Der Abend
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Spätausgabe des„ Vorwärts
66
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Nr. 256
B 127 46. Jahrgang.
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Deutschnationales Theater.
Im Auswärtigen Ausschuß.- Auszug der Blamierten.
Der Auswärtige Ausschuß des Reichstags frat heufe vormittag in großer Befehung zusammen. Anwesend waren Reichskanzler Müller und die Miniffer Hilferding, Stresemann, Curtius, Wirth und von Guérard. Auf der Tagesordnung ffand die Sachverständigentonferenz in Paris .
Reichsfinanzminister Dr. Hilferding gab einen Ueberblic über die historische Entwicklung der Arbeiten des Pariser Sachverftändigenausschusses und behandelte die einzelnen Phasen der Berhandlungen sowie diejengen Fragen, über die bis zur Stunde eine Einigung erzielt werden konnte.
Reichskanzler Müller ergänzte diese Ausführungen und gab von einem Telegramm der deutschen Sachverständigen Kenntnis, worin das dringende Ersuchen ausgesprochen wird, daß innerpolitische Auseinandersetzungen bis nach Beendigung der Konferenz vertagt werden möchten. Die Sachverständigen wür den, lediglich ihrem Gewissen und ihrem freien Ermeffen folgend, die Verantwortung für ihre Entscheidungen ohne Rücksicht auf äußere Einflüffe übernehmen. Die deutsche Regierung bleibe in bezug auf Annahme oder Ablehnung völlig frei. In gleichem Sinne habe sich auch Geheimrat Kastl zu den deutschen Pressevertretern in Paris geäußert. Der Reichskanzler bat, zurzeit von einer materiellen Erörterung abzusehen.
Graf West arp( Pnat.) erhielt darauf das Wort zu Ausführungen im Sinne der bekannten deutschnationalen Interpellation. Er brachte einen Antrag ein, der jetzt schon eine Ablehnung des Ergebnisses der Pariser Konferenz fordert.
Abg. Scholz( D. Bp.) erklärte, er habe wohl den Interpellanten Gelegenheit geben wollen, ihren Standpunkt zu begründen, meine aber, daß nun von einer weiteren materiellen Distuffion abzusehen sei. Er stellte den Antrag, daß die Debatte abgebrochen werde und nur noch Fragen zur Information der Abgeordneten gestellt werden sollten.
Ueber den Antrag Scholz tam es zu einer lebhaften Geschäfts ordnungsaussprache, in der die Redner der verschiedensten Parteien den Deutschnationalen das Unsinnige ihres Vorgehens vorhielten. Es sei doch ganz unmöglich, einen Antrag über das Ergebnis der Pariser Konferenz anzunehmen, folange dieses Ergebnis noch nicht einmal richtig feststehe.
Die Deutschnationalen beharrten trotzdem auf Aussprache und Abstimmung über ihren Antrag, wobei sie nur von den Kommunisten unterstützt wurden. Schließlich wurde der Antrag Scholz von den übrigen Parteien
angenommen, worauf
die Deutschnationalen den Saal verließen. Zurück blieb nur der deutschnationale Abg. Hoesch, der als Schriftführer fungierte, sich aber an der folgenden informativen Aussprache durch Zwischenfragen interessiert beteiligte, bis er scherzhaft darauf aufmerksam gemacht wurde, daß er ja nur noch als Schriftführer und nicht mehr als Deutschnationaler anwesend sei.
Die informative Aussprache endete gegen 12,15 Uhr.
Erklärung der Blamierten.
Die deutschnationale Reichstagsfraktion erläßt folgende ErHärung:
,, Die Ablehnung der Beratung der Pariser Berhandlungen im Plenum des Reichstages wurde feitens der Reichsregierung mit dem Hinweis darauf begründet, daß die heutige Sigung des Auswärtigen Ausschusses die Möglichkeit bieten solle, ausgiebig über die politische und wirtschaftliche Bedeutung der Barijer Berhandlungen zu debattieren. Diese Möglichkeit wurde in der heutigen Sigung des Auswärtigen Ausschusses von den Regierungsparteien dadurch abgeschnitten, daß sie jede Behandlung eines deutsch nationalen Antrages auf Ablehnung der jetzt bereits befannten ungeheuren auf zwei Generationen sich erstreckenden Belastung des deutschen Volkes schroff vermeigerten. Die deutschnationalen Mitglieder des Ausschusses widersprachen entschieden dieser den bisherigen Zusagen direkt entgegengesetzten Unterdrüdung der Kritit in einer Schicksalsfrage des deutschen Volkes und verließen in Verfolg dieses Protestes den Sigungsjaal."
Die Deutschnationalen versuchen durch diese Erklärung vergeb iich zu verbergen, welche I ä cherliche Rolle fie im Auswärtigen Ausschuß gespielt haben. Die Behauptung, ihre Kritik sei unterdrückt worden, ist eine grobe unwahrheit, denn der Ausschuß hatte die nicht gerade furzweiligen Ausführungen des Grafen Westarp mit größter Geduld über sich ergehen laffen. Die Zumutung aber, ( Forthegung auf der 2. Seite.)
Freie Bahn der Arbeiterpartei.
Baldwin überreicht sein Rücktrittsgesuch.
London , 4. Juni. Ministerpräsident Baldwin hat sich heute vormittag nach Windsor begeben, wo er vom König in Audienz empfangen wurde. London , 4, Juni.
Ueber die historische Kabinettsfizung am Montag, in der Baldwin und feine Ministerkollegen beschlossen, nach fünfjähriger Amtszeit zurückzutreten, um einer Arbeiterregierung Platz zu machen, werden die folgenden Einzelheiten befannt: Baldwin legte seinen Kollegen die Gründe dar, die ihn dazu veranlaßt hatten, jetzt schon zurüdzutreten, anstatt die erste Sigung des neuen Barlaments abzuwarten. Er hätte zunächst den Eindrud vermeiden wollen,
daß die Konfervative Partei die Arbeiter um die Früchte ihres Sieges bringen
wolle.
Seinen früheren Zusagen gemäß nehme er daher das Urteil des Landes an. Er hätte nicht die Abficht gehabt, in irgendwelche Verhandlungen mit den Liberalen einzutreten, um sich ihrer etwaigen Unterstützung zu vergewissern. Ferner würde eine Hinausschiebung der Entscheidung es der Arbeiterpartei unmöglich gemacht haben, die Thronrede herauszugeben, worauf sie sicherlich ein Anrecht habe. Der Zusammentritt einer Regierung Macdonald würde bis Mitte Juli verzögert werden, wodurch das Programm würde bis Mitte Juli verzögert werden, wodurch das Programm des Parlaments ungünstig beeinflußt worden wäre. Alles dies hätte vermieden werden müssen. Außerdem lägen auch die Verhältnisse wesentlich anders als im Jahre 1923, so daß kein Grund bestünde, die damalige Art des Vorgehens zu wiederholen. Die Gerüchte, daß Baldwin die Führung der Konservativen Bartei aufgeben wolle, werden de mentiert. Man erwartet viel mehr, daß er auf einer Parteiversammlung die Lage erörtern und die Maßnahmen besprechen wird, die dazu beitragen sollen, die Leistungsfähigkeit der Partei zu erhöhen, wozu vor allem die Verjüngung des Personals notwendig ist.
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Ob Macdonald schon heute oder am Mittwoch nach Windsor gehen wird, um sich vom König den Auftrag zur Kabinettsbildung erteilen zu lassen, steht noch nicht endgültig fest. Auf jeden Fall hätte sich Macdonald dahin entschieden, daß seine Stellung viel und darin stimmen seine Kollegen mit ihm überein stärker wird wenn er dann sofort sein Arbeitertabinett bilden könne, ohne sich um die Unterstützung anderer Parteien zu kümmern. Die Lage ist demnach so, daß eine Koalition oder Arbeitsgemeinschaft verschiedener Barteien nicht in Frage tommt, sondern die Liberalen werden zunächst einmal von den Führern der großen Barteien ausgeschaltet. Man könnte fast annehmen, daß das auf
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einem stillschweigenden Uebereinkommen zwischen Baldwin und Mac donald beruht, wobei Baldwin willens ist, die Politik seiner Partei so einzurichten, daß Macdonald zunächst an der Regierung bleibt, das heißt England würde eine Minderheitsregierung der Arbeiterpartei aber nicht etwa von Lloyd Georges Gnaden, sondern von Baldwins Gnaden haben. Sie erklärt sich aus der erbitterten Feindschaft der beiden Parteien gegenüber den Liberalen und dem
Wunsch,
zum Zweiparteien- Syftem zurückzukehren.
Im Augenblick läßt Lloyd George in seiner Presse verkünden, die Liberalen brauchten sich nicht mit der Politik zu befassen, sondern tönnten zum Derby gehen und die Entwicklung abwarten.
Sozialisten und Regierungsbildung. Erklärung Renaudels angesichts der internationalen Lage
Der sozialistische Abgeordnete Renaudel hat in einer Rede in Nancy angekündigt, daß die franzöfifche fozialistische Partei bereit fei, nunmehr an einer Linksregierung teilzunehmen. Die internationale Lage sei heute wesentlich günstiger. In England sei die Arbeiterpartei in der Regierung, in Deutschland leitet die Sozialdemokratie das Reichskabinett. In diesem Augenblick müßten auch die französischen Sozialisten Bedenken doktrinärer Art fallen lassen, um im Interesse einer Zusammenarbeit mit den Bruderparteien in Deutschland und England im Interesse der Konsolidierung des Friedens auch in Freankreich die Berantwortung in der Regierung zu übernehmen. Er persönlich, betonte Renaudel, werde jedenfalls alles aufbieten, um die französische sozialistische Partei zum Eintritt in ein Linkskabinett zu bewegen, falls das kabinett Poincarés bei der Diskussion über die interalliierten Schulden gestürzt werden sollte.
Die sozialistische Partei des Seine Departements hielt am Montag eine vorbereitende Tagung für den demnächst in Nancy stattfindenden Parteitag ab. Zunächst wurden einige Entschließungen zur Parteidisziplin angenommen. Vor allem sollen fünftig sozialistische Abgeordnete, die éventuell wie Paul Boncour den Borsiz in einer Kommission führen oder wie Renaudel die Berichterstattung für ein Einzelbudget übernehmen werden, nicht mehr berechtigt sein, gegen die Parteiparole zu stimmen oder sich der Stimme zu enthalten. Weiter protestierten die Seine- Sozialisten gegen die Verschleppung der Sozialreform sowie gegen die Wiederaufnahme des früher ausgestoßenen Abgeordneten Varenne.
Politische Familien in England
Unser Bild zeigt lints J. Ramsay Macdonald mit seiner Tochter und seinem Sohn Malcolm, der gleichfalls als Arbeiterfandidat gewählt wurde; rechts den bisherigen tonservativen Premierminister Baldwin mit seinem Sohn Oliver, der sich auch ins Barlament wählen ließ, aber nicht als Ronservativer, sondern als Bertreter der Arbeiterpartei,