Morgenausgabe
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4. Juni 1929 Groß- Berlin 10 pf. Auswärts 15 Pt.
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Unterredung mit Macdonald.
London , 3. Juni,( Eigenbericht.)
Der Führer der Arbeiterpartei, Ramsay Mac= donald, der in nächster Zeit voraussichtlich zum zweiten Male die Ministerpräsidentenschaft Großbritanniens übernehmen dürfte, empfing am Montag unseren Londoner Korrespondenten, Genossen Eg on Wertheimer, in > ni seinem Heim in Hampstead .
Die überaus anstrengenden Wochen, die hinter Macdonald liegen, scheinen an dem Führer der Arbeiterpartei völlig spurlos vorübergegangen zu sein. Sein Gesicht war wettergebräunt, als ob er von einer Wanderung im Hoch lande seiner schottischen Heimat, nicht aber von einem schweren Wahlkampf zurückgekommen wäre. Aus jedem feiner Worte sprachen Optimismus und das Ver= trauen darauf, daß bei den kommenden Entwicklungen die Initiative in den Händen der Arbeiter partet jei und auch weiterhin verbleiben werde. Jeder Versuch, den Führer der Arbeiterpartei über seine Auffassung der unmittelbaren parlamentarischen Entwicklungen zu befragen. stieß aus begreiflichen Gründen auf Macdonalds Entschlossenheit, nichts zu sagen, was die Lage praju dizieren könnte. Er betonte, daß die Verantwortung verfrühter Erklärungen zu groß jei, als daß es ratsam märe, einem ausländischen oder einem englischen Journalisten gegenüber irgendwelche Mitteilungen zu machen, die auf die unmittelbare politische Entwicklung Bezug haben. Man wird jedoch zwischen den Zeilen der nachfolgenden Erklärungen mancherlei herauslesen fönnen, was auf die Stellung der Arbeiterpartei zu einer Reihe der brennendsten Fragen politische, Schlüsse durchaus ermöglicht.
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Ramsay Macdonald äußerte sich zunächst befriedigt über den Ausgang der Wahlen, den er als ,, a ußerordentlich" günstig bezeichnete. Natürlich hätte er eine absolute Majorität vorgezogen.,. Unser Sieg hat mir eine unge= heure Menge von Telegrammen aus der ganzen Welt gebracht," fuhr Macdonald mit einer Geste nach seinem Schreibtisch fort. Alle Länder sind in diesen Glückwünschen vertreten mit der einzigen bezeichnenden Ausnahme von Rußland . Die Wahlen haben vor allem zwei Dinge eindeutig bewiesen: Das Land will eine andere Regierung, und zweitens: das Land hat Vertrauen zur Arbeiterpartei und wünscht, sich und sein Interesse von der Labour Party in der Regierung vertreten zu sehen. In einem gewissen Abstande hierzu könnte man noch eine dritte Schlußfolgerung aus dem Ausgang der Wahlen ziehen: Die Nation betrachtet jede dritte Partei als unerwünscht." Die Zwischenfrage, daß die Liberalen immerhin ein Viertel der Stimmen erzielt hätten, beantwortete Macdonald mit dem Hinweis, daß dies angesichts der 500 liberalen Kandidaten nichts beweise. Die 5 Millionen liberaler Stimmen enthielten einen Großteil Stimmen von Männern, die noch die Blütezeit des Liberalismus erlebt hätten und aus Loyalität für ihre alte Partei stimmen: Vergessen Sie nicht, daß die Liberalen noch im Jahre 1926 eine riesige Mehrheit im Barlament besessen haben und zahlreiche Wähler von damals noch heute zur Wahlurne gehen. Ferner haben diesmal eine Menge Konservative, die gegen die Regierung demonstrieren wollten, den Liberalen ihre Stimme gegeben." Beinahe gereizt fügte Macdonald hinzu, die Liberalen interessierten ihn nicht, eine Behauptung, die er später noch einmal mit großem Nachdruck wiederholte.
Auf die Frage, wie er die europäische Gesamt fituation beurteile und ob er noch der Auffaffung sei, daß es Jahre dauern würde, ehe die Sünden der Regierung Baldwin wieder gutgemacht werden könnten, und ob er glaube, daß in der gegenwärtigen Situation mit Erfolg außenpolitische Schritte von Großbritannien getan werden fönnten, antwortete Macdonald: Es ist immer an der Zeit, etwas zu tun und die Dinge vorwärts zu treiben. Wenn wir morgen an die Macht kommen, werden wir am nächsten Tage mit der Sondierung der Situation und der Ausstreckung von Fühlern beginnen." Macdonald wandte sich hierauf gegen den Versuch, ihn auf bestimmte Aktionen und Formeln festlegen zu wollen. ,, Die richtige Methode ist, mit Gesprächen mit Staatsmännern und Diplomaten zu beginnen und diese internationale Aussprache ständig in Fluß und Bewegung zu halten, um zu verhindern, daß eine Stagnation wie die gegenwärtige eintritt." Zur Abrüstungsfrage machte der Führer der Arbeiterpartei einige hochinteressante und politisch bedeutungsvolle Feststellungen. Macdonald machte einen prinzipiellen Unterschied zwischen den kleinen und den großen Nationen. Sie feien beide in durchaus verschiedener Lage: Es gibt fein kleines Land, das sich wirklich verteidigen tann. Wird es überfallen, so helfen ihm 10 000 Mann und ein Banzerfreuzer nicht im geringsten. Es tann sich
Baldwin tritt zurück.
Macdonalds fünftiges Kabinett.
London , 3. Juni. ( Eigenbericht.) Die Regierung Baldwin entschied sich am Montag im Verlauf einer längeren Kabinettsfitung für den Rücktritt. Baldwin wird dem König am Dienstag seine Demission überreichen. Der König dürfte Macdonald sofort mit der Neubildung des Kabinetts beauftragen. Ramsay Macdonald hat bereits die letzten beiden Tage mit der Zusammenstellung seines Kabinetts benutzt, das nunmehr in großen Umrissen fertiggu stehen scheint. Nach einer alten Tradition wird kein Abgeordneter mit einem Posten im eigentlichen Kabinett betraut werden, der nicht schon in dem alten Parlament Abgeordneter gewesen ist. Alle bisher in den konservativen Zeitungen erschienenen Meldungen über die Zusammensehung des Kabinetts sind nur Kombinationen Außenstehender. Es kann jedoch als sicher gelten, daß folgende Abgeordnete der Arbeiter partei zu Ministern ernannt werden: Artur Hen derson, J. H. Thomas, Philipp Snowden, Loro Thomson, Artur Greenwood, Frau Suzanne Lawrence. Der Führer der schottischen Linken Wheatley, der im Kabinett von 1924 einen der wichtigsten Posten innegehabt hat, erhält kein
Ministeramt.
Das allgemeine Interesse konzentriert sich selbst verständlich auf die Nachfolge Sir Austen Chamberlains. In gut unterrichteten Kreisen der Arbeiterpartei glaubt man zu wissen, daß die Zeitungsmeldungen, wonach Henderson und Thomas zur engsten Wahl stehen, den Tatsachen Interstaatssekretär im entsprechen. Auswärtigen Amt dürfte nicht Lord Thomson , sondern voraussichtlich Sir Oswald Mosley er nannt werden.
militärisch und machtpolitisch weder schützen noch sichern. Eine große Nation ist in einer etwas anderen Situation. Sie fann fich machtpolitisch bis zu einem gewissen Grade schützen, aber auch sie kann keinen Krieg verhindern. Ihre militärische Macht stellt für sie einen Einsatz( booty) dar, mit dem sie verhandeln kann. Ihre wirkliche Abrüstung hat daher ein internationales A brüstungsabfommen zur Voraus ſegung. Darum muß sich ihre Politik, was die Abrüstung betrifft, in der Richtung auf die Herbeiführung eines solchen internationalen Abkommens bewegen."
Das Gespräch wandte sich hierauf den psychologischen Voraussetzungen des großen Sieges der Arbeiterpartei zu, wobei Macdonald die interessante Behauptung aufstellte, daß es der Erfolg der Arbeiterregierung von 1924 gewesen sei, welcher der Arbeiterpartei in der vergangenen Woche ihren Sieg gegeben habe. Auf die Frage nach dem Einfluß des Generalstreits auf den Ausgang der Wahlen stellte Macdonald ausdrücklich fest, daß alle konservativen Versuche, unter Hinweis auf die Ereignisse von 1926 eine Banit gegen die Arbeiterpartei zu erzeugen, ebenso ver pufft seien wie der Versuch, die Arbeiterpartei als eine Gefahr für die Verfassung Großbritanniens oder für die finanzielle Sicherheit und den Kredit des Landes hinzustellen.
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Mit besonderer Wärme besprach Macdonald dann die Rolle, die insbesondere die jungen Frauen, die zum erstenmal gewählt haben, bei der großen politischen EntscheiDung spielten. Der Wechsel, der sich in der geistigen Einstellung der Frauen im Laufe der letzten 20 Jahre vollzogen hätte, sei mirtlich ganz er staunlich. Vor zwanzig Jahren sei die junge Frau ganz von der Idee einer zukünftigen Heirat beherrscht gewesen sie hätte für industrielle oder soziale Pflichten fein Interesse gehabt. Heute sei sie nicht nur besser gekleidet, geistig lebendiger, selbstbewußter, sondern auch interessierter: In gewisser Beziehung sind diese jungen Frauen selbständiger als ihre Brüder. Ich weiß von den alten fonservativen Familien, in denen seit Generationen fonjervativ gewählt wurde, weil es die Söhne und Enkel einfach für ihre Pflicht hielten, unabhängig von ihren persönlichen Anschauungen die Familientradition aufrecht zu
erhalten und konservativ zu wählen. Was ist aber geschehen? Die junge Tochter hat sich geweigert, einer blinden Tradition. zu folgen, und wir haben zum erstenmal in der Geschichte Großbritanniens erlebt, daß zahlreiche bürgerliche und aristokratische Familien infolge der politischen Selbständigkeit der jungen Frauen innerlich gespalten waren. Das Land hat nunmehr entdeckt, was die Arbeiterpartei schon längst geahnt hat, daß diese jungen Wähler sich politisch als ein unbeschriebenes Blatt an den Kampf der Parteien heran und hatten keinerlei Verbindung mit einer bestimmten politischen Organisation. Die jungen Frauen wollten feine altmodischen politischen Feuerwerke. Was sie interessierte, waren die Absichten der Parteien und der Grad von Ehrlichkeit, den sie den Parteien bei der Durchführung punkte und Wahlversprechungen haben sie nicht ihrer Absichten zutrauten. Theoretische Programmintereffiert. Unter diesem Gesichtspunkt haben sie sich zu einem großen Teil für uns entschieden. Sie haben mit der politischen Tradition gebrochen, und wir fönnen über die Art und Weise, wie sie das getan haben, nicht genug dankbar sein." denen das gegenwärtige britische Wahl system geführt Einen Hinweis auf die Ungerechtigkeiten, zu babe, beantwortete Macdonald mit einer scharfen Polemit gegen das proportionale Wahl system, Wahlsystem, das er stets bekämpft habe und das daran schuld sei, wenn heute keine sozialistische Partei auf dem Kontinent zu einer Mehrheit gelange. Im übrigen betonte Macdonald, daß er an dieser Frage ,, nicht im geringsten interessiert" sei, so lange man nicht einen wirklich idealen Ersatz für das britische Wahlsystem gefunden habe. Diese anscheinend aktuelles Interesse, als es immer deutlicher wird, daß die rein theoretische Frage und Antwort besigt insofern hohes Art und das Ausmaß einer liberalen Unterstügung der Arbeiterpartei im Unterhaus in hohem Grade davon abhängen wird, ob sich die Arbeiterpartei auf eine Kon3effion gegenüber den Liberalen in der Frage der Wahlrechtsreform einlassen wird. Macdonalds Erklärungen zu dieser Frage lassen feinen Zweifel offen, daß eine.weitgehende fommt. Es wird immer deutlicher, daß weder die KonserReform für die Arbeiterparteinichtin Frage vativen noch die Arbeiterpartei ein Entgegenkommen in dieser Frage gegenüber den Liberalen zeigen werden und daß sie sich in ihrem Vernichtungstampf gegen die Liberale Partei einig zu sein scheinen.
Labours Danf.
London , 3. Juni. ( Eigenbericht.) Der Führer der Arbeiterpartei Macdonald übermittelte dem S03. Presledienst" folgende Botschaft:
Ich danke den verschiedenen sozialistischen Parteien
Europas für ihre guten Wünsche, die sie uns gesandt haben. meine Kollegen und ich erwidern sie aufs herzlichste. Es erfüllt uns mit Freude, zu ersehen, daß die Erfolge, die wir erzielt haben, einen Anfporn für die organisatorische und propa gandistische Arbeit der Partei in anderen Ländern dar= stellen."
Labour- Sieg und Rheinlandräumung.
Das den Sozialisten nahestehende Abendblatt Soir" erklärt,
daß es die höchste Zeit sei, das Rheinland zu räumen. Die Verſtändigung auf der Reparationskonferenz sei so gut wie ersielt. Nun sei auf der sogenannten Rheinlandkonferenz vereinbart worden, daß die Räumung sofort nach der Unterzeichnung des neuen Abkommens beginnen würde. Der Fälligkeitstermin sei da, man fönne ihn trotz des Widerstandes der nationalistischen Fraktion ( Marin und anderer) nicht mehr ausschalten. Die englische Arbeiterpartei habe sich stets für die Räumung der Koblenzer und der Mainzer Zone ausgesprochen, sie werde ihr Wort nicht brechen. Die Regierung Poincarés fönne jetzt nicht mehr bei der von ihr verfolgten verhängnisvollen Politik bleiben, wohl oder übel werde sie das Rheinland aufgeben müssen, wenn sie nicht vor aller Deffentlichkeit als Friedens störer erscheinen wolle. In dieser Hinsicht würden die englischen Wahlen ein Unglück für die französischen Nationalisten sein, die nichts gelernt und nichts vergessen hätten.