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Morgenausgabe

Nr. 249

A 126

46.Jahrgang

Böchentlich 85 B1, monatlich 3,60 m. im voraus zahlbar. Bostbezug 4,32 M. einschließlich 60 Bfg. Boftzeitungs- und 72 Big Boftbestellgebühren. Auslands. abonnement 6.- M. pro Monat

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Der Borwärts" erscheint wochentag lich zweimal, Sonntags und Montags einmal, die Abendausgaben für Berlin  und im Handel, mit dem Titel Der Abend". Jilustrierte Beilagen Boll und Zelt" und Kinderfreund". Ferner Unterhaltung und Wissen"." Frauen timme". Technit". Blid in die Bücherwelt" und Jugend- Borwärts"

Vorwärts

Berliner   Boltsblatt

Freitag

31. Mai 1929

Groß- Berlin 10 Pf. Auswärts 15 Pf.

Die etnipaltige onpareillezetle 80 Pfennig. Reflamezeile 5.- Reichs. mart. ,, Aleine Anzeigen das fettge druckte Wort 25 Pfennig( zulässig zwet fettgedruckte Borte), jedes weitere Bort 12 Bfennig. Stellengesuche das erste Wort 15 Bfennig. jedes weitere Wort 10 Pfennig. Borte über 15 Buchstaben zählen für zwei Morte. Arbeitsmarkt Belle 60 Pfennig. Familienanzeigen Zeile 40 Pfennig. Anzeigenannahme imhaupt geschäft Lindenstraße 3, wochentäglich Don 8 bis 17 Uhr.

Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands  

Redaktion und Berlag: Berlin   SW 68, Lindenstraße 3

Fernsprecher: Dönboff 292-297 Telegramm- Adr.: Sozialdemokrat Berlin  

Vorwärts Verlag G. m. b. H.

Labours großer Sieg

Alle Arbeitersitze bisher behauptet und neue erobert./ Schwere Regierungsverlufte.

E. W. 2ondon, 31. mai, 1 hr 15 nachts. ( Eigenbericht.) Die bisherigen Wahlergebnisse zeigen einen starten, siegreichen Fortschritt der Arbeiter­partci, der beinahe gestattet, von einem Erd. rutsch" zugunsten der britischen Sozialisten zu sprechen. Die Arbeiterpartei hat sämtliche Site. die sie im vergangenen Parlament besessen hat, bis. her mit erhöhten Mehrheiten aufrechtzuerhalten vermocht, eine Reihe von Sihen wiedererobert, die sie während der Sinowjew  - Wahlen verloren hatte und eine ganze Reihe von Siten ne u= crobert, die bisher noch niemals im Besitze der Arbeiter gewesen waren.

Siten

der Sozialistischen Arbeiterinternationale Arthur Hender. son in Burnsly mit verdoppelter Majorität wiedergewählt worden. Der Präsident der Arbeiterpartei Herbert Mor­riffon vermochte in Haden einen bisherigen konservativen Sit mit einer Mehrheit von 7000 Stimmen neu zu er­obern. Bisher find drei konservative Minister durchge­fallen: Sir Thomas Instip, der Generalstaatsanwalt der konservativen Regierung ist in Bristol- Central von einem fozialistischen Kandidaten geschlagen worden. Außerdem sind die beiden Unterstaatssekretäre des Wirt­schaftsministeriums und des Innenministeriums von der Arbeiterpartei besiegt worden. Soweit kommunisten im Felde standen, haben sie kaum mehr als je 300 bis 400 Stimmen zu erzielen vermocht; fie haben bisher durchweg ihren Wahleinsah von 150 Pfund Sterling verloren, da weniger als ein Achtel der Stimmen erzielt haben.

gc.

Es kann schon jetzt gejagt werden, daß die ton. servative Mehrheit im Unterhaus brochen sein dürfte. Der Stand der Parteien ist um 12 Uhr 45 Minuten folgender: Arbeiter partei 61 Site, Konservative 34, 2iberale 6, andere 4 Size.

Der Zuwachs der liberalen Stimmen ist bei Anrech- fie nung der Vergrößerung der Wählerschaft bisher nicht als fenfationell zu bezeichnen. Für eine liberale Wiedergeburt fprechen zurzeit keine Anzeichen. Die konservativen haben zwar im Durchschnitt ihre 1924 erzielte Stimmen­anzahl aufrechtzuerhalten vermocht; das bedeutet jedoch an­gesichts der 30prozentigen Vermehrung der Wählerschaft durch die Erweiterung des Frauenstimmrechts einen ausge­sprochenen Rüdgang. Da in einer großen Anzahl von Wahlfreifen im Gegensatz zu 1924 diesmal nicht zwei, jon­dern drei, in einzelnen Fällen jogar vier kandidaten im Felde standen, ist ein Vergleich der Ziffern überaus schwierig.

Die Konservativen haben bisher keinen Sit neugewonnen, jedoch 28 Site verloren.

Die Arbeiterpartei hat bisher keinen Sin berloren, jedoch 27 Sige neu gewonnen. Die Liberalen haben 6 Site gewonnen, hingegen Von den Führern der Arbeiterpartei ist der Präsident 3 verloren. Ihr Gesamtgewinn beträgt fonach 3 Site.

Der Wahltag in London  .

Ruhiges Straßenbild.- Regste Beteiligung der jüngsten Wählerinnen.- Autofarbenwirrwarr.

Condon, 30. Mai, 21 Uhr.( Eigenbericht.)

Der Wahltag ist nach den bisher vorliegenden Meldungen ohne ernste Zwischenfälle verlaufen. Ueber die Wahlbeteiligung ist ein Ueberblick noch nicht möglich, da die meisten erst nach ihrer Arbeit abends zwischen 7 und 9 Uhr zur Stimmabgabe gelommen In den ausgesprochen bürgerlichen Wahlkreisen Condons wie Kensington  , Hamstead usw. herrschten unter den Wählern bis spät abends die Frauen vor. Ueberall wird

regste Wahlbeteiligung der weiblichen Jungwähler festgestellt. Im Stadtbild Londons   war von der Wahl, die in Schulen, Amislokalen und Kirchen vor sich ging, beinahe ebenso wenig zu sehen wie von dem vorangegangenen Wahlkampf. Nur Autos mit blauen, roten und gelben Schleifen sowie Bildern der Kandidaten ließen erkennen, daß sich die Parteien um ihre Wähler bemühten. Die Farben waren allerdings infofern irreführend, als zahlreiche fonfervative Kandidaten wie zum Beispiel

der rechtskonfervative Innenminister Joŋnson Hids unter einem roten Banner fämpfte, während im gleichen Wahlkreise die Farbe des sozialistischen  Kandidaten blau war, Lloyd George   hatte während seiner Wahlkampagne unter diesem Wechsel der Farben nach Wahlkreisen infofern zu leiden, als er während feiner jüngsten Tournee nicht weniger als fünfmal die Farben feines Autos wechseln mußte, um sich jeweils in Uebereinstimmung mit den lokalen liberalen Farben zu befinden. An einem Orte, wo Cloyd George irrtümlicher­weise mit einem tot geschmückten Auto eintraf, wurde er zunächst für einen sozialistischen Agitator gehalten, was nach Auf­klärung des Mißverständnisses zu lebhaften Kundgebungen gegen

den liberalen Führer Anlaß gab.

Da das überaus strenge und nicht unparteiliche englische   Wahl. gefeh auch bestimmt, daß zu Schleppdiensten nur freiwillig zur Verfügung gestellte Automobile, nicht aber gemietete Wagen Ver­wendung finden dürfen, war die Labour Party   in dieser Beziehung gegenüber den Konservativen und Liberalen stark benachteiligt. Nach unserer Beobachtung verhielt sich

in London   die Anzahl der Autos der Konservativen zu denen der Arbeiterpartei wie 10: 1.

Diese nachteilige Situation der Arbeiterpartei wurde allerdings in den späten Abendstunden dadurch etwas ausgeglichen, daß sich etwa 100 Omnibuschauffeure der großen Londoner   Ber­fehrsgesellschaft den verschiedenen sozialistischen   Kandidaten als freiwillige Autochauffeure zur Verfügung stellten für Wagen, die den Kandidaten der Arbeiterpartei von den Befihern geliehen worden waren. Ein interessantes Bild bot der ausgesprochen groß­bürgerliche Wahlkreis Südkensington, wo die Berwicklung des offi­ziellen fonservativen Kandidaten Sir William Davidson in einen Einbruchskandal zu einer lokalen Revolte und zur Aufstellung eines Kandidaten geführt hat. Die puritanische Empörung scheint hier allerdings die entgegengesetzte Wirkung auszuüben, da nach allgemeiner Auffaffung die ganze weibliche Jugend geschlossen für Sir William Davidson gestimmt hat...

Der Führer der Arbeiterpartei Ramsay Macdonald  , welcher eine Fahrt durch seinen Wahlkreis Seaham   unternahm, war überall Gegenffand großer und begeisterter Kundgebungen.

Ein Attentat in Kabul  .

Eine Bombe gegen Habibullah  . Nach einer Meldung aus kabul   explodierte dorf am 26. Mai während einer Truppenbesichtigung durch Emir Habibullah eine Bombe. Ein Soldat wurde getötet und mehrere fchwer verletzt. Habibullah   entging dem Tode mit knapper Not. wie fich herausstellte, war die Bombe in die Erde eingegraben worden. Offenbar war ein Anschlag auf das Leben Habibullahs beabsichtigt.

Türkische Drohung. Infolge der neuen Schwierigkeiten, die die Franzosen bei den Verhandlungen mit den Türfen machen, drohen diese jetzt, die Bahn Adana- Merfina, die ihren von Rechts megen gehört, in eigene Berwaltung zu nehmen. In der National­versammlung wird energisch Auskunft über den Stand der Berhand lungen gefordert, sowie daß die Ferien vorläufig hinausgeschoben

werden.

Bostichedkonto: Berlin   37 536. Bankkonto: Bant der Arbeiter, Angestellten und Beamten Wallstr. 65. Distonto- Gesellschaft, Depofitentasse Lindenstr. 3

Ein Advokat des Teufels.

Die Rolle des Faschismus auf dem Rongreß der Bölferbundsligen.

W. S. Madrid  , Ende Mai.

An dieser Stelle wurde nach Pfingsten vor einem und vor zwei Jahren über den XI. und XII. Rongreß der Völker­bundgesellschaften berichtet. Jener fand in Berlin   unter dem Vorsiz der französischen   Professor Aulard   als der erfte große internationale Kongreß nach der Sozialistischen Internationale in Hamburg   statt, dieser wurde im Sommer 1928 im Ha ag abgehalten. Dieses Jahr waren die Völker­bundgesellschaften der Einladung Spaniens   gefolgt, dessen Regierung die Rückkehr in den Bölkerbund zu unterstreichen und möglichst viel Gäste in die Ausstellungsstädte Sevilla   und Barcelona   zu ziehen den Wunsch hatte. Der Berliner   Kon­greß hatte noch start unter den deutsch  - französischen Gegen­fäßen zu leiden; so war es damals noch nicht möglich, den Kongreß zu einer wirksamen Entschließung zugunsten der Räumung zu bewegen. Der 5 a a ger Rongreß erwarb sich ein Jahr später das Verdienst, sich den in der deutschen   Liga für Völkerbund   ausgearbeiteten Borschlag der ständigen Minderheitenfommission zu eigen zu machen, so daß ihn dann der holländische Außenminister in Genf   ver­Internationale ihn ihrem Programm einverleibte. Der dies­trat, die deutsche Regierung ihn aufnahm und die sozialistische jährige Kongreß, der in der Woche nach Pfingsten in Madrid  versammelt war, zeichnete sich dadurch aus, daß er den Faschismus anschaulich und scharf isolierte.

Der Madrider   Böllerbundkongreß wurde vom Grafen Bernstorff als diesjährigen Präsidenten des Weltver­bandes der Böllerbundligen mit Bonhomie und auch mit Energie dort, wo es nottat, geleitet. Besonderes Gewicht erhielten die Berhandlungen diesmal dadurch, daß der Ge nator Henri de Jouvenel   von Frankreich   und Lord Robert Cecit; der Präsident der englischen Gesellschaft ( mit 600.000 Mitgliedern) an den Madrider   Debatten teilnahmen. Bon Deutschland waren u. a. der Reichstagsab­geordneten Prälat Schreiber und Freiherr D. Rhein­baben erschienen. Italien   war wie üblich durch Er­Staatssekretär Giannini vertreten, ist sich doch der zähe Macchievellismus der heutigen italienischen Regierung nur zu gut bewußt, daß es bei der Sabotage des Friedens vor allem darauf ankommt, jeden friedensfördernden Weg möglichst zu verbauen. ehe auch nur der erste Schritt auf ihm getan wird. Der Kongreß ist sich wohl in allen seinen Borschlägen ftets einig gewesen: nur Giannini stimmte immer Mein".

Sein Nein ertönte gegen den Vorschlag, das Los politischer oder anderer Gefangener durch eine inter­nationale Konvention über Gefangenenbehandlung zu erleichtern, sein Nein widersetzte sich jedem Versuch, die Autorität des Bölkerbundes gegenüber den nationalen Re­gierungen zu stärken, einzig sein Nein wurde der Absicht ent­gegengesetzt, den jetzt auf die Ost- und Balkanstaaten   be­schränkten Minderheitenschuß auf alle Staaten auszu­dehnen. Einzig Giannini sprach zu jedem Punkt der Tages­ordnung, nicht ohne Wih, manchmal auch nicht, ohne sich zum Clown der Versammlung zu machen, er suchte die De­batte über die Minderheitenpolitik zu kürzen, er zog jede andere Debatte durch Geschäftsordnungs- und stilistische Be merfungen in die Länge. Die Absicht der Sabotage war so offenkundig, daß fein Delegierter die Politik, die ihm Musso­ lini   vorschrieb, mitmachte, sondern schließlich Robert Cecil  fich erhob und ihm für die Rolle dankte, die er auf diesem Kongreffe spiele: ihm sei es zu verdanken, wenn sich alle Kräfte der Demokratie zusammenschlössen, um gegen ihn Stellung zu nehmen; er sei es, der die Demokratie zwänge, Ueberwindung fich zusammenzuschließen,

feiner

zu er spiele wie im Mittelalter, wie bei der Heilig­fprechung einer Person die Rolle des advocatus diaboli, des Advokaten des Teufels, gegen den die Gutgesinnten alle Argumente ins Feld führen müßten, um ihn zu schlagen... Wie lange wird es wohl noch dauern, bis im Namen einer Regierung im amtlichen Bölferbunde selbst die Demokratie einmal die Kraft finden wird, dem Faschismus mit voller Berachtung entgegenzutreten?

War diese Kennzeichnung Mussolinis der dramatische Höhepunkt des Kongresses, so stellte die Beratung des Ar­tifels 19 der Völkerbundsfagung über die Revision von Ver­trägen einen in der Stille sehr bemerkenswerten Beginn dar. 3ft es doch unseres Wiffens zum ersten Male in Madrid  gewesen, daß auf einem internationalen Kongreß die An­gehörigen der verschiedensten Nationen sich über die heikelſte aller Fragen, über die Revision von Verträgen, unterein­ander in aller Ruhe aussprachen und gemeinsam festgestellt haben, was der berühmte Artikel 19 rechtlich bedeutet. Sie haben festgestellt, daß nach geltendem Böllerbundsrecht jeder Staat jederzeit das Recht hat, die internationale Aufmert­samfeit auf einen nach feiner Meinung überholten Vertrag zu lenken und die Völkerbundsversammlung mit einfacher Mehrheit beim Borliegen eines solchen Antrages das Recht 1 hat, zu seiner Prüfung eine Kommission einzusetzen, die