln,