Beilage
Donnerstag, 16. Mai 1929
Was sollen wir tun?
Pubertät- Entwicklungskrife- Selbsterziehung
Das Wort Entwicklungstrise ist uns heute recht geläufig; erlebt doch jeder, der nicht blind und taub im Entwicklungsprozeß unferes gesellschaftlichen Neubaues steht, den Sinn dieses Wortes fast täglich in seiner ganzen Schwere. Um so mehr sollten wir Verständnis haben für das fritische Stadium, das jedes unserer Kinder durchmacht, wenn es die Zeit der Pubertät erlebt, wenn ihm die eigentliche Kindheit in die Vergangenheit verfinft und ein Neues in ihm im Entstehen ist, das ihm zunächst nichts als Berwirrung bringt.
Schon die förperlichen Merkmale, die mit dem Eintritt der Mannbarkeit verbunden sind, lösen bei manchem Jugendlichen ein Erschrecken aus, Reichlich so bedeutungsvoll sind ihm jedoch die Umwälzungen, die sich in seinem gesamten Wesen abspielen und die ihn zwingen, seine Umwelt nun mit ganz anderen Augen zu betrachten.
Es war eine Klasse zwölf- bis dreizehnjähriger Mädchen. Die Lektüre von Storms Schimmelreiter" hatte schon ein paar Tage lang den Mittelpunkt unserer Arbeit gebildet. Auch an diesem Morgen faßen wir wie gewöhnlich unter den grünen Bäumen des Schulgartens zur Arbeit bereit. Aber ein Fremdes lag heute in der Luft, und ohne jede Anfündigung stand es im Gespräch plötzlich mitten unter uns. Ein Arzt in der Nachbarschaft sollte sich erschossen haben, weil er an dem Tod einer Frau infolge eines Abtreibungsverfuches schuldig war. Brodenweis, erregt wurden die Mitteilungen herausgestoßen. Auf der Grenze zwischen Bissenheit und Unwissenheit segelten die Gedanken der Mädchen hin und her. Die einen verlangten nach Klarstellung, die anderen wandten sich vor Scham oder vor Grauen ab; aber alle erfüllte ein tiefes Mitgefühl mit jener unglücklichen Frau
Ich hatte zum erstenmal das erwachende Weib aus den Mädchen sprechen hören, Weibesnot sich in Kinderaugen spiegeln sehen. Und ich habe ihnen lange gesprochen über Mutterglück und Mutterleiden, so lange, bis ich hoffen durfte, daß die Erregung einer ruhigen Betrachtung Plaz gemacht habe. Alles was man mit der sogenannten Aufklärung zu bezeichnen pflegt, fand im Anschluß an dieses Erlebnis seine selbstverständliche Er. ledigung. Dankbar wurde mir versichert, wie gut es sei, daß wir diese Dinge miteinander besprechen könnten, es mit der Mutter zu tun, getrauten sie sich nicht.
Mich überraschte das damals so sehr nicht, war ich es doch gewohnt, daß die Mädchen mit all ihren Freuden und Leiden zu mir tamen, mich unbekümmert um Rat angingen und Hilfe for derten. Ich hatte es mir allerdings auch zur Pflicht gemacht, teiner Frage auszuweichen und so ehrlich und fachlich zu antworten, wie gefragt worden war.
Trotzdem mußte ich bald einen Wandel feststellen; weniger Offenheit, mehr Scheu, mehr zurückhaltung in persönlichen Angelegenheiten wurde immer deutlicher. Selbst sorgsamste Beobachtung vermag die Gründe im einzelnen nicht aufzudecken Man hat sich damit abzufinden, daß vor unseren Augen sich eine Umwälzung abspielt, auf die wir laum einen Einfluß haben.
Der Abend
Shalausgabe des Vorwäre
Die Aufklärung der Jugend
heit oder Verächtlichmachung zurückstößt, er stidt nicht etwa Wißbegierde, sondern facht sie an durch der Reiz des Berbotene Die Aufklärung besorgen dann Spielgenossen, wobei nach fachve ständigem Urteil nicht selten der Abort Treffpunkt ist.
Uebereinstimmend wird zugegeben, daß der geeignete Ort| in taftvoller Weise eingehen. Wer ein fragendes Kind durch G für die Aufklärung das Elternhaus ift. Wenn man sich auch grundsäglich auf diese Stelle geeinigt hat, so ist man doch andererseits davon überzeugt, daß die Voraussetzungen nicht überall vorhanden sind. Wer aufklären will, muß selbstverständlich über ein gewisses Maß von Kenntnissen verfügen. Es geht nicht an, daß Bater oder Mutter im Rahmen der Auf flärung gutgläubig Unzutreffendes übermitteln. Es geht auch nicht an, daß die Eltern gegen anerkannte pädagogische Grundsäße bei der Aufklärung verstoßen. Deshalb sind die verschiedensten Versuche gemacht worden, zunächst einmal die Elternschaft in den ganzen Fragenkompler einzuweihen Einige Berliner Schulen haben Mütterabende veranstaltet, bei denen eine Aerztin die Dinge an der Hand von Bildern und Präparaten erläuterte.
Es erhebt sich nun die Frage, wie denn wohi Vater und Mutter die sexuelle Aufklärung anpaden sollen. Das wird von Fall zu Fall verschieden sein, je nachdem, wie die Familie zusammengesetzt ist, bzw. zu welchem Elternteil das aufzufiärende Kind das größere Bertrauen hat. In der Regel wird bis zur beginnenden Pubertät( d. h. also bis zum 12., 13. oder 14. Lebens. jahr) die Mutter für Knaben und Mädchen die geeignete Stelle sein. Der Jüngling wird sich dagegen im Regelfalle eher an den Bater wenden.
Wir wissen heute, daß die Aufklärung nicht erst dann in Angriff genommen werden darf, wenn der Reifungsprozeß über den jungen Menschen gekommen ist. Wir wissen aber auch andererseits, daß eine systematische, d. h. möglichst vollständig sein wollende Aufklärung mehr Schaden anrichtet als Nugen. Die Hauptsache ist, daß die Eltern den natürlichen Fragedrang des Kindes nicht durch ungeschicktes Verhalten unterbinden, sondern durch sinngemäße, vernünftige Antworten befriedigen. Im allgemeinen genügt es, wenn die Eltern bezüglich der seguellen Aufklärung, nur auf das eingehen, was durch die Frage des Kindes unmittelbar angeschnitten ist. Es fragt z. B. ein Mädchen im vorfchulpflichtigen Alter seine Mutter, ob denn wirklich die Kinder durch den Storch aus dem Teich geholt werden. Hier ist es nicht nötig, etwa schon den ganzen Entwicklungsgang vom Reim bis zur Geburt in die Antwort mit aufzunehmen, sondern es genügt eine Richtig stellung in dem Umfange, wie der Zustand der geistigen Entwicklung der Fragestellerin es verlangt. Die aufklärende Antwort wird z. B. auf dem Dorfe innerhalb der anschaulichen Eindrücke der Tierzucht ganz anders lauten fönnen und müssen als etwa im Bald wird das Kind mit Steinmeer einer Millionenstadt. anderen Fragen kommen. Besonders häufig sind allerlei Fragen GUS dem Gebiete der sexuellen Aufklärung dann, wenn die Kinder infolge der entseglichen Wohnungsnot gewisse Beobachtungen gemacht haben. Hat das Kind einmal die an sich natürliche seguelle Neugier befriedigt, so dürfen Vater und Mutter der durch das Kind geforderten Erörterung und Belehrung nicht ausweichen, sondern müssen auf die Frage des Kindes
zur Welt.
Aevermann.
Wenn der Sexualtrieb auch noch nicht deutlich in die Erscheidem sich alle Kräfte frei entfalten durften, dem die Augen geöffnet nung tritt, so bestimmt er doch schon start das Phantasieleben des wurden vor der Natürlichkeit aller Borgänge, das in einer MenKindes, und die Aufklärung, die sich ja vornehmlich an den schengemeinschaft ohne falsche Scham und Brüderie aufwuchs, wird Intelleft wenden wird, ist sich erlich nicht im stande, jenes auch hier seinen Weg finden, seinen Weg zu sich selbst und Phantasiespiel zu unterbinden. Manchmal findet dieses Tun auch einen unschönen Ausdrud in obszönen Bildern auf Zetteln oder an Wänden. Wenn Eltern und Lehrer solchen Auswirkungen der Bubertät mit der Prügelstrafe zu Leibe gehen, so hat das wohl nie die erhoffte Wirkung, man treibt die jungen Menschen nur noch zu größerer Heimlichkeit. Hier gibt's am allerwenigsten ein Univerjalerziehungsmittel.
Oder doch eins. Man richte von früh an seine Erziehungsund Unterrichtsmaßnahmen so ein, daß im kritischen Zeitpunkt der Bubertät das Kind gewohnt geworden ist, feiner eige nen Kraft zu vertrauen, und es den Willen und das Selbstvertrauen hat, sich durch Anfechtungen und Wirrnisse hindurchzufämpfen. Es mag für den Erzieher notwendig sein, Fähigkeiten und Neigungen des Kindes zu erkennen; noch notwendiger ist ein solches Wissen dem Kinde selbst. Es muß sich im flaren sein über seine Anlagen, seine Neigungen und seine Leistungsfähigkeit. Wer von Kind an gelernt hat, Entschlüsse zu fassen und auszu führen, wem der Erzieher Gelegenheit gegeben hat, sich zu entscheiden, ja und nein zu sagen, der wird von den Entwicklungs wirrnissen der Pubertätsjahre auch hin und her geschüttelt werden; aber er wird sich mit eigener Kraft darin zurecht finden.
Eine Klasse zwölffähiger Knaben sollte für Kurse qufgeteilt werden, und zwar in der Hauptsache nach den vorhandenen Fähigteiten. Die ganze Aufteilung ist durch die Klasse selbst erfolgt, ohne daß ich ein Werturteil dabei hatte abzugeben brauchen. Jedes Kind stellte seine Meinung über sich selbst heraus, erfuhr die Korrektur durch die Kameraden und hatte nach kurzer Debatte seinen Platz in der Arbeitsorganisation gefunden. Wie richtig Selbstbeurteilung und Kameradenurteil gewesen war, ergab das Maß der späteren Bewährung in den Kursen. Nur zwei Fehlurteile brauchten gebucht zu werden, während in allen anderen Klassen bei einer Auswahl durch die Lehrer die Zahl der Fehlurteile erheblich größer war. Doch was wichtiger ist, den Kindern wer Gelegen= heit gegeben worden, wichtige Entscheidungen au fällen, Entscheidungen von einer Tragweite, wie sie im Schulleben, aber auch im Rahmen des Familienlebens, nur selten vorkommen. Je weniger das Kind gegängelt wird. desto besser ist es für seine Selbsterziehung.
Kürzlich fragte ich die gleichen Jungen, die damals so sicher über Anlage und Reigung geurteilt hatten, nach ihren Berufs. wünschen. Einige fahen fiar ihren Weg, aber viele waren voller Unsicherheit. Echte Pubertätszeichen. Heute so und morgen das Heute so und morgen das trasse Gegenteil. Manches Kind ist am Ende dieser Periode faum wiederzuerkennen. Aus quedfilberigen Mädels werden verträumte Geschöpfe und aus schlafmüßigen Jungen aufgewedte Kerle. Wie dieser Umwandlungsprozeß die jungen Menschen formt, ist ent. scheidend für das ganze Leben, und es ist nur gut, daß die Berufswahl, soweit man heute überhaupt noch von einer Wahl dabei reden fann, in der Regel dahinter liegt um so unverständlicher ist es, daß so wichtige Entscheidungen, wie z. B. die Umschulung in die höheren Schulen, vor der Puber. tät vorgenommen werden. Das amerikanische Bolt hat mit seinen sechs und achtjährigen Grundschulen einen viel flareren pädagogi schen Blick bewiesen als wir gelehrten Deutschen mit unserer vier jährigen.
Trotz alledem, die Pubertät ist zwar eine Krifis der Entwick lung, aber dabei tein unnatürlicher Zustand. Das Kind,
Dürfen wir noch erziehen?
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Erzogen haben die Menschen ihren Nachwuchs zu allen Zeiten und unter allen Himmelsstrichen. Die Möglichkeit und das Recht dazu erschien nicht zweifelhaft. Erst mit der Entwicklung der neu zeitlichen Psychologie wandelte sich der pädagogische Optimismus in den zur Zeit herrschenden Steptizismus. Seit Schopenhauer ist vielfach die Ansicht aufgetreten, daß der Cha ratter des Individuums wie eines Volfes im Grunde unver änderlich sei. Neuerdings lehrt Freud . daß die Formung der kindlichen Seele im wesentlichen mit dem fünften Lebens jahr ihren Abschluß erreicht habe, und der Individualpsychologe Alfred Adler spricht in demselben Sinne schon vom dritten Jahre. Mag man nun diesen extremen Theorien auch die notwendigen Vorbehalte entgegenstellen, das eine hat die moderne Jugendkunde jedenfalls erwiesen, daß die körperlich- seelische Entwicklung des Kindes und Jugendlichen in solchem Grade eigen gesetzlich bedingt ist, daß für den pädagogischen Optimismus jener
Zeit fein Raum bleibt.
Der bekannte Leipziger Philosoph und Pädagoge Theodor Litt hat diese Krisis in dem Gegensatz Führen oder Wachsenlaffen?" dargestellt. Jede Führung ist auf ein vorgefaßtes Ideal gerichtet. Litt glaubt aber nicht an die Möglichkeit, ein solches Ideal zu verwirklichen; die Ideale der Vergangenheit sind tot wie diese selbst, und die der Zukunft, auch wenn sie dem Zukunftswillen der Jugend entnommen sind, bedeuten vielleicht auch nicht mehr als fromme Wünsche. Nur insoweit. hat das Führen einen guten Sinn, als es die Jugend zum Reiche der Kulturgüter und Kulturwerte hinleite:. Anderseits kann sich auch im Wachsenlassen" das Erziehen nicht erschöpfen; es fann höchstens für die förperliche Entwicklung wie für die Eingewöhnung in Brauch, Also dies nicht Gitte und Moral der Umgebung Geltung haben. und das nicht! Das Problem bleibt offen. Wir brauchen aber einen Ausweg aus der Wirrnis. Wir müssen wissen, was wir in der Erziehung bestenfalls erreichen tönnen und damit auch leisten müssen.
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Am einfachsten stellt sich das Erziehungsproblem an dem Menschenfinde dar, das, um mit Nietzsche zu reden, rechtwinklig gebaut ist an Leib und Seele. Hier wäre doch wohl das Wachsenlaffen wirklich der gegebene. Weg. Gewiß! Aber was braucht solch ein glückliches Menschlein zum Wachsen? Wie jedes Naturwesen Beides den geeigneten Boden und die zusagende Atmosphäre. fchaffen heißt doch wohl auch erziehen! Wieviel Aufmerksamkeit, Klugheit und Instinkt erfordert vorerst einmal das Auswittern" der findlichen Individualität, bis die eigentliche Arbeit einsetzt: die Bereitstellung der zum Bachfen notwendigen Hilfe und Mittel! Da haben wir schon Erziehungsmöglichkeit und Erziehungs. notwendigkeit in unbegrenzter Fülle, selbst für den gottbegnadeten Erziehungsfünftler, auch ohne gewaltsame Eingriffe und ohne Auf drängung mefensfremder Ziele und Ideale allein schon durch die Schaffung der dem Kinde angepaßten Umwelt. So erweist sich selbst das Wachsen der findlichen Individualität zum mejenseignen Biele hin als Geführtwerden. Die Frage ist
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Eine umfassende Aufklärung. insbesondere auch bezüglich de Geschlechtskrankheiten, ist unerläßlich, sobald die Reisezeit ge tommen ist. Es ist nicht richtig, wenn von gewissen Stellen imme wieder behauptet wird, daß das Triebleben alle Warnungen vernünftiger Aufklärung über den Haufen zu werfen vermag; richtig ist dagegen, daß unendliches Unheil vermieden werden kann, wenn aus vertrauensvollem Munde belehrt werden.
vornehmlich unsere Mädchen über die ihnen drohenden Gefahren
Wie die Dinge heute liegen, wird das Elternhaus in viele: Fällen die Frage der seguellen Aufklärung nicht in vollem Um fange lösen können. Ein gut Teil muß daher durch die Schul geleistet werden. In den offiziellen Lehrplänen finden sich keinerle Anweisungen, feruelle Aufklärung in dem dargelegten Sinne zu betreiben. Wenn es hier und da eine Lehrperson gleichwohl wagt jo tann das nur in Form des Gelegenheitsunterrichtes geschehen. Hier freilich gehen die Ansichten über die Art der Belehrung noch weit auseinander. Das Dresdener Hygienemujeum hat zwölf Tafeln zur Säuglingspflege herausgebracht, die ursprünglich als Anschauungsmaterial beim Schulunterricht gedacht sind. Aber kein Lehrer und keine Lehrerin würde es bei der heutigen Einstellung der Schulaufsichtsbehörde wohl wagen, diese gut gemeinten Tafeln tatsächlich zu benutzen, ein bis zwei Tafeln, vielleicht ausgenommen. Aehnlich liegt es mit den vielen Versuchen, die volksschulpflichtige Jugend über die Geschlechtskrankheiten durch Anschauungstafeln zu belehren. Vom pädagogischen Standpunkte aus wie auch vom ästhetischen Gesichtspunkte fann man sich mit den meisten Erzeugnissen dieser Art unmöglich befreunden.
Selbst wenn feinerlei Bedenken bezüglich der seguellen Aufflärung durch die Schule bestünden, so muß doch zugegeben werden, daß nicht jede Lehrperson die rechte Eignung befizt. Darauf hat schon Genosse Alfred Bogen , zurzeit Schulrat in Magdeburg , im Jahre 1920 sehr deutlich hingewiesen. Er schrieb damals:„ Wer nicht imftande ist, die Sphäre des Geschlechtlichen auf eine höhere Stufe zu erheben, der ist nicht imstande, bei der Behandlung ferueller Probleme höheren Zielen zuzuftreben." Die angedeutete Schwierigkeit zeigt sich besonders in solchen Schulen, in denen ein Fragetasten für anonym gestellte Schülerfragen Verwendung findet. Man hat geglaubt, die Schwierigkeiten herabzumindern, wenn man verlangt, daß jede Frage mit dem Namen des Fragestellers oder der Fragestellerin unterschrieben wird. Dadurch erzielt man allerdings, daß frivole Fragen unterbleiben, während man sich andererseits des Vorteils begibt, die seelische Not des beranwachsenden Jugendlichen in ungeschminkter Form Dr. phil . Otto Seeling. tennenzulernen.
nun, ob wir das Recht und die Möglichkeit einer Führung auch zu solchen Erziehungszielen haben, denen sich die Individualität des Zöglings nicht ohne weiteres fügt.
Die Erziehungsziele setzt die Gemeinschaft, wie sie alles Allgemeingültige schafft. Man fann an diesen Begriffen und Normen ausfezen soviel man will: aber fein Geschlecht kann über sich hinaus, so wenig wie ein Mensch über seinen Schatten springen kann. Die Normen und Ideale, also auch die Erziehungsziele haben darum Geltung, bis die Gemeinschaft selbst sie durch andere ersetzt. Der normale Mensch ist ein Gemeinschaftswesen, wie er ein Eigen wesen ist. Diese Doppelgesichtigkeit seines Wefens.be gründet den ewigen Konflift zwischen Sollen und Wollen in der Menschenbrust. Dem Kinde und Jugendlichen mun diesen Konflikt ersparen wollen, würde uns gewiß seinen Dank in der Gegenwart eintragen, sicherlich aber nicht in der Zukunft. Denn sein Hineinwachsen in die Gemeinschaft würde ihm durch die systematische Nachgiebigkeit im Kindesalter nur erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht werden. Und dieses Hineinwachsen des einzelnen in die Gemeinschaft, die Bergemeinschaftung, ist doch legten Endes Wesen, Sinn und Aufgabe aller Erziehung. Daß der Jugendliche einem von außen her an ihn herangebrachtem Erziehungsziel widerstrebt, beweist übrigens noch nicht, daß es ihm wesensfremd ist. Kind und Jugendlicher leben eben nur in ihrer unmittelbaren Gegenwart; nicht einmal, was ihrer nächsten Zutunft gemessen ist, erkennen sie. Darum ist es nicht nur ein pädagogischer, sondern auch ein pindologischer Irrtum, wenn man glaubt, aus ihrem Wollen ein Erziehungsziel entnehmen zu fönnen. Sie fönnen uns darum immer nur sagen, was ihrem augenblidlichen 3ust and entspricht; was sie brauchen und gar erst, was sie sollen, müssen sie sich von denen sagen lassen, die zum Schauen aus der Gegenwart in die Zukunft des Kindes gereift sind.
Damit kommen wir zur legten Frage, der Frage nach den psychologischen Grundlagen aller Erziehung. Aller körperlichseelischen Entwicklung liegen die, Anlagen zugrunde. Im normalen Falle ist ihnen eine gewisse Veränderlichkeit eigen, die Entwicklung überhaupt erst möglich macht. Starre Dispositionen, die jeder Einwirkung unzugänglich find, bedeuten ebenso eine Ausnahme, wie die Weichheit, die jeder Beeinflussung nachgibt. Innerhalb dieses Spielraumes ist nun Erziehung der Gesamtpersönlichkeit oder doch einzelner Fähigkeiten möglich, Er ziehung, aber auch Berziehung. So kann jede Anlage durch die geeigneten Maßnahmen zu ihrem Maximum entwickelt, durch ungeeignete auf ihrem Minimum feftgehalten werden. Daß auch Charattererziehung möglich ist, wird durch die Tatsache erwiesen, daß selbst ausgereifte Persönlichfeiten durch Lebenserfahrungen und Lebensschicksale tiefgehende Wesensänderungen erfahren.
So sehen wir, wie auch unter veränderten sozialen und ethischen Anschauungen eine zielgerichtete Erziehung durchaus berechtigt und auch bei Anerkennung neuzeitlicher psychologischer Erkenntnisse durchaus möglich ist. Aber immer innerhalb gewisser, von der Natur gezogener Grenzen! Für den Erziehungsabsolutismus einer vergangenen Epoche, die sich anmaßte, die Jugend in die 3wangs jade pädagogischer Schablonen zu pressen, sehen wir heute weder eine Berechtigung noch eine Erfolgsmöglichkeit. Und diese Tatsache bedeutet für den Erzieher weniger eine Behinderung als eine Pefreiung: denn an demselben Puntte, an bem unsere Wirtens möglich fett ihre Grenze erziehliche findet, hört auch unsere Verantwortlichkeit auf. H. Stern.