1929
Der Abend
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Nr. 268
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46. Jahrgang.
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Kinder ohne Betten.
Die Not der schlesischen Weber.- Nationale Unternehmermethoden.
F. F. Candeshut, 11. Juni.
Bon den 4500 Tertilarbeitern im Landeshuter Bezirk waren vor ber Aussperrung rund 1000 erwerbslos, teils durch Betriebseinschränkungen, teils durch Stillegung von Spinnereien. Die übrigen 3500 arbeiteten fast durchweg mit verfürzter Ar beitszeit. Die meisten 32 Stunden in der Woche, andere sogar nur 24 Stunden! Der Bollarbeiter, den es hier nur in vereinzelten Eremplaren gab, würde im Zeitlohn 24 bis 25 m., im Attord 27 bis 28 M. in der Woche verdienen, die weiblichen Arbeitsträfte 20 bis 22 m. Die Ungelernten stehen mit ihren Löhnen noch 5 Broz unter diesen Säßen, von denen übrigens in jedem Fall noch die Sozialbeiträge abzuziehen sind.
Seit über Jahresfrist fennen die Leinemeber aber die Bollarbeit nicht mehr. In der Kurzarbeit verdienten sie vor der Aussperrung nur 17( Atford 19) M., die Frauen 14( Afford 16) M. Das find Löhne, die eine gesunde Ernährung unmöglich machen; an Neuanschaffungen darf der Leineweber gar nicht denken. Mit einem Monatseintommen von 80 m. fann eine Familie pon vier oder gar sechs Röpfen nicht leben. Das Wohlfahrtsamt
amite deshalb bei tinderreichen Beberfamilien mit einer 3ufab- zeit glänzend ist, so muß boch manches als llebertreibung bezeichnet
werden, was die Unternehmer in die Welt rufen. Vor allem aber find die Fabrikanten selbst nicht frei von Schuld. Sie weigern sich beharrlich, ihre Betriebe zu modernisieren; sie wollen auch nichts davon wissen, ihre Produktion auf einen anderen Artikel umzustellen. So national" die Landeshuter Fabrikherren sich auch immer gebärden, wenn es um ihren Profit geht, ist ihnen Betätigung nationaler Gesinnung höchst wurst. Sie behaupten, die Frauen und Mädchen aus Böhmen hätten ,, traditionelles Fingergefühl und feien für gewisse Spezialarbeiten nicht zu entbehren. In Wirklichkeit werden( 25 Proz. aller weiblichen Arbeitskräfte) die Tegtilarbeiterinnen aus der Tschechoslowakei geholt, weil sie fügsamer und noch bedürfnisloser sind als die Schlesier und sich bei Gelegenheit als Lohnbrüder verwenden Laffen. In Landeshut haben eine Anzahl Fabrikanten ihre Leinen spinnereien stillgelegt und damit die eingesessene Arbeiterschaft brotlos gemacht. Zugleich aber erwarben sie in der Tschecho= slowakei Spinnereien, um dort mit billigeren Löhnen produzieren zu lassen. Ob dabei dem Steuerfistus noch ein Schnippchen geschlagen wird, wäre einer besonderen Untersuchung wert.
Grauenhaftes Kinderelend.
Inzwischen steigt die Not und das Elend unter den Landeshuter Leinewebern. Immer mehr wird Männerarbeit von Frauenarbeit verdrängt. Aber selbst wo der Mann arbeitet, muß die Frau vielfach mitverdienen. Die schädliche Wirkung auf die Entwicklung der Jugend bleibt nicht aus. Die Lungentuberkulose hat einen guten Nährboden in den halbverhungerten Körpern. Die heranwachsende Jugend bleibt in ihrer förperlichen Entwicklung zurück, und die menschenunwürdigen Wohnungsverhältnisse, die man hier bei den Leinewebern antrifft, sind für die Entwicklung der Jugend in jeder Hinsicht gefährlich. Die Ziffern der lezten Erhebung, die in den Schulen des Landeshuter Kreises durchgeführt wurde, sprechen eine furchtbare Sprache. Es wurden 2400 Kinder erfaßt. Dabei wurde unter anderem festgestellt:
Kein eigenes Bett hatten
In Wohnungen aus einem Raum ohne Küche oder Kammer leben
1465
79,1 Prz.
Ohne Frühftüd kamen zur Schule
200
Nicht regelmäßig warmes Mittagessen haben.
119
Nur ein Hemo besitzen
142
nur ein Paar Schuhe haben
1165
Keine wollene Unterwäsche haben
350
Keinen Mantet haben
572
Im vorigen Jahr wurde festgestellt, daß von 6000 untersuchten Schulkindern 3000 unterernährt waren! In den Kindergärten ergab sich:
Schwer rachilisch waren Un Blutarmut litten
•
16 Proz. 32
Dies Kinderelend ist nur eine Folge der menschenunwürdigen 3Zustände, unter denen hier das Proletariat seit langer Zeit leidet. Staatliche Stellen müssen hier zupaden und großzügig ans Werk gehen. Und ein Stück vorwärts wird es auch gehen, wenn es den Gewerkschaften gelingt, das Lohnniveau der Leineweber zu heben.
Das Wohnungselend.
Die Arbeiter wohnen hier im Bezirk zum allergrößten Teil in Wohnungen, die nur einen Raum umfassen. Biele davon sind übervölkert. Man trifft Fälle an, wo zwei Familien in
Textilarbeiter- Wohnung" in Reichenbach 8 Erwachsene und 2 Kinder( 2 Familien) berrohnen einen Raum und eine Bodenkammer von zusammen 20 qm. unterstügung helfend eingreifen. Eine ganze Anzahl der in Landeshut Beschäftigten wohnt auswärts und verliert dadurch noch je nach der Entfernung wöchentlich 2 bis 4,50 m. für die Eisenbahnwochenkarte. Wie die Leineweber trotz allem ihr Leben fristen fönnen, ist in manchen Fällen geradezu rätselhaft. Das Hungern ist hier im Riefengebirge zu einer hohen Kunst entwidelt worden. So schlimm die Verhältnisse auch im benachbarten Walden hurgischen Bergland liegen, mancher Leineweber sieht neid poll hinüber zu den Kumpeln von Waldenburg.
Die Methoden der Unternehmer.
Die Leinenfabrikanten des Landeshuter Bezirks flagen in be megten Worten über die Notlage ihres Industriezweiges. Wenn auch niemand behaupten will, daß die Lage der Leinenindustrie zur
Hafenfreuz- Katzenjammer.
Das Fiasko der nationalsozialistischen Bauernheze.
Den vorübergehenden Erfolgen der Nationalsozialisten in den agrarischen Gebieten des Nordens der Republik ist eine nicht unbeträchtliche Ernüchterung gefolgt. In Anbetracht der kurz auf einanderfolgenden Bombenattentate in Izehoe, Hohenwestedt und Oldenburg eine scheinbar paradore Feststellung, deren Richtigkeit sich indessen leicht nachweisen läßt.
höchstens noch der des sozialdemokratischen Oberpräsidenten. Die Landvollzeitungen rempeln die Deutschnationalen in so derber Weise an, daß die deutschnationalen Blätter nicht mehr mit können. Sie erklären öffentlich, auf jeden weiteren Angriff von nationalsozialistischer Seite nicht mehr zu antworten.
anders
-
"
Aber glauben, daß diese Kraftmeierei Kraft sei, wäre Unfinn. Zu Attentaten, zur Zerstörung behördlicher Gebäude reicht sie ja gerade noch aus. Aber es gibt nur noch menige Bauern, die intellektuell dahinterstehen und das Verbrechen billigen,
Trotzdem es geht zu Ende mit der nationalsozialistischen Herrlichkeit! Unwiderruflich; sie fühlen es selbst. Was jetzt noch geGewiß ist die Sprache der Landvolkblätter nicht sanfter geschieht, find Resultate der Berzweiflung. Sie elender Strolch!" worden. Im Gegenteil: sie überbietet im Schimpfton selbst die schreibt ein Rechtsradikaler an den sozialdemokratischen OberKommunisten. Gewiß hat auch die Agitationstätigkeit der Rechten präsidenten ,,, an Igehoe und Hohenwestedt fehen Sie, daß wir auf nicht nachgelassen. Im vergangenen Monat fanden allein im Westen dem Posten sind, Aber das ist erst der Anfang, es fommt noch ganz Holsteins nicht weniger als 49 nationalsozialistische Ber Für Sie schamloser Lump ist schon der Strid gedreht, fammlungen statt. Aber diese Versammlungen halten feinen der Dolch geschärft und dke Pistole geladen. ufw. Man fennt Bergleich mehr aus mit denen des Winters und zeitigen Frühjahrs. den bolschewistischen Umgangston. Ob er rechts oder links geübt Sie sind der Schwanengesang des Rechtsbolsche wird, er bleibt sich gleich. wismus. Schlechter als schlecht besucht, ohne Debatte; nach dem Referat" gehen die wenigen Bauern still nach Hause. Das entschiedene Vorgehen der republikanischen Behörden ist nicht ohne Wirkung geblieben. Dazu nimmt die angestrengte Arbeit auf dem Felde dem Bauern die Lust zu Revolten, die am Ende ja doch nur seine Situation verschlechtern. Zeitungen fich die erdenklichste Mühe geben, wenigstens den Hitlers goldene Zeit ist vorüber, troßdem seine Agitatoren und Deutsch nationalen so viel als möglich Abbruch zu tun. Die Nationalsozialisten fennen hierzulande nur zwei Gegner: Die Deutschnationalen und die Juden. Wenn morgen der Regen ausbleibt, sind die Juden schuld, und wenn übermorgen die republika nischen Behörden erklären lassen, daß sie gegen die Attentats propaganda mit allen Mitteln einschreiten werden, die Deutsch nationalen. Oberfohren, der einstige Held im Kampfe gegen den Marxismus, ist ein toter Mann. Sein Name ist so verpönt mie
Jeder Revolte folgte der Kazenjammer. Und was jetzt int Izehoe, Hohenwestedt und Oldenburg geschah, sind vergebliche Anstrengungen der Drahtzieher, die tote Bewegung fünftlich neu zu beleben. Selbstverständlich braucht damit die Reihe der agrarischen Bombenattentate durchaus noch nicht abgeschlossen zu sein. Aber ob morgen noch das Finanzamt in Husum oder das Landratsamt in Irstadt in Trümmer geht, an der Tatsache, daß die nationalsozialistische Hochflut im Verschwinden begriffen und ihr Vorhandensein in fürzester Zeit vergessen sein wird, ändert das gar nichts.
Hitlers agrarische Periode in Schleswig- Holstein ist vorbei. und zwar für immer!