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Denage

Freitag, 24. Mai 1929

Der Abend

Spalausgabe des Vorwärts

Das Antlitz der Labour Party  

,, Mit ihrer merkwür digen Synthese aus Bu ritanismus und, inner­weltlichem" Radikalismus, ihrem Elan, ihrem Selbst­vertrauen, ihrer Leiden­schaft für das nächst er­reichbare Ziel und ihrer Kompromißbereitschaft auf dem Wege zum Endziel, ihrem völligen Mangel an jeglicher Rechtgläubigkeit und jeglichem jeglichem Dogma, ihrer Fähigkeit, Mitglieder der herrschenden Klasse zu sich herüberzuziehen, stellt die britische Arbeiterpartei unter allen sozialistischen  Parteien der Welt das eigenartigste Gebilde dar." So fagt Egon Werts heimer im Vorwort zu seiner Schrift ,, Das Ant­

Wie die englische Arbeiterbewegung wurde und was sie ist

Ramsay Macdonald  

liz der britischen Arbeiterpartei", die der Diez- Berlag heraus­gegeben hat. G. D. 5. Cole, der Historiker der britischen   Arbeiter­bewegung, hat das lesenswerte Buch mit einer Eileitung versehen.

Zeit der Gärung

Cole erklärt, warum die Entwicklung der britischen Labour Party   ohne einen Blick auf den Hintergrund des gesamten politischen Lebens Großbritanniens   unmöglich verstanden werden kann. Die Labour Party   ist erst 1900 ins Leben getreten, felbft ihre unmittelbare Vorläuferin, die unabhängige Arbeiterpartei, ist nicht vor dem Jahre 1893 gegründet worden. Mehr als einmal freilich war die britische Arbeiterbewegung in den vorhergehenden 60 Jahren der Schaffung einer eigenen politischen Partei nahe. Die Chartistische Bewegung hätte in den zehn Jahren nach 1832 diesjen Schritt beinahe getan, und es fehlte nicht viel, daß die Gewerkschaften im Jahre nach der zweiten Reformatte von 1867, die den städtischen gelernten Arbeitern das Wahlrecht gab, mit Hilfe der Liga der Arbeitervertretung eine eigene Partei ins Leben gerufen hätten. Daß dies nicht geschah, liegt im gesamten fozialen und wirtschaftlichen Aufbau der britischen Gesellschaft be­gründet. Es gab innerhalb des britischen Bürgertums joge nannte ,, radikale" Elemente, die gewillt und stark genug waren, mit Erfolg um die Unterstützung eines Großteils der Arbeiter­schaft zu werben. Immer wieder scheiterte der Versuch des Auf­baues einer selbständigen, politischen Arbeiterbewegung an der geschickten Taktik dieser Gruppe des Bürgertums.

Es gab damals im englischen Parlament nur zwei Macht­faktoren: die Toris und die Whigs, die Konservativen und die Liberalen. Die außerhalb stehenden Radikalen appellierten an die Arbeiter, einmal, um einen Druck auf die Whigs auszuüben, zum anderen Male, um die Widerspenstigkeit des von tonservativem Geist erfüllten. Hauses der Lords, des Oberhauses, zu brechen.

der bis dahin wachsende politische Einfluß ging beinahe wieder ganz

verloren.

Da wurden in den achtziger Jahren drei radikale Ver­einigungen gegründet: die Demokratische Föderation, die Sozial­demokratische Föderation und die Sozialistische Liga. Aus diesen drei Quellen entstand die unabhängige Arbeiterpartei. Reir Hardie stellte sie auf die Grundlage der Einzelmitgliedschaft. Nach einer Periode von Richtungsfämpfen schloß man sich 1900 endgültig zusammen und gründete das Komitee für Arbeitervertretung. Damit Damit war die heutige Arbeiterpartei, die Labour Party   geschaffen. Bom Jahre 1906 an trägt sie den Namen, den sie bis heute beibehielt, Labour Party  .

1900 hatte das Komitee lediglich die Wahl von zwei Mitgliedern ins Parlament erreichen können, 1906 gewann die Nachfolgerin, die Labour Party  , 29 Size, zu denen 1909 und 1910 mehr als ein Duzend Bergarbeiterabgeordnete kamen. Die Bewegung wuchs, aber der Krieg brachte Meinungsverschiedenheiten zwischen den Führern Macdonald und Henderson. Erst nach dem Kriege tam die vollkommene Verschmelzung.

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Vorwärts zum Sieg!

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Vor dem Krieg wäre eine Arbeiterregierung in England undent­bar gewesen. Die Macht der Konservativen und der Liberalen, die sich abwechselnd in die Regierung teilten, war praktisch ungebrochen. Das Kriegsende hat auch hier sozusagen in unsichtbarer Revo­lution den großen Wandel gebracht. Seit 1918 ist die Arbeiter­partei im Unterhaus an die zweite Stelle gerückt, während die Liberalen von ihrer Hauptstüße, den zur Arbeiterpartei überge gangenen radikalen Elementen verlassen, nur noch der Schatten ihres alten Selbst sind.

Im Jahre 1924 hat die Arbeiterpartei für furze Zeit die Regierungsgeschäfte geführt. Ihre Macht war jedoch be schränkt, da sie in allem von der Unterstützung der Liberalen ab­hängig war. Die Entscheidung, vor sie sie sich gestellt jah, lautete daher: Sofortiger Sturz oder Berzicht auf eigene Bolitit. So fnüpft fich, nach Cole, nur geringer Ruhm, aber auch nur geringer Tadel an die Tätigkeit der ersten Arbeiterregierung Großbritanniens  . Sie verwirklichte einige nühliche soziale Geseze, fie veränderte bis zu einem gewissen Grade das Gesicht der britischen Außenpolitit im positiven Sinne und verhinderte daheim das weitere Sinten der Löhne.

Wertheimer legt den Aufbau von Gewerkschaften und Arbeiterpartei in England flar. Während die sozialistischen   Parteien des Festlandes im allgemeinen auf dem Grundsatz der persönlichen Mitgliedschaft aufgebaut sind, ist die Labour Party   vorwiegend Rahmenorganisation. Die Gewrkschaften gehören der Partei zu ihrem größten Teil forporativ an und stellen mehr als 90 Prozent der Mitgliedschaft, Deshalb spielten die Gemert­schaften bei der Aufstellung der parlamentarischen Kandidaturen eine ganz hervorragende Rolle, da sie nicht nur indirekt, sondern durch ihre Beitragsleistung an die Partei 90 Prozent aller Wahlauslagen bestreiten.

Aber die so erreichten Reformen löften bei der Arbeiterklasse Jahren 1924 bis 1926 zwischen der Politit der Gewerkschaften und

eine tiefe Enttäuschung aus.

Man strömte in die Gewerkschaften und suchte unter dem an­feuernden Einflusse Robert Owens   durch gewerkschaftliche Massenorganisation zu erzielen, was durch politische Aktion vor­läufig unerreichbar war.

Der große gewerkschaftliche Nationalverband" wuchs schnell über feine eigenen Kräfte hinaus. Er wurde zu früh in Konflikte ver­wickelt und deshalb im Jahre 1834 zerschlagen.

Aus ihm erhob sich die chartistische Bewegung. Sie setzte sich hauptsächlich zusammen aus dem industriellen Proletariat des Nordens, der mittleren Landesteile und des Bezirks Südmales. Ihre lokale Führung war weitgehend in den Händen der gelernten Arbeiter, der Intelligenzschicht der Arbeiterklasse. Die Mehrzahl ihrer Anhänger bestand jedoch aus den notleidenden Fabritarbeitern der neuen industriellen Distrikte und den noch schlechter gestellten Handspinnern, die durch die Konkurrenz der Maschine zur Verzweiflung und dann zu dem blinden Aufruhr ge trieben wurden, den uns auch Toller in einem Drama schildert. Es folgte der Verfall der Bewegung.

Die Zeit war für die Forderung des allgemeinen Wahlrechts noch nicht reif gewesen, geschweige denn für das ökonomische Pro­gramm des Chartismus, das dieser Forderung die Triebkraft ver­liehen hatte. Die herrschende Klasse von damals ließ sich durch eine rein proletarische Bewegung noch nicht aus ihrer Ruhe stören. Die bürgerlichen Radikalen gründeten die Freiheitsliga, und auf die unterernährten Arbeiter übte diese Bewegung eine starke An­ziehungskraft aus. Für die Aufhebung der Lebensmittelsteuern, gegen die Ausbeutung durch die Hausbefizer," das waren die Barolen, die zogen. Aber als der konservative Ministerpräsident Sir Robert Bee! zur Abschaffung der Kornzolle gezwungen wurde, war dies in Wirtlichkeit ein symbolischer Sieg des indu­striellen Unternehmertums aus den Reihen der Whigs.

Zeit der Klärung

In der Zeit vom Zusammenbruch des Chartismus bis um das Jahr 1860 fann faum von einer selbständigen Arbeiterpolitik die Rede sein, obwohl die Anstrengungen in dieser Richtung niemals röllig erloschen. Der Schwerpunkt der Arbeiterpolitik lag damals auf dem Ausbau einer festfundierten Gewertschafts- und Genossenschaftsbewegung unter den gelernten und besser gestellten Arbeitern. Erst nach 1860 wurde eine Aenderung sichtbat. Mit der Reformatie pon 1867, die endlich den gelernten Arbeitern das Stimmrecht verschaffte, war die gesamte politische Lage verändert. Tories   und Whigs stellten nunmehr ihre Sozialpolitik im Hinblick auf die neue Wählerschaft um. Ein Jahrzehnt lang wetteiferten die beiden Parteien bei der Einführung von Fabrik, Bergwerks, Wohnungs-. Gewerkschaftsgesehen und jeglicher Art von Sozialgesetzgebung. Den Gewerkschaften gelang es 1874 zwar, zum erstenmal zwei Bergarbeiterführer ins Unterhaus zu entfenden, aber

Labour Party   und Kommunismus Dem Außenstehenden mußten die Gegensätze, die sich in den der der Labour Party   zeigten, unverständlich erscheinen. Auf der gewerkschaftlichen Seite sah man eine Politik der Einheits= front mit den Russen, die beinahe zu einer Sprengung des Amsterdamer Gewerkschaftsbundes führte, die Partei dagegen lehnte das Einheitsmanöver mit Moskau   ab und verharrte in iharf antifommunistischer Haltung. Der Erfolg gab der Politik der Labour Party   recht. Die englischen Gewerkschaften er= litten Niederlage auf Niederlage, die Arbeiterpartei errang Sieg auf Sieg bei den Nachwahlen.

Der Widerspruch, der sich dem Außenstehenden aufdrängt, ist nur scheinbar unauflöslich. Tatsächlich liegen die Dinge so, daß die Parteiorganisationen in Groß- Britannien nicht den bestimmenden Faktor für die parlamentarischen Fraktionen darstellen, sondern um­gelehrt die Fraktionen in der Praxis die Parteiorgani­fationen leiten. Die Partei ist lediglich zwischen Parlaments­

Sir Oswald Mosley  Mitglied des Unterhauses und der Exekutive der Labour Party  

auflösung und Neuwahlen souverän. Nach der Wahlschlacht lösen sich die Fraktionen von ihrer inneren Bindung an den Parteiapparat los und werden selbständiger Organismus. Die parlamentarische Fraktion wird nicht nur zu einer Funktion der Partei oder zu ihrem machtpolitischen Ausdrud, sondern zur Partei schlechthin.

Später als in irgendeinem anderen Lande des westlichen oder mittleren Europa   ist in Groß- Britannien die Trennungslinie

zwischen der sozialistischen   und der kommunistischen   Bewe gung gezogen worden. Die Rolle die der Sinowiew= Brief in den Oktoberwahlen des Jahres 1924 spielen fonnte, war nur dadurch er flärlich, daß die politischen Gegner damals noch mit einem Atom von Berechtigung die sozialistische und die kommu nistische Bewegung in Eng land in einen Topf werfen tonnten. Gewisse historisch psychologische Momente hin derten das frühere Einsezen einer flaren Scheidung. Es fann fein Zweifel herr schen, daß die Masse der Pars teimitglieder zunächst die Kome munisten für nichts als radi­falere Anhänger der gemein samen Sache hielt, ohne sich einer tieferen oder grundsätzlichen Verschiedenheit bewußt zu sein. Die Drahtzieher in mosta   u erkannten dies wohl, und so ergab sich für die Alltagsarbeit der Kommunistischen Partei Groß- Britanniens zunächst die Taktik, die Labour Party   vorwärts­zupeifschen und die reformistischen" Führer Macdonald, Henderson und Snowden in Situationen zu manövrieren, in denen sie mit ihrer bisherigen Politik in Widerspruch geraten und dadurch entweder raditalisiert oder entlarvt" werden würden.

George Lansbury  Gründer des Daily Herald"

Die Klärung bei den Maffen jezte erst in den Jahren 1923/24 ein. Nunmehr begann auf den Gemertschaftstongressen und den Parteitagen der Labour Party   jenes Ringen zwischen Kom­munisten und Sozialisten, das die kontinentale Arbeiterschaft zweifel­los mehr erregt hat, als die Engländer selbst, die, sofern sie anti­tommunistisch waren, der Besorgnis ihrer Freunde auf dem Festlande von Anfang an eine ruhige Siegeszuversicht entgegengesetzt hatten. Das Verhältnis zum Sozialismus

Für den Geist, der die britische Arbeiterbewegung beseelt, ist es in hohem Maße charakteristisch, daß die Labour Party   beinahe zwei Jahrzehnte im öffentlichen Leben wirken, eine Millionenziffer von Mitgliedern erreichen, zur dritten großen Partei im Unterhaus emporwachsen fonnte, ehe sich im Jahre 1918 das Bedürfnis nach einer programatischen Festlegung ihrer Ziele einstellte.. Im Gegen­satz zu den Parteien des Festlandes, deren Entwicklung und Aufstieg Schrift für Schritt von Programmen begleitet war, hat sich die Arbeiterpartei von ihrer Geburtsstunde um die Jahrhundertwende bis ins letzte Kriegsjahr hinein damit begnügt, Einzelforde= rungen auf ihren Parteitagen zu beschließen, ohne dies Mosaik in den Rahmen eines Programmes zu spannen. Das liegt nicht zum wenigften in der politischen Tradition des englischen   Boltes begründet.

Gegen Ende des Krieges machte sich dann innerhalb der Partei das Bedürfnis geltend, die Organisation geistig und organisatorisch den Veränderungen anzupassen, die sich im Berlaufe von fast zwei Jahrzehnten vollzogen hatten, und damit die Voraussetzungen für einen weiteren Aufstieg der Partei nach dem Kriege zu schaffen. Die Partei war bereits vor dem Kriege dank der intensiven Pro­paganda der Unabhängigen Partei in ihrer Mehrheit fozialistisch geworden. Die staatliche Industriekontrolle, wie sie der Krieg mit sich brachte, hatte mit ihren schier unbegrenzten Mög lichkeiten dem sozialistischen   Gedanken neue Nahrung und neue An­hänger zugeführt. Die Zeit war reif, den sozialistischen  Charakter nunmehr offiziell festzulegen. Was am Beginn der Bewegung als Hemmnis für die Entwicklung betrachtet worden war, wurde nunmehr zum stärksten Anziehungspunkt.

Das Parteiprogramm

Es galt weiter, die Tore der Partei den geistigen Arbeitern, deren Beruf sie einer gewerkschaftlichen Organisation entzog, zu öffnen. Diese Wünsche fanden in den Satzungen der Partei, die sie sich im Februar 1918 gab, Niederschlag und Erfüllung. Das Parteistatut umreißt die Aufgaben der Arbeiterpartei, soweit es sich um politische und ökonomische Zwecksetzungen handelt, wie folgt: den Hand- und Kopfarbeitern das volle Ergebnis ihrer Betätigung und seine möglichst gerechte Ber teilung auf der Grundlage des gemeinsamen Besizes an den Produktionsmitteln und mittels des besten Systems der demo­fratischen Administration und Kontrolle der einzelnen Industrien und Berwaltungszweige zu sichern, im allgemeinen die politische, soziale und ökonomische Befreiung des Volkes und im besonderen derjenigen zu verwirklichen, die zur Bestreitung ihres Lebensunter­haltes unmittelbar auf ihre Hand- und Kopfarbeit angewiesen find..."

Das Programm, das in jedem Saße die Hand Sidney Webbs verrät, stellt die größte Annäherung an eine theoretische Begründung der verkündeten Brizipien dar. 1927 beschloß man dann auf dem Parteitag von Blackpool  , die Exekutive mit dem Entwurf eines neuen Parteiprogramms zu beauftragen. Es maren rein praktische, unmittelbar politische Erwägungen, die diesen Entschluß veranlaßten. Es heißt in der Resolution:

,, Angesichts der bevorstehenden Neuwahlen und des Bedürf niffes nach einer Darlegung der grundlegenden der Wählerschaft zur Entscheidung vorliegenden Fragen, betauftragt der Parteitag die Landeserefutive, in gemeinschaftlicher Beratung mit dem Fraktionsvorstand eine Aufstellung der wichtigeren Forderungen auszuarbeiten, denen die Parteitage der Arbeiterpartei zu verschiedenen Zeiten ihre Zustimmung erteilt haben. Diese Darstellung soll ein Programm für die gesetzgebende und administrative Tätigkeit einer Arbeiterregierung bilden.

Egon Wertheimer schließt mit dem Bekenntnis zu der Ueber. zeugung, daß die Zukunft in Groß- Britannien der Arbeiterpartei gehört. Möge ihm der große Tag der englischen Wahlschlacht, an dem die Augen der Sozialisten aller Länder auf die britische Arbeiterparte Henning Duderstadt gerichtet sind, recht geben!