Morgenausgabe
Nr. 222
A 112
46.Jahrgang
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Mittwoch
15. Mai 1929
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Barrikadenstrategie.
3ft Klaffenkampf Straßenkampf?
Auf dem Friedhof im Friedrichshain ruhen die Ge fallenen des Barrikadentampfes vom März 1848. Das Proletariat Berlins hält ihr Andenken hoch und schmückt die Gräber alljährlich mit frischen Kränzen. Denn die Kämpfer erdrückenden Mehrheit zu den seinen gemacht hat: für das Don 1848 starben für Ideale, die das Proletariat in seiner allgemeine, gleiche Wahlrecht und für die Freiheit des Worts. politischer Parteien noch das Bestehen einer freien Presse. Der Der Polizeistaat des Vormärz gestattete weder die Bildung Köng von Preußen regierte ohne Volksvertretung absolut, und eine andere Meinung als die von der Regierung befohlene war nicht geduldet.
Brüffeler Kabinett allein die Berantwortung für ein Fiasko der Die Delegierten der Gläubigerländer zur Sachverlenten entschließen, und die Gefahr wäre nicht allzu groß. Nun Konferenz zu übernehmen hätte, so würde es fich fraglos zum Einständigenkonferenz werden im Laufe ihrer Mitt scheint aber die schlimmsten Falles in Aussicht genommene Lösung, wochsihung den von Dr. Schacht und Josiah Stamp die Entscheidung über den Verteilungsschlüffel den Regierungen zu ausgearbeiteten Vorentwurf des Schlußberichts überlaffen, wieder in Frage geftelt zu sein. Man würde sich von vornherein in Brüffel taum zu einer solchen Haltung entfchloffen prüfen. haben, wenn man nicht zumindest auf die französische Unter- politischer fühung rechnen zu dürfen glaubte. In der Tat beginnt die Pariser Presse sich bereits deutlich gegen das Youngsche Kompromiß in seiner jetzigen Form zu wenden und die Forderung zu erheben, daß die Allierten sich wieder auf die Grundlage ihres Memorandums vom 17. April stellen.
Schacht und Stamp haben am Dienstag diese gemeinsame Arbeit abgeschlossen. Der Entwurf wurde noch am Abend den Gläubigerdelegierten überreicht. Damit würde ein glüdlicher Ausgang der Konferenz in allernächste nähe gerüdt fein, wenn nicht
bereits wieder ein unerwartetes Hindernis in Gestalt des plöhlichen Widerstandes der Belgier das Schicksal der Beratungen in Frage gestellt hätte. Die belgische Delegation hat sich zwar noch nicht offiziell gegen den Youngjchen Kompromißvorschlag ausgesprochen, aber was über die Beratung Francquis mif dem belgischen Kabinett verlautet, läßt feinen Zweifel über die in der belgischen Delegation herrschenden Auffassungen. Wenn das
Bon der deutschen Delegation wird von einzelnen Blättern verlangt, daß fie in eine Erhöhung der vorgesehenen deutschen Jahreszahlungen um 100 millionen Mark willige. Von einzelnen Delegationen wurde eine Erhöhung um 50 millionen angeregt.
Dr. Schacht hat diese Forderungen mit Entfchiedenheit abgelehnt.
Gute Aussichten für die Sozialdemokratie.
Brüffel, 14. Mai.( Eigenbericht.)
Der belgische Wahlkampf ist bereits in vollem Gange. Am 26. Mai wird die neue Rammer und der neue Senat gewählt. Was steht auf dem Spiele? Um diese Frage zu beantworten, ist
es nötig, einen Blick auf die Ergebnisse der Kammerwahlen von
1925 und auf die Zusammensetzung der eben aufgelösten Kammer in Proz. Abgeordnete
zu tun. Es erhielten 1925:
Sozialisten Katholiten.
• T.
Stimmen 820 650
39,44
799 523
38,43
78 78
Liberale
305 039
14,66
23
Flämische Frontpartei.
79 693
3,83
6
Kommunisten
43 147
1,64
2
Andere Kandidaten
52 997
2,54
187
feine Lage fast unhaltbar machen tönnen. Die Sozialisten würden 3ur stärksten Barlamentsfraktion werden und damit normalerweise zur Bildung der neuen Regierung berufen sein. Dazu kommt, daß die Liberalen, falls fie nach dem letzten katastrophalen Verlust auch diesmal noch Mandate verlieren sollten, sich schwer dazu werden entschließen können, die Koalitionsregierung mit den Katholiken fort zusehen. Jedenfalls dürfte die Bildung der neuen Regierung nicht ohne erhebliche Schwierigteiten möglich sein.
In Erwartung ihres Mißerfolges haben bürgerliche politische Kreise schon jetzt den Versuchs ballon einer neuen Drei. parteienregierung auffliegen lassen. Den Vorwand dazu soll u. a. der Umstand liefern, daß Belgien im nächsten Jahre die Jahrhundertfeier seiner nationalen Unabhängigkeit begeht und schon deshalb eine Regierung der nationalen Einigkeit" am Plage wäre. Bielleicht wird nicht ganz ohne Grund behauptet, daß namentlich oft reise sich für diese Lösung einsehen wollen. Daraufhin hat
Bandervelde sehr fategorisch abgewinkt.
Die Sozialisten wurden damit zum erstenmal zur st är?= ften Partei des Landes, obschon die Katholiken die gleiche Zahl von Abgeordneten erhielten. Der sozialistische Sieg war nach belgischen Verhältnissen gemessen und in Anbetracht der geltenden Verhältniswahl ein gewaltiger. Die sozialistische Kammerfrattion stieg von 68 auf 78, während die katholische Fraktion von 80 auf 78 sant. Die Liberalen, die schon in der Rammer von 1921 auf 33 Mann herabgesunken waren, verloren noch weitere 10 Mandate. Das Wahlergebnis führte zur Bildung der sozialdemoäum wäre ein geradezu lächerlicher Vorwand und konnte nur die fratisch- katholisch- demokratischen Roalitions
=
regierung Poullet Bandervelde, die ein Jahr später infolge des Ansturmes der Hochfinanz und der politischen Reaktion gegen die Währung gestürzt und durch die sogenannte Frankenstabilisierungsregierung der drei großen Barteien unter Führung Jaspars, Banderveldes und Francquis ab. gelöst wurde. Ende 1927 traten die Sozialisten wegen der Militärfrage aus dieser Regierung aus und seitdem herrscht die
fatholisch- liberale Koalition Jaspar- Hymans.
Es ist außerordentlich schwer, Boraussagen über das vor. aussichtliche Wahlergebnis machen zu wollen. Die Berichte aus allen Wahlkreisen lauten für die sozialistische Partei außerordentlich günstig. Nie zuvor hat in den Reihen der Sozialisten so große Einigkeit, Begeisterung und Siegeszuversicht geherrscht wie augenblicklich, während sich bei den Gegnern mehr und mehr Zeichen der Entmutigung bemerkbar machen. Aber nach dem großen Siege von
Eine Dreiparteienregierung ohne eigentliche parlamentarische Oppofition ist nach Auffassung der sozialistischen Partei nur in ganz besonderen Ausnahmefällen, wo es fich wirklich darum handelt, das Land vor einer unmittelbar drohenden schweren nationalen Gefahr, wie dem Währungszusammenbruch, zu retten, zuläffig. Ein Jubi
sich wieder aufzurichten versucht, aber das es in Widerspruch Dieses System ist im März 1848 gefallen. Wohl hat es stand zu der ganzen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ents Der 9. November 1918 hat das Werk vollendet, das der midlung, mußte es schließlich endgültig den Plaz räumen. 18. März 1848 begonnen hatte.
des Mittels willen, mit dem sie gekämpft haben, sondern So ehren wir die Barrikadenkämpfer von 1848 nicht um um des Zieles willen, für das sie ihr Leben opferten. Wir Sozialdemokraten sind die Hüter ihres Erbes. Die fommunistischen Barrikadenstrategen von 1929 aber haben nicht das geringste Recht, sich auf sie zu berufen, denn das, wofür jene geblutet haben, Demokratie und staatsbürgerliche Freiheit, wollen die Verkünder woskowitischer Heilslehren von Grund auf wieder zerstören.
Das Ziel, nicht das Mittel macht den echten Revolutionär. Das Auftürmen von Pflastersteinen. Litfaßsäulen und Gasrohren ist an sich etwas rein Mechanisches, das von Ronterrevolutionären oder unpolitischen Strolchen genau jo gut ausgeführt werden kann wie Don revolutionären Idealisten. Das Ziel, der Geist ist das Entscheidende. Der Geiſt" der Barrikadenstrategen von heute, sofern bei dieser Gesellschaft überhaupt von Geist gesprochen werden kann, ist dem revolutionären Geiſt von 1848 diametral entgegengesett. Jener Geist war es ja schließlich auch, der gesiegt hat. Das Mittel des Barrikadenkampfes fonnte aber damals an gewandt werden, weil man aus Vorderladern schoß. Die Kriegstechnik steckte noch in den Kinderschuhen. Bei ihrem gegenwärtigen Stande hat die Empfehlung des Baues von Barrikaden ungefähr ebensopiel Sinn, wie wenn man dazu aufforderte, mit Beilen aus dem Steinzeitalter oder mit Pfeil und Bogen zu kämpfen. Ein Minenwerfer ist imstande, eine Barrikade fortzufegen, wie ein Handbesen eine leere Streichholzschachtel fortfegt.
Die Geschichte der kommunistischen Bürgerkriegsversuche ist bisher vom militärischen Standpunkte aus überhaupt noch nicht beleuchtet worden. Auch für sie ist der vollfommene Wirrwarr und die kläglichste Unfähigkeit ebenso wie für alle ideologischen Kämpfe des Kommunismus das entscheidende Kennzeichen. Ohne jede ernstliche Vorbereitung, ohne Blan und Ueberlegung hat man die jeweils zur Vera fügung stehenden Maffen aus einer Niederlage in die andere geheßt. Die Empfehlung des Barrikadenbaues als äußerste Ruipigung des Klassentampfes" und der revolutionären Aktion setzt diesem topflosen Treiben die Krone auf.
Folge haben, das parlamentarische Regierungssystem überhaupt zu diskreditieren. Vandervelde ist überdies der Auffassung, daß die belgische Ruth Fischer sagte, einmal in ihrer Glanzzeit, die sozialistische Partei überhaupt nur dann wieder an der Regierung Anhänger der KPD. feien so dressiert, daß man auch die teilnehmen fann, wenn sie einen glänzenden Wahlfieg erringt, Regierung des Mondes als Ziel aufstellen könne; der ihr eine unumstrittene, beherrschende Stellung in der Regierung die Anhänger würden dann nach der Regierung des Mondes fichert. Zu einer Kombination Jaspar oder ähnliches, wo Katholiken schreien. Nur aus einer solchen besinnungslosen Gläubig. oder Liberale die erste Geige spielen wollen, dürften sich die Sozia- feit, die jede logische Erwägung von sich abweist, kann man listen nicht wieder hergeben.
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erklären, daß Moskau jezt den Barrikadenbau als Mittel des Kampfes gegen festgefügte und modern bewaffnete For mationen empfehlen kann, ohne allgemeiner Entrüstung und allgemeinem Gelächter zu begegnen.
Lintsregierung bleibt am Ruder. Starte Berlufte der unter den heute gegebenen Umständen genau so sinnvoll
Kommunisten.
Der Barrikadenbau als revolutionäres Kampfmittel ist wie die Regierung des Mondes" als revolutionäres Ziel. Will man in den Moskauer Anweisungen überhaupt so etwas wie Sinn entdecken, so fann er nicht darin bestehen,
1925 wäre es vielleicht unvorsichtig, neuerdings auf eine starte der Sozialdemokratie einen außergewöhnlichen starten daß man glaubt, in Barrikadenkämpfen militärische Erfolge
rechnen. Die Verhältnisse liegen jedoch so, daß schon eine kleine Verschiebung wichtige Folgen für die politische Lage haben tann. Es kommen dabei eine Reihe von Möglichkeiten in Betracht. Aus der obigen Aufstellung ergibt sich, daß der katholisch- liberale Regierungsblock über 101 Abgeordnete verfügte, während die absolute Kammermehrheit 98 beträgt. Berliert also die Regierungstoalition acht Mandate, dann hat sie teine Mehrheit mehr und fann feine Regierung bilden, da Frontisten und Kommunisten unter allen Um. ständen zur Opposition halten. Diese Lage fann sich auch, abgesehen von etwaigen fozialistischen Erfolgen, unschwer einstellen, weil man ganz allgemein damit rechnet, daß die
Flämische Frontpartei ihre Mandatszahl erheblich verstärken will, und zwar so gut wie ausschließlich auf Rosten der Ratholiten. Aber selbst wenn der Regierungsblod eine Mehrheit behält, würde schon eine verhältnismäßig geringe Schwächung
Stimmenzuwachs, während die kommunisten starte Berlu ft e erlitten. Auch der Bauernbund verlor zahlreiche Stimmen an die bürgerliche Mitte.
Die unter Führung der Sozialisten stehende Linksregierung dürfte durch die Wahl gesichert sein.
Staunings Programm.
Boran die Abrüftung.
Kopenhagen , 14. Mai. ( Eigenbericht.) Der neue dänische Reichstag wurde am Dienstag mit einer Programmerklärung De- s Ministerpräsidenten Stauning eröffnet. Als. wichtigste Aufgaben für die Zukunft betrachtet die Regierung: Durchführung der Abrüstung, Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und Verbesserung der Sozialgesetzgebung.
ernten zu können. Der Sinn muß ein ganz anderer sein. Die Barrikadenkämpfer von 1848 haben ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt. Wenn Unbeteiligte zu Schaden tamen, war das weiter nichts als ein unbeabsichtigter trau riger Zufall. Was sich aber in den ersten Maitagen dieses Jahres am Wedding und in Neukölln revolutionär" gea bärdete, schien sehr wenig darauf erpicht, die eigene Haut zu Markte zu tragen. Viel eher schien alles darauf angelegt zu sein, die Polizei ohne erhebliche eigene Gefahr derart zu belästigen und zu reizen, daß fie fich schließlich in den Zielen ihrer Gegenwehr vergriff und möglichst viel Unbeteiligte zu Schaden famen.
Damit sollen wirkliche Mißgriffe der Polizei in feiner Weise entschuldigt oder beschönigt werden. Wir haben schon wiederholt ausgesprochen, daß die Lehren der blutigen Mai tage auch von den verantwortlichen Leitern der Polizei gezogen werden müssen. Elemente, denen das Dreinhauen Ber