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Beilage

Sonnabend, 15. Juni 1929

Der Abend

Shalausgabe des Vorward

Die Aussperrung der 50000

Bei den Tertilarbeitern von Langenbielau .

F. F. Cangenbielau( Eulengebirge), 15. Juni. Bor wenigen Jahren noch ein Dorf mit über 18 000 Einwohnern, zieht sich das heutige Städtchen kilometerlang im Tal der Biele hin. Das Rathaus erinnert noch an den Weberaufstand vor 85 Jahren. Es war damals im Besitz der Brüder Dierig, die die rebellierenden Weber von Peterswaldau und Langenbielau durch ihre Knechte und Kommis mit Knütteln von ihrem Hause megtreiben ließen. Eine andere ihrer Niederlassungen wurde dann am nächsten Tag zerstört. Hier in Langenbielau tam es am 5. Juni 1844 zum Zusammenstoß mit dem Schweid­nizer Militär. Elf hungrige Weber blieben tot liegen und 24 waren schwer verlegt. Das war im Jahre 1844. Und heute nach 85 Jahren stehen die Weber wieder im Kampf gegen die Fabrikherren. Die Dierig A.-G. ist inzwischen der bedeu­tendste schlesische Textilbetrieb geworden, und der Ausbeutungstradition der vierziger Jahre ist man treu geblieben. Aber heute stehen den Fabrikherren nicht mehr willenlose Arbeitssflaven im Kampf gegenüber. Nicht mehr in blinder Zerstörungswut tobt sich die Erbitterung der notgepeitschten Masse aus. Der Gedante gewertschaftlichen 3y= sammenschlusses hat längst Boden gefaßt. Rund 80 Proz. der Arbeiterschaft sind hier am Ort organisiert,

Eine Versammlung der Ausgesperrten.

Bor den Fabriteingängen stehen in Gruppen die Streitposten. Ruhig und eindringlich reden sie den wenigen Wochenlöhnern zu, die zur Aufrecht­erhaltung des Versandes noch beschäftigt werden, Solidarität zu üben. Nirgends tommt es zu Zu­sammenstößen. Die Straßen find heute besonders start belebt. Eine Versammlung der Ausge­sperrten ist angefeßt. In fleinen Trupps fommen die Textilarbeiter, Männer, Frauen und Mädchen, und streben dem Versammlungsraum zu. Der Saalit viel zu tlein, die Tausende zu fassen. Die Versammlung muß im Freien abgehalten werden. Die Stühle überläßt man den Frauen, die Männer stehen dicht gedrängt, Ropf an Kopf. Helle Sonne beleuchtet die schmalen Gefichter, fäfige, bleiche Webergesichter, oft genug mit welter Haut. Tiefe Stille, gespannteste Aufmerksamkeit liegt über der Masse, sobald der Redner zu sprechen beginnt. Die Frauen fizen andächtig lauschend, wie in der Kirche. Nur dann und wann tommt Erregung in die Versammlung, wenn von der Willkür der Fabritherren die Rede ist. Da werden diese sonst so stillen Menschen lebendig. Leidenschaftliche Zurufe gellen auf, die die ganze Erbitterung verraten, von der sie alle hier erfüllt sind. In der Dis­

Die die Fabrikherren wohnen. Villa eines Direktors der Dierig A.-G. in Langenbielau.

erbärmlich wie in Peterswaldau und in Reichenbach. Beim Besuch von Textilarbeiterwohnungen treffe ich traurige Elendsbilder. Sechs, acht, sogar zehn Personen in einem engen Raum! Der Hausrat ist meist, den schlechten Einkommens­verhältnissen entsprechend, denkbar primitiv. Da wohnen Eltern mit vier Kindern im Alter von 10 Monaten bis 8 Jahren in einer kleinen Stube. Zum Schlafen haben sie nur eine Wiege und zwei Betten. Eine andere Familie, Eltern mit 7 Kindern richtet sich so ein: Drei Personen in einem Bett, im anderen zwei;

So wohnen Textilarbeiter.

bei ihrem persönlichen Aufwand nichts merkt. Sie be­haupten, die Löhne seien gegenüber der Vorkriegszeit um weit mehr als 100 Proz. gestiegen! Wenn das wahr ist, wie jämmer lich müssen dann die Löhne 1914 gewesen sein! Das beliebteste Argument der Fabrikherren ist die Behauptung, daß die schlesischen Tertilarbeiter weniger leistungsfähig feien, als die in anderen Bezirken. Die Löhne könnten deshalb nicht erhöht werden, ohne die Konkurrenzfähigkeit zu gefährden. Wenn das zutreffen würde, dann wäre der logische Schluß daraus: mit unterernährten,

2 Familien( 5 Personen) auf 22 qm. Die Decke mußte abgefleift werden, da Einsturzgefahr beftand.

fussion schickt die KPD. ihre Redner vor. Sie verteidigen ihre Geld. sammlungen, ihre Aktionen für und mit den Unorganisierten und stoßen auf stürmischen Widerspruch. Sie sind ein hoffnungsloses, kleines Häuslein und wagen nicht einmal, von ihren Kampfleitungen zu sprechen, die sie in Langenbielau auch nicht zustande bringen fonnten, Ein alter, weißhaariger Weber spricht. Schwer fommen ihm die Worte von den Lippen. Mühjam formt er die Säze. Aber erbittert spricht er von den erbärmlichen Löhnen. Es ist eine Schmach und Schande, daß wir uns mit solchen Bettelpfennigen abspeisen lassen!" Stürmisches Echo findet er in der Versammlung und noch leidenschaftlicher wird die Zu stimmung, als sich der Alte gegen die Aktionen der KPD. wendet. Bir brauchen den Bettelsad nicht zu schwinge n. Damit wird nur der Eindruck erweckt, als habe der Verband nicht die Mittel, den Kampf aus eigener Kraft zu führen!" Immer wieder fommt der fefte Wille zum Ausdruck, fest zusammenzustehen und den schweren, aufgezwungenen Kampf zu einem siegreichen Ende zu führen. Mit einem begeisterten Hoch auf die internationale Textil. arbeiterorganisation schließt die machtvolle, von leidenschaftlichem Rampfgeist erfüllte Versammlung. Langsam entfernen sich die Textil. arbeiter, gehen wieder in ihre grauen Häuser und ihre engen Wohnungen zurüd.

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Bilder des Elends.

Vor der Aussperrung waren hier 4000 Tertilarbeiter be. schäftigt, davon fast drei Viertel in Kurzarbeit. 2000 waren

die beiden jüngsten sind in einer Wiege und einem Korb unter­gebracht. Mit 23 Mark( bei Vollarbeit) muß diese neun­töpfige Familie eine Woche leben. So viele Wohnungen ich auch besuche, immer das gleiche Bild: Eine Stube, zu flein für die vielen Menschen, unzureichende Bettenzahl, oft Lungentuberkulöse mit Gesunden im engen Raum. Und zu alledem die völlig unzureichenden Löhne, die durch Kurzarbeit noch ins Un erträgliche bis auf 18 und 16 Mart in der Woche gesenkt

werden.

Wer die traurigen Wohnungsverhältnisse bei den Textil­arbeitern nicht selbst gesehen hat, möchte taum glauben, daß solch Elend auf die Dauer ertragen werden kann. Die Menschen sind hier oft so eng in einen Raum zusammengepfercht, daß die Ge meindeverwaltung in 164 Fällen feststellen mußte, die Bewohner seien wegen Ueberfüllung der Wohnung, wegen ge= sundheitlicher und fittlicher Gefährdung der Familien dringend anderweitig unterzubringen. Ebenso ist es mit 55 anderen Wohnungen, deren baulicher Berfall ihre Räumung not­wendig macht, und mit weiteren 52 Wohnungen, in denen Tuber= fulöse und Personen mit anderen ansteckenden Leiden die übrigen Mitbewohner gefährden. Aber die notwendigen Wohnungen sind nicht da und können auch nicht von heute auf morgen erstellt werden, zumal die Stadt eine Schuldenlast von 5,3 Mil­lionen hat. Das sind fast 300 Mt. auf den Kopf der Bevölkerung. Hier muß aus Staatsmitteln geholfen werden, denn dieses Zusammenwohnen im engen Raum ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht ist eine wahre Kulturschande, die beseitigt werden muß! Sieht man dann die prächtigen Villen der Fabrit herren und Direttoren, in denen eine einzige Familie über zehn und mehr Zimmer verfügt, dann rechnet man sich unwillkürlich aus, wieviel Weberfamilien hier wohl Play finden könnten.

Hungerlöhne und Kinderelend.

Die Folge der schlimmen Wohnverhältnisse und der entsetz­lichen Hungerlöhne sind Unterernährung und schlechter allge­meiner Gesundheitszustand, vor allem auch starte Ausbreitung der Tuberkulose. Am meisten leiden unter dem Elend die Kinder. Vielen ist ihr Elend ins Gesicht geschrieben. Man braucht nicht erst aus fchulärztlichen Berichten zu erfahren, daß Körperbeschaffenheit und Ernährungszustand unter der Norm liegen und daß sich häufig graziles Knochengerüst und wenig geräumiger Brustforb finden. Nur 40 Proz. der Schulkinder hatten 1928 einen zufrieden stellenden Gesundheits- und Ernährungszustand und 27 Proz. waren blutarm. Auf mein Ersuchen haben die Lehrer von zwei Schulen eine Befragung der Kinder durchgeführt. Hier das Ergebnis:

Zahl der erfaßten Kinder Rein erstes Frühstück. Kein zweites Frühstück

412

88

98

Ohne erstes und zweites Frühstüc Kein Mittagbrot

44

14

Kein Hemd

1

Unzureichendes Schuhwerk

82

Mit noch einer Person im Bett schlafen Mit noch zwei Personen im Bett schlafen.

241

8

Die Not" der Fabrikanten.

Die Unternehmer jammern der Deffentlichkeit und den Be arbeitslos. Die 2öhne sind in Langenbielau ebenso lhörden in allen Tönen ihre Not" vor, von der man allerdings

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is

schlecht bezahlten Arbeitern wird die Konkurrenz­fähigkeit und Arbeitsleistung nicht gehoben. Aber in Wirklichkeit sind ja die schlesischen Textilunter nehmungen deshalb weniger leistungsfähig, meil fie es verabsäumt haben, ihre Betriebe rechtzeitig und umfassend zu modernisieren!

Im übrigen hatten aber die schlesischen Textil betriebe vom Herbst 1926 bis Anfang 1928 eine Hochtonjunttur, wie sie in der Tertil­industrie kaum je erlebt worden mar. Die Arbeiterschaft hat aber von dem daraus fließenden Millionensegen so gut wie nichts gehabt. Die Langenbielauer Firma Meyer Kauffmann Textilwerke A.-G. hatte 1927 einen Betriebsgewinn 1930 000 m.( Reingewinn 600 000 m.), also einen so sfarten Aufschwung, daß vorher­gegangene Berlufte vollständig gedeckt und außerdem noch 7 Proz. Dividende verteilt werden fonnten. Im Jahre 1928 ergab sich ein Befriebs gewinn von 1 600 000 m.( Reingewinn 285 000 m.). Allein in den legten beiden Geschäftsjahren fonnte das Unternehmen rund eine Million für Abschrei­bungen auf seine Anlagen verwenden!

von

Das bedeutendste Unternehmen Dierig A.-G. in Langenbielau hatte in der Konjunkturzeit 1926 bis Anfang 1928 eine noch reichere Ernte. Damals war der Betrieb eine Familien- G. m. b. H. und hat deshalb seine Bilanz nicht veröffentlicht. Sein erster Abschluß als Aktiengesellschaft ist leider noch nicht bekannt, dürfte aber entsprechend dem vierfach größeren Betrieb noch weitaus günsti ger sein, als bei Meyer Kauffmann. dilini In den Geschäftsberichten finden sich immer wieder Klagen der Unternehmer über mangelnde Kauftraft der breiten Käuferschichten. Aber die Herren sträuben sich beharrlich, die Kaufkraft ihrer eigenen Arbeiter durch Lohnerhöhungen zu steigern. Herr Dierig hat sogar behauptet, 90 Proz. der schlesischen Textil­arbeiterschaft wolle überhaupt nichts von den Forderungen der Ge­wertschaften wissen. Das Gegenteil ist richtig. Ich habe im Aus­sperrungsgebiet eine prächtige Kampfstimmung vorge funden, und überall, zuletzt in der Versammlung in Langenbielau, den überzeugenden Eindruck gewonnen, daß die Arbeiter. schaft geschlossen hinter den Gewerkschaften steht. Recht interessant ist aber, wie mir zuverlässig berichtet wird, daß der Aussperrungsbeschluß der Unternehmer nur mit einer Mehrheit

Streikposten

vor dem Betrieb der Dierig A.-G. in Langenbielau .

von zwei Stimmen zuffande fam. Die Hälfte der Unternehmer, die gegen die Aussperrung war, hat also mit ihrer Abstimmung zum Ausdruck gebracht, daß eine Lohnerhöhung sehr wohl zu tragen wäre.

Autoreifen als Schuhe.

neue Ver­

Für abgenutzte Autoreifen hat man jetzt eine wendungsmöglichkeit gefunden. Man fabriziert Sandalen aus Pneus. Diese moderne Methode scheint vor allem in Griechenland ihre Freunde gefunden zu haben. Ein Fabrikant bringt die fo­genannte ,, Pneu- Sandale" in den Handel. Diese originelle Schuh­bekleidung soll nur den dritten Teil des Preises einer Ledersandale fosten, und viermal so lange halten als die bisher übliche. Die Menge der gebrauchten Autoreifen Griechenlands genügt schon nicht mehr den Anforderungen der neuen Industrie, so daß Material ein geführt werden muß. In Frontreich allein wurden in der jüngsten Beit 500 000 gebrauchte Autoreifen von griechischen Industriellen aufgekauft.

Das Biermännerbuch", aus dem die Sundgaugeschichten von Dstar Wöhrle entnommen sind, ist jetzt im Verlag" Der Bücher­freis" erschienen. Außer Wöhrle find Barthel, Jung und Scharrer die Autoren dieses Buches. Kurt Heusers Er zählung Sterben auf einer Pflanzung" beginnt am Dienstag.