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Beilage

Mittwoch, 29. Mai 1929

Das sprachkranke Kind

Zum Kongreß der Sprachheilpädagogen

Die Arbeitsgemeinschaft für Sprachheilkunde in Deutschland  " ( 1927 in Hamburg   gegründet) hielt ihren ersten öffentlichen Kongreß in Halle a. S. ab, und zwar vom 23.- 25. Mai dieses Jahres. Die Tagung erhielt ein besonderes Gepräge durch den Umstand, daß die bedeutendsten Fachärzte Referate hielten. Die Tagung war auch insofern von besonderem Interesse, als die Frage zur Er­örterung fam, inwieweit ein gemeinsames Arbeitsfeld besteht zwischen dem Pädagogen und dem Facharzte. Schließlich tam auch der Gedanke zum Durchbruch, daß viele Sprachkranke nicht erblich belastet, sondern einzig und allein Opfer der Milieuverhält nisse sind. Hier wurde vom Berichterstatter, dem Referenten Uni­versitätslektor Dr. Wittsad Halle, der Volksschule der harte Vor­murf gemacht, daß durch Rückständigkeit in der Vorbildung der Lehrer die Hebung der Sprachbildung Not leide.

Professor

Im einzelnen sei folgendes hervorgehoben. Dr. Ziehen fonnte infolge heftiger Erfranfung an Grippe leider feinen angekündigten Vortrag nicht halten: Die Beziehungen zwischen Sprechen und Denken mit spezieller Rücksicht auf die Heil­pädagogit." Als erster tam Professor Fröschels Wien zu Morte. Er sprach über Moderne Bestrebungen auf dem Gebiete der Logopädie". Er ging leider auf das Problem der Heilung der Stotterer wenig ein, behandelte dagegen eingehend die Heilung des Näfelns, insbesondere bei sogenanntem Wolfsrachen. Fröschels vertritt übrigens die Anschauung, daß das Stottern ein durch gewisse Umwelts= bedingung erworbenes Leiden sei Damit steht er in frassem Gegensatz zum nächsten Redner: Professor Nadoleczny= München. Dieser ist der Ansicht, daß das Stottern eine a n- geborene Krankheit ist. Sein Thema lautete: Das stotternde Kind und seine Einschulung." Nadoleczny teilte vier Fälle mit, in denen stotternde Kinder mit dem Eintritt in die unterste Klasse der Na Normalschule plötzlich vom Stottern befreit waren. doleczny fragte nun, ob diese Kinder auch geheilt worden wären, wenn man die Einschulung in die Sprachheilschule unverzüglich vor­genommen hätte! Der Facharzt Dr. Guzmann sprach über ,, Das fprachunfähige Kind.". Er teilte seine Forschungen auf dem Gebiet der Sprachentwicklung beim Kleinkinde mit und forderte eingehende Beobachtung aller Kinder mit Ab­weichungen von der Regel in Spezial- Kindergärten für Sprachgestörte. Diese Kindergärten sollen unter fachärztlicher Auf­sicht stehen und die Eltern erziehen, daß grobe Berstöße auf dieser Seite zunächst verhindert werden; denn das ist wissenschaftlich er­wiesen, daß nicht wenige Sprachstörungen der Kinder durch fehler­haftes Berhalten der Eltern verursacht werden. Besonders gefährlich fei z. B. das vorzeitige Einpaufen von Begriffen, Sägen und Berschen!

Starten, ja stürmischen Beifall erntete Professor Flatau Berlin, der über das Thema sprach: Arzt und Lehrer im Kampfe gegen die Sprachgebrechen. Der Redner trat für friedliche, ge Imeinsame Arbeit ein zwischen Arzt und Heilpädagogen. Er geißelte die Ueberheblichkeit mancher Aerzte, die in der Mitarbeit eines Arztes an fprachschulpädagogischen Bestrebungen Förde rung der Kurpfuscherei erbliden. Dr.   phil. Hansen Hamburg forderte in einem Referate gleichen Themas eine relative Gbindigkeit der Sprachheillehrer gegenüber dem Facharzte. Unerhebliche Mängel der Sprache sollen in der Normalschule thera­geutisch behandelt werden. Großen Widerspruch fand der Universi­tätslehrer Dr. Wittsad Halle a. S., der für Sprechtunde im Gegenfaze zur Sprachtunde eintrat und der Normalschullehrer­schaft den Vorwurf der Rückständigkeit auf sprach erziehe. rischem Gebiete machte. Der Verfasser des vorliegenden Artikels hielt ihm entgegen, daß man aus Proletarierfamilien teine Kinder empfangen tann, die sich sprachkundlichen Einwirkungen so leicht fügbar erweisen wie Kinder aus begüterten bürgerlichen Fa

milien.

Die Ausführungen des 2. Tages betrafen heilpädagogische Aus­führungen im eigentlichen Sinne. Es sprachen Dirr- Karlsruhe, Martha   Friedländer- Görlig, Schliuß- Hamburg, Lindenau-   Berlin, Rösler- Halle a. S. Behandelt wurden unter anderem Ausbildungs­fragen der Lehrerschaft, die Behandlung der Wolfsrachenfinder, der Einfluß des Gesangsunterrichts in der Sprachheilschule und die Für­forge für sprachgestörte Kinder und Jugendliche.

Die

Die Tagung ist glänzend verlaufen. Mehr als 300 Teilnehmer aus dem Inlande wie aus dem Auslande waren versammelt. Behörden waren mäßig vertreten. Mit der Tagung war eine sehr instruttive Ausstellung verbunden, die auch von   Wien beschickt war. Dr. Otto   Seeling.

Der verschwundene Bäckermeister Unlängst geriet das Dörfchen Bouville bei Etampes, südlich von   Paris, in nicht geringe Aufregung: Der ehrfame Bädermeister Grenèche war auf einer Ausfahrt spurlos verschwunden Pferd und Wagen wurden in der Nacht einige hundert Meter von seinem Hause verlassen aufgefunden. Polizei und Gendarmerie wurden auf. geboten. Zunächst glaubte man an einen Selbstmord. Die Auf­regung wuchs, als am Führersiz des Wagens Blutspuren festgestellt wurden. Sollte der Bädermeister einem Mordanschlag zum Opfer gefallen sein? Und bald gingen die bösen Zungen ihren Gang: Ein Bruder des Verschmundenen fagte aus, dieser habe ihm einmal an vertraut, daß seine Frau ein Verhältnis habe und daß das jüngst geborene Kind sicherlich von ihrem Geliebten stamme. Die Ber haftung der schwer belasteten Frau schien unmittelbar bevorzustehen, als ganz plöglich in die allgemeine Schwüle wie ein reinigender Blizz die Nachricht einschlug, der Bädermeister sei gesund und munter bei seiner Schwägerin in dem Dörfchen Thivars bei Chartres auf getaucht. Und nun verwandelte sich die Tragödie in eine Komödie. Der brave Grenèche hatte sich auf der Rückfahrt nach Hause verspätet und sich nicht getraut, seiner Frau, einer argen Xanthippe, unter die Augen zu treten. Kurz entschlossen stieg er von seinem Bod herunter und ergriff das Hajenpanier. Acht Tage lang irrte er umher, südlich bis   Orléans und Le Mans, dann nördlich bis Bersailles, von dort wieder zurüd nach Le Mans. Dreihundert Kilometer Landstraße lief er in seinen Holzschuhen ab, bis sie ihm fast von den Füßen fielen. In der ganzen Zeit nährte er sich von einigen Kilogramm trodenen Brotes und schlief in den Straßen gräben. Auch die Berdachtsmomente" fanden jetzt ihre Aufklärung. Der Bädermeister hatte sich in die Finger geschnitten, daher die Blutstropfen. Und als man ihm die Aussagen seines Bruders

Der Abend

Shalausgabe des Vorwärts

Einsames Land

Auf den Spuren Annelle von Droste- Hülshoffs

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seelische Bindung, die über Raum und Zeit schwingt, die nichts mit Bildung" oder Unbildung" zu tun hat, scheint die Bewohner auch heute noch mit der Toten, die ihres Schlages und ihres Stammes war, zu vereinigen.

Auch in   Süddeutschland, in dem mittelalterlichen Städtchen  Meersburg am   Bodensee sind Annettes Spuren noch un­verwischt. Die alten Wege am die hochragenden reben­grauen Türme, die umwachsenen Hügel und der verträumte Garten der Burg haben die Erinnerung an den Aufenthalt der Dichterin festge­halten. Und da ist noch die alte Zugbrücke und die tiefe Schlucht, unter der die älteste Mühle  Deutschlands ihr hölzernes Wasserrad dreht. Wenig ver­ändert sind auch die drei fleinen Turmzimmer, das Arbeits­zimmer mit seinen einfachen Möbeln, das Sterbezimmer, in dem sie allein und unbemerkt ihr Leben aushauchte, und end­lich der ,, rote Turm", ein fleines Erferzimmer, von dem aus man die alte Stadt und den schim­mernden See, die Alpenkette am

Auf den Pfaden Annettes von Droste zu wandern, die Spuren zu verfolgen, die ihre Persönlichkeit hinterlassen hat, heißt, in eine Welt eindringen, die nicht mehr ganz die unsrige ist, in eine Welt der Abgeschlossenheit und Stille, der Sammlung und Einsamkeit. Fast ein Jahrhundert ist seit dem Tode der großen   deutschen Dich­terin vergangen, aber die Orte, an denen sie zu ihren Lebzeiten weilte, haben ihre Spuren bis heute nahezu unverwischt fest- Seeufer, gehalten. Noch immer ragt aus dunklen, schilfumfäumten Wei­hern die alte, graue Wasserburg Hülshoff bei   Münster in West­  falen, noch immer besteht die alte Eichenallee, auf der sie so oft mit Mutter und Geschwistern zu den umwohnenden Verwand­ten fuhr. Und der graue Turm ist noch vorhanden, auf dem sie mit ihrem Bruder Schuhe und Strümpfe auszog, um es den beneideten Kötterkindern" gleich zutun. Noch immer beschatten die alten Eichen und Buchen den Eingang zur   Wasserburg, in deren Mauern das junge, un­verstandene Mädchen heran­wuchs, das nichts zu tun hatte, als das sittsame Jungfräulein einer adeligen Familie zu sein, als das es zur Welt gekommen war, dem nirgends die große Aufgabe winkte, nach der es drängte., Man muß Annettes Briefe hier in dieser Umgebung lesen, inmitten dieser herben Abgeschlossenheit von der Außenwelt, umgeben von der tiefen Schwermut der landschaftlichen Umgebung. Hier, im Bereich geheimnisvoller Verbundenheit von Mensch und Landschaft, im Lande der Spöfentieker, der traumwandelnden Schauer in die Zukunft, wird sich einem das innerste Wesen der Dichterin öffnen, hier wird einem der lebenslängliche Kampf, von dem ihr Inneres zerrissen wurde, erst ganz verständlich. Noch einsamer, noch abge­schlossener aber liegt, etwa eine Stunde entfernt, das fleine Gut Rüschhaus, in dem die Dichterin nahezu die beiden letzten Jahrzehnte ihres Lebens verbrachte. Ein kleiner, birkenumfäumter Feldweg führt zu dem schlichten Haus, das hinter alten Bäumen und blühenden Sträuchern hervorlugt. Man watet durch den Moraft des Hofes, auf Hühner erschrect empor­dem flattern und ein zottiger Röter, der an Trimm, den Hund Annettes, erinnert, den Besucher wütend an­fährt. Dann aber öffnet sich eine alte Gartentür, und nun ist alles verwandelt.

Die Vergangenheit wird lebendig, die Gegenwart ver­sinft. Noch ist vieles wie damals, als Annette lebte, schmale Wege, die zum Weiher führen, alte Rofofofiguren aus Stein, ein halb verfallener steinerner Tisch. Eine abgetretene fleine Freitreppe führt empor zu den schlichten Räumen. Hier lebte die Dichterin Levin Schüding mit zusammengespartem Obst, hier saß sie an stillen Winter­abenden, wenn das völlig ein­geschneite Haus noch einsamer mar als gewöhnlich, mit ihrer alten Amme am Kamin und ließ sich felt­fame Vorkommnisse aus der Um gebung, Gespenstergeschichten und

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gegenüberliegenden Ufer

und die Weinberge überschauen

fann. Ein paar Minuten vom Schloß entfernt steht auf einem dieser rebenumwachsenen Hügel das Fürstenhäusle" aus dem 16. Jahr hundert, das Annette wenige Jahre vor ihrem Tode für billiges Geld faufte, um endlich ein eigenes Zuhause zu haben. Eine weiße haarige alte Frau, eine Nichte Annettes, führt den Fremden durch die niederen Räume. Sie öffnet Truhen und Schränke, und tausend Erinnerungen an die Tote werden ausgebreitet, eine blonde Locke aus ihrem Haar, alte Briefe, eine Handschrift des Geistlichen Jahres", ein Aufschrei in Gewissens- und Glaubensmöten. Kom

positionen, Zeichnungen, alte Möbel, Erinnerungsschriften, Bücher ihrer Freunde und Gemälde vervollstän sundigen das Bild und bringens die en Dichterin dem Besucher menschlich lodsfo nahe, daß man die Spanne Zeit, die zwischen ihr und uns liegt, vergißt.

Und diese Empfindung bleibt, wenn man dann an ihrem schlichten Grabstein auf dem   Meersburger Friedhof steht, denn ihr Ruheplatz mutet nicht wie eine Stätte des Todes an, sondern wie ein Gleich nis des unerschöpflichen, emig sich erneuernden Lebens. Blühende Rosen und Nelken, Efeu und Immergrün umgeben das Grab und ranken bis zu dem herben Steinkreuz und der alten Kapelle. In den Zweigen der Bäume und Sträucher nisten die Vögel und jubilieren dem Leben zu, das sich ringsum entfaltet. In der Tiefe rauscht und murmelt der blaue See, über dessen weißen Wellentämmen die Möven ihr Spiel treiben, und Dom jenseitigen Ufer glitern und glänzen die Häupter der Alpenkette, funfelt ewiger Schnee.

Stille und Schönheit, Idylle und tiefster Frieden ruhen auf den Pfaden, die Annette  Droste einst ging. Nichts ver rät mehr von dem aufreiben

DON

alte Sagen erzählen. Immer unfrei, stets unter der Obhut der| den. Kampf, den sie ausfechten mußte, nichts erinnert an Mutter, der die über Vierzigjährige mit Mühe die Erlaubnis zur anonymen Drucklegung ihrer Gedichte abringen mußte, fp lebte Annette hier auf Rüschhaus, in ihrem besten Wollen und Können gehemmt, tränkelnd und ohne eigentliche Lebensaufgabe. Das idyllisch gelegene Haus barg eine Tragödie.

Die heutigen Bewohner von Rüschhaus sind ein junges Ehe­paar, das Haus und Hof von dem Neffen Annettes in Bacht ge­nommen hat. Es sind einfache Landleute, die heute die Räume der Dichterin bewohnen, aber die feinfühlige Art, wie sie den Besucher stundenlang im Garten allein lassen, ihm die Räume öffnen, ist für den, der die geschäftsmäßigen Führungen" durch das Mozart oder das Beethoven-   Haus mitmachen mußte, ein Erlebnis. Eine

überbrachte, fuhr er zornig aus dem Stuhle auf. Niemals habe er eine derartige Aeußerung fallen lassen. Seine Frau jei gewiß ein Hausdrachen, aber.

Das mit dem Hausdrachen mußte wohl stimmen, denn trotz der inzwischen vergangenen acht Tage weigerte unser Bädermeister sich, dem aus seinem Heimatsort mit einem Automobil eingetroffenen Polizeikommissar nach Hause zu folgen. Ehe er heim gehe wolle er lieber noch einmal dreihundert Kilometer laufen. Seine Frau folle ihn abholen, zum Zeichen daß sie ihm verziehen habe. Go geschah es denn auch. Und zum würdigen Abschluß der merk­würdigen Irrfahrten passierte auf der Heimreise, die in einem Lastauto in Begleitung mehrerer Berwandter erfolgte, noch ein fleines Mißgeschick. Offenbar hatte man die Wiederkehr des ver­lorenen Baters" etwas zu ausgiebig begossen, denn am Abend

die Trogödie ihres Lebens. Wir aber, die wir uns nicht täuschen lassen durch die Idylle der Außenwelt, atmen auf, daß das Jahrhundert, dem sie so vieles opfern mußte, vorüber ist, die Zeit, in der die begabte Frau, zumal ihrer Kreise, ihr Bestes in dilettanti schen Beschäftigungen verzetteln mußte.

So wandern wir zurück auf den Spuren Annetes von Droste, aus der Einsamkeit und Stille des Rüschhaus, von der alters grauen Burg am   Bodensee und dem efeuumsponnenen Grab, aus der Bergangenheit in die Gegenwart, und grüßen den Reichtum unseres geistigen Lebens und die Welt des Zukünftigen, die wir ersehnen.

Dr. Else Möbus.

landete( wenn man so sagen darf) das Auto in einem Flüßchen und verschwand zur Hälfte im Wasser. Ein Better des braven Grenèche mußte ans Land schwimmen und Hilfe herbeiholen, worauf die ganze Familie aus ihrer unangenehmen und feuchten Situation befreit wurde. Dem Bädermeister von Bouville aber dürfte auf längere Zeit hinaus die Lust zu derartigen Erfurfionen vergangen sein

Die Dame mit dem Januskopt

Großes Aufsehen erregt in letzter Zeit in Theatervorstellungen, Bällen usw. eine   Pariser Dame, deren Geficht in zwei Hälften fo. zusagen geteilt ist. Auf der einen Seite ist sie runzlig und alt. auf der anderen jung und schön. Sie macht für einen Schönheit salon Reklame und überreicht Interessenten Geschäftskarten...