Nr. 253• 46. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Sonntag, 2. Juni 4929
Jetzt ist Berlin Sonntags eine tote Stadt. Denn mit dem Einzug des Frühlings ist das Berliner Wochenende ausgebrochen. Berliner Wochenende, das heißt: unendliche Drängelei vor und in allen Ber- kchrsmitteln, ein Schleier von Lärm, Musik. Staub um den Stadt- kern Berlins . Derweil breitet sich über die Straßen Feiertagsstillc, und die Parks machen sich schön, um ihre Feiertagsgäste zu empfangen. Denn so ein Berliner Park am Sonntag zeigt ein ganz eigenes Gesicht. Auf de» Bänken sitzen alte Frauen und Männer, auf den ALegen spielen sonntäglich angezogene Kinder, denen man anmerkt, daß dieser Park nicht ihr täglicher, vertrauter Spiel- platz ist. Sonntagsgäste. Da sitzen auf einer Bant drei alte Männer. Klemmt man sich daneben, so hört man plötzlich, daß es eigentlich weitgereist« Leute sind. Drei alte Handwerksmeister, die jetzt in einem Berliner Stift hausen.„Nu kann man ja nich mehr Sonntags weg; das Ge- dränge! hält keiner von uns mehr aus. Früher..' Und über das„Früher" kommen sie ms Erzählen. Buchbinder war der eine, Schneider der andere und Klempner der dritte. In ihren Wander- jähren, als man noch wirklich auf die Walze ging, haben sie nicht nur das Reich kreuz und quer durchstreift. Einer hat Norditalien und ein Stückchen Frankreich , einer Ungarn und der Buchbinder sogar Rußland kennengelernt,„'n Handwerksgeselle kam damals überall dusch.".Run sitzen.sie hier in dem Berliner Hospital, haben .zwischen 80-und.SV Mark Rente und wärmen sich Sonntags ihre *«llen Glieder im Park. Und da sällt.ejnem plötzlich ein: Born, im � Berliner Adreßbuch existieren«in paar komisch« Spalten: da sind die Stiftungen und Hospitäler Berlins ausgezeichnet. Kleinrenknerheime und Heime für alle Lehrerinnen, Stiftungen für Bürger, die mindestens zehn Jahre in Berlin ein Gewerbe selbständig betrieben haben, Stiftungen für Personen„vorzugsweise aus der Familie des Stifters oder über 60 Jahre alte Personen, die dem Stande der.Leug- und Raschmacher,'Tuchmacher oder Baumwoll- weder oder anderen Weber Berlins " angehören Ach, daß auch mal die Weber in Berlin aussterben würden, hat der Stifter wahrlich nicht gedacht... � Neugierig geworden, wandert man eines schönen Tages nach der Fränksurter Straß« heraus: da stehen drei große Kästen: Das .Nikolaus-Bürger-Hospital, die Weydingersche Stiftung und noch ein anderes Stift. Gleich um die Ecke, in der Koppenstraße aber steht noch die„Gesindc-Belohnungs- und Unterstützungsanstalt". Im Flur des Nicolaus- Bürger-Hospitols steht ein kleiner, alter Herr. Neugierig beäugt er die fremde Gestalt.„Wollten Sie hier zu wem? Nee? Zum Haus- vater? Ach, denn wollten Sie woll wejen wem fragen? Wolln Sie woll wem herbringen?" Er ist so auskunltsfreudig, daß man gar keinen besseren Mann sinden könnte: sichtbor geschmeichelt nimmt er eine Einladung auf eine Tasse Kaffee an und sucht eine nett«, kleine Konditorei heraus, in der wir uns unterhallen können:„... denn ins Cafä kann ich doch so nich... so.." und er faßt nach der Hemdpriese, der er am Alltag keinen Kragen aufknöpft. Beim Kaffee erzählt er: Er ist Drechslermeister gewesen, nun schon drei Jahre im Hospital.„Nee, ich bin nich jerne reinjejangen, ick Hab mir jejrault wie vor'ne Kaserne. Aber immer alleine un keine
Hilfe, wenn ein was passiert, det is auch nischt. Un nu bin ich sehr zufrieden. Was mein Schlafkollege is, der kann jar nich besser sein. Un ich koche mir selbst, denn das olle Suppenessen, was wir auch kriejen können, schmeckt mir nich un kostet auch 30 Pfennich. Heute habe ich mir Leber auf mein Spirituskocher jebroten, un morjen jibts Spinat." Stolz glänzen seine Augen, als ich feine Rüstigkeft bewundere..Lweiundachtzich bin ich man' erst. Mein Schlafkollege is sechsundachzich. Zu dem sagen sie„Reiseonkel", weil er so viel rumreist. In 14 Tage fährt er wieder nach Wriezen , und denn nimmt er dreimal im Sommer Urlaub un verreist. Wer von uns Kinder draußen hat, jeht ja raus. Bloß nich Sonntachs— dos können wir nich mehr ausholten. Wir haben, ja selber'n schönen Iarten un viele jehen in'n Hain. Nee— sonst fehlt uns nichts. Dreimal die Woche Aufschnitt kriejen wir, un Kohlen im Winter, un wo keine Sonne is, da krieien die Zimmer mehr Kohlen— bei uns jeht alles janz jerecht zu, un unser Sekertär sorjt richtich für uns." 82 alte Frauen. Geich nebenan ist die„Gesindc°B elohnungs-undUnter- st ü tz u n g s a n st a l t", wie sie früher hieß, eine Stiftung aus den 7ver Iahren. Hier mußt« ich heilig versprechen, meinen„Gewähre- mann" nicht zu nennen,— denn 62 alte Frauen wohnen hier unler einem Dach:„Und sie glauben nich, was die aufeinander neidisch sind." Die Aclteft« ist SV Jahre. Alles frühere Hausangestellte. Jede muß nur eine Kommode mitbringen. Schrank und Bett stellt die Anstalt, aber auch das Bett bringen die meisten lieber mit,„denn die ollen Bettstellen sind so verwanzt", wenigstens nach dem Glauben der alten Mädchen. Rur Wohnung. Licht und Heizung gibt hier da Stift, denn sein Vermögeu wurde von der Inflation gefressen. Je zwei bewohnen ein Zimmer: auf den breiten Fluren sind in Nischen kleine Kochstellen, die sie benutzen können, um sich ihre Mahl- zeiten herzustellen. Sie dürfen ausgehen: freilich um neun muß jede zu Hause sein, Hausschlüssel gibt es nicht. Das leichtsinnige junge
Jlochslelten im&lur für das Sonniagsessen
Volk, das erst so um die sechzig oder siebzig herum ist, macht auch noch oft von der Ausgangserlaubnis Gebrauch. Die Alten sitzen im Garten: freilich bloß„in der Sonnenecke".„Drüben ist es zu nahe an der Straße, und die Göhren schmeißen hier Steine und Dreck rein." Manche geht noch gern„zu der alten Herrschaft": andere wissen nicht wohin. Ach, in vielfacher Variation spielt hier der letzte Akt der Tragödie vom„treuen, allen Mädchen", das über dem Dienst an andere sich selbst vergaß, und das nun trotz Stift und„guter Herrschaft" doch heimatlos ist. Vielleicht ist es das, was die In- sassinnen hier so verdrossen, so„schwierig" macht. Geistige Inter - essen hat kaum eine— während drüben die allen Handwerksmeister doch zu vier oder sechs die Zeitung halten, haben die alten Frauen hier keine andere Zerstreuung als den Klatsch. Einen gemeinsame» Tagesraum gibt es hier so wenig wie drüben: dort hat man sreilich das Grammophon —„es sind bloß immer dieselben Platten"— und setzt es zuweilen im Konferenzzimmer in Betrieb. Hier hat man dafür ein« eigen« Kirche, die an Wochentagen völlig leer steht... Will mal eine Gesellschaft einen Film vorführen, wollen mal andere Menschen durch Gesang oder andere Darbietungen ein wenig Zer- streuung in die grauen Räume bringen, dann muß erst ein müh- seliger Instanzenweg dnrchpilgert werden, bis die Erlaubnis dazu kommt. Ja— übrigens: einen Baderaum gibt es hier so wenig wie drüben im Hospital: so was war bei der Gründung hier nur der Luxus der feinsten Leute. Selbst der Stifter, der alte Wilhelm, borgte sich ja seine Badewanne aus dem Hotel de Rome. Und bei der Einrichtung von Anno dazumal ist es dann ja auch geblieben... Mutter muß zu Hause bleiben... Eine Straßenbahn kostet nur zwanzig Pfennig. Das ist nicht viel. Aber die Summe wächst zum kleinen Kapital für Manchen Arbeitslosen, und leider auch für manchen Arbeiter, wenn man so rechnet: Vater und Mutter und zwei oder drei Kinder. Dann sind es für hin- und Rückfahrt schon zwei Mark, und das ist recht viel. Wenn die Kinder absolut nicht zu Hause bleiben wollen und Vater auf ihr„Ouängeln" schließlich wenigstens in den nächsten Park mit ihnen geht, dann sitzt Mutter zu Hause, froh, wenigstens„mal in Ruhe sich um die Sachen kümmern zu können". Denn dosftst-das Sonntogsoergnügen nur zu vieler Familienmütter: Stopfen und Flicken und olle Arbeit,„an die man in der Woche eben nich so ran kommt". Obligatorisch wird Mutters Zuhausebleiben aber, wjain die Familie«ine Portierstelle hat. Denn das Haus soll doch bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen werden, außerdem muß immer jemand erreichbar sein für den Fall eines Rohrbruchs oder einer ähnlichen Katastrophe— und der Hauswirt betzankt sich dafür, zu Hause zu bleiben— dafür hat er ja den Sonntag der anderen mitgekauft. Nie werde ich das Entzücken eines kleinen Mädels über die Sonnenlichter auf einem„richtigen See" vergessen. Das war die Tochter unseres Portiers, und das Mädel war noch nie wirklich aus Berlin herausgekommen. Vier Kinder waren da und der Vater war in jedem Jahr monatelang arbeitslos. Der Herr Hauswirt gab nur die freie Wohnung, und die war danach.„Vater geht mit uns Sonntags aus, aber denn müssen wir immer soviel lausen..." Dabei kamen sie doch nie aus den steinernen Häusern heraus, und die Ruhe in der Oase des„fremden" Parks genügte kaum, um die Müdigkeit des Hinwegs zu überwinden. Eines Tages aber fanden die drei jüngsten den Weg zur Arbeiterjugend, und nun haben sie sich Wald, Wasser und Welt erobert. »Da passen wir nicht hin.. Sonja(sie ist aus der Ackerstraße, aber russisch ist noch immer modern unter den Mädeln, die alle eine schamhaft verschwiegene Liebe fürs Romantische haben)— Sonja saß schon am frühen Vor- mittag in ihrem Stammlokal und trank einen Kaffee.„Schon" ist eigentlich nicht richtig, eher könnt« man„noch" sagen, denn sie war gar nicht schlafen gegangen. Es war die Nacht vom Freitag auf den Sonnabend gewesen. Ich entwickelte gerade meine Pläne für das Wochenende, und unüberlegt genug sprach ich sie an:„Na, Sonja,
„Aus siQtturiclS-