Beilage
Dienstag 18. Juni 1929
A
In Ermiderung früherer Besuche des Berliner Oberbürgermeisters in der Hauptstadt der Republik Deutschösterreichs meilt eine Abordnung der Gemeindeverwaltung Biens in unseren Mauern. Mit dem Bürgermeister Karl Seiz an der Spize find sozialdemotratische und chriftlichsoziale Stadt- und Gemeinderäte aus der zweitgrößten deutschen Gemeinde Gäste der Reichshauptstadt. Die Teilnahme von Vertretern der Opposition an dieser Reise ist be merkenswert. Man fennt auch hier die große Schärfe des Partei: gegensatzes in Deutschösterreich; die Teilnahme der Oppositionsper. treter zeigt den Wandel der Dinge. Als die Chriftlichsozialen noch Bien beherrschten, bis zum limfturz, bestand in Wien ein Gee meindemahlrecht, das die Opposition bedeutungslos machte, obgleich die Parlamentswahl längst ihre Stärfe offenbart hatte. Die Chrift. lichsozialen regierten fontrollos.„ Sozialdemokraten und Deutsch nationale stelle ich nicht an!" hatte der christlichsoziale Bürgermeister Dr. Kart Lueger verkündet, und danach wurde gehandelt. Einer der ersten sozialdemokratischen Volksschullehrer, die wegen ihrer Gefinnung strafweise entlassen wurden, war Karl Seig. Ein zweiter gemaßregelter Lehrer, Otto Glödel, ist heute Präsident. des Wiener Stadtschulrates und gilt in der pädagogischen Welt als einer der erfolgreichsten Reformer, der das Wiener Schulwesen zum eifrig besuchten und vielgelobten Studienobjekt gemacht hat. Die Sozialdemokraten haben unter gerechtem Wahlrecht fast die 3 weidrittelmehrheit im Gemeinderat, aber sie lassen die christlich foziale Oppofition an allen Körperschaften und an allen Arbeiten der Gemeindeverwaltung teilnehmen, denn sie haben nichts zu Derbergen.
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Der Abend
Shalausgabe des Vorwärts
einer der Hauptmitarbeiter an der vorbildlichen Organisationsarbeit| Das Schlimmste aber die Gewißheit, daß dieser verfümmerte Staat, unserer Bruderpartei; Stadtrat Karl Richter , dem wichtige auf sich allein gestellt, überhaupt nicht leben kann. Smeige der Stadtverwaltung unterstehen, ist einer der Hauptorganis satoren des Arbeiterbezirks Ottakring, und so haben alle jozial
Bürgermeister Harl Selts
Das Werk der Wiener Sozialdemokratie. Da sprangen die Sozialdemokraten in die Bresche. Gestüßt auf die einige Masse der Arbeiter und Angestellten, denen die Parteispaltung erspart geblieben ist, und mit einer gewissen Kühnheit, die im österreichischen Bolfscharakter ei Ausgleich für die geringere Entwidlung der unablässigen und an haltenden Zähigkeit ist, nehmen sie das große Werk in Angriff. Die äußerst niedrigen Wohnungsmieten, durch die Inflation tief herabe gebrüdt, ermöglichen die Erhebung einer progreffiven Wohnbau fteuer, ohne darum die Mieten für das verarmte Bolt unet schwinglich zu machen. Aus der Wohnbausteuer baut die Gemeinde Bolkswohnstätten mit Zentralwaschküchen, Kindergärten, Vortrags fälen. Sie schafft den Erdarbeitern, Maurern, Zimmerern, Malern, Töpfern, Schlossern, Installateuren, Dachdeckern, Glajern Arbeit. Sie gibt der Industrie und dem Gewerbe Beschäftigung, fie hält die Arbeitslosigkeit dauernd unter der Höhe, die sie außerhalb Wiens annimmt. Die vorher schwer vernachlässigte Fürsorge für die Volksgesundheit und für die Kinder wird gewaltig ausgebaut. Die Kinderübernahmestelle der Stadt Wien für Kinder, die in Gemeindepflege übernommen werden müssen, hat die Bewunderung der Aerzte und Fürsorger aller Bänder gefunden. Neue Parts, Planschbecken und Kinderfreibäder, riesige Sportpläge erstehen. Die: feit 1916 megen Kohlenmangels stillgelegte Stadtbahn wird von der Gemeinde übernommen und elektrisch betrieben. Jede in Wien Säuglingsausstattung. Genofsinnen bringen das Batet ,, mit einem schönen Gruß vom Herrn Bürgermeister".
Die Gemeinde fördert die Exportindustrie durch die städtische Ausfallgarantie für Rußlandlieferungen.
30 000 Wohnungen hat das rote Bien gebaut, 6000 tommen jährlich dazu. Inzwischen ist Wien auch kreditwürdig geworden.
Berlin begrüßt die gesamte Wiener Abordnung ohne Unter demokratischen Mitglieder der Abordnung ihre großen Berdienste heimatberechtigte Frau, die ein Kind zur Welt bringt, erhält eine schied der Parteirichtung mit der gleichen Herzlichkeit. 3m Bewußt- um die Partei. fein des deutschen Boltes diesseits und jenseits von Passau find die beiden deutschen Republiken längst eine. Ein gewaltiger Strom reichsdeutscher Besucher flutet alljährlich nach Deutschösterreich. Durch die Breffe, durch Vorträge, durch den Rundfunt, auch aus den Berichten über die fortschreitende Angleichung des Rechts und der Berwaltung weiß man heute in Deutschland viel mehr von Wien als noch vor zehn Jahren. Alle die bürgerlichen und, proletarischen Organisationen, die an Rongreffen und Festen in Wien teilgenommen haben, wissen die Herzlichkeit ihrer Aufnahme nicht genug zu rühmen. In den Zeiten der Inflation haben österreichische Kinder in Deutschland , nachher reichsdeutsche Kinder in Desterreich innige
Stadtrat Anton Weber
Gastfreundschaft gefunden. Die Gemeinsamkeit ist Boltsbewußtsein geworden. Nicht als Fremde, nicht als Ausländer, als Freunde begrüßt die Bevölkerung Berlins die Wiener Gäste.
Bir aber, mir Berliner Sozialdemokraten, heißen die führenden Wiener Genossen erst recht willkommen. Karl Seiß ist der Vorfizende der Sozialdemokratie Deutschösterreichs. Bon seinen Reisegefährten ist der Wohnungsstadtrat Anton Weber der frühere Zentralparteisekretär Biens; Dr. Robert Danne berg , der Präsident des Wiener Landtages, Steuer- und Mieterschutzreferent der Nationalratsfraktion, ist seit über zwanzig Jahren
Alt- Desterreich.
Die Budweiser Zeitung" veröffentlicht Auszüge aus alten Regimentskommandobefehlen:
1. Am 14. April d. 3. nachmittags 4 Uhr findet die Einweihung des neuen Soldatenfriedhofs statt. Die Leiche hierzu stellt das zweite Bataillon.
2. Derjenige, der auf dem Pionierübungsplaß diejenige Tafel, auf der gestanden hat: Hier darf nichts ins Wasser geworfen werden!" ins Wasser geworfen hat, soll sich freiwillig melden, weil er erkannt wurde.
3. Befördert wird der Einjährig- Freiwillige Mediner auf Staatsfosten Josef Taussig zum Einjährig Freiwilligen Mediziner auf Staatskosten Titulargefreiten.
4. Zum sonntäglichen Kirchengong versammelt sich the Mannfchaft vor der Kirche hinter der Kirche, nach der Kirche vor der Rirdye
5. Oberleutnant Freiherr v. Sazenhofen gestattet fd, dem Offiziertorps seine Bermählung ergebenst anzuzeigen.
6. Morgen 9 Uhr vormittags findet ber Austausch der
Bettwäsche ftatt..
7. Der Offiziersdiener Jafob 2ause der des Herrn Hauptmanns. Pammer wird fofort abgelöst, weil er die Köchin des Herrn Hauptmanns getitelt und auf die Frage Wo?" wiffentlich die Unwahrheit gesagt hat.
8. Bestraft, wird der Korporal Oestermayer der dreizehnten Kompagnie mit fünf Tagen Einzelarrest, weil er die Stimme feines Bataillonstommandanten nachahmte und wie ein Days brüllte.
Ein Wort über die öfterreichische Gemeindeverfaffung mag hier angebracht sein. Der Bürgermeister und die Stadträte werden aus der Mitte des Gemeinderates gewählt, müssen vorher selbst vom Bolk in den Gemeinderat gewählt sein, und ihr Amt endet mit der Wahlperiode. Sie gehören auch als Bürgermeister oder Stadtrat dem Gemeinderat an, sind also gewissermaßen parla mentarische Minister. Der aus Beamten bestehende Magistrat işt der Verwaltungsapparat, der dem Bürgermeister und den Stadträten untersteht. Wer nicht im Gemeinderat ist, fann nicht Stadtrat oder Bürgermeister werden. Diese Gemeindeverfassung ist nicht etwa erst in der Republik geschaffen worden, sie besteht in ganz Altösterreich schon seit 50 Jahren. Mag sie nach der Meiming reichsdeutscher Kommunalfachleute den Nachteil haben, daß mit jeder Gemeindewahl der Gemeindefurs geändert werden kann, so zeigt fie die Männer an der Spike der Gemeinde doch in vielen gerer Verbindung mit der Wählerschaft als die norddeutsche Städteverfassung.
Die Republik hat Wien zum Bundes I and gemacht, den Gemeinderat zum Landtag, den Bürgermeister zum Landes= hauptmann. Er ist dadurch dem Bundespolizeipräsidenten übergeordnet.
Die lieben Gäste sind nun die Führer jener ,, Rathausmarristen". gegen die eine wüste Heze nicht etwa mur in der Wiener Oppo sitionspresse, sondern auch in zahlreichen reichs deutschen und ausländischen Blättern getrieben wird. Von den positiven Leistungen der roten Gemeinde liest man da, natürlich nichts, desto mehr Lügen über Terror, Mißbräuche und dergleichen mehr. Dabei kontrolliert ein eigenes unabhängiges lleberwachungsamt in Wien die gesamte Berwaltung auf das strengste! Das Werf der ,, Rathausmargiften" aber liegt flar vor jedes Besuchers Auge.
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1918/19 fürchterlicher Zusammenbruch, ungeheure lleber völkerung, Wiens schon während des Krieges und nun erst recht, mo die Nachfolgeftaaten die deutschen Beamten mit ihren Familien verjagen. Schmerste Krise, düsterste Zukunft für die Stadt, die Zentrale eines Wirtschaftsgebietes von 50 Millionen Menschen war und nun die Hauptstadt eines Landes von 6,5 Millionen ist, dabei felbft 1,8 Millionen Menschen umfaßt! Die Wiener Industrie ab geschnitten von ihren Rohstoff und Absatzgebieten, das Geld entmertet! Mit hohen Zollmauern sperren sich die Nachbarstaaten ab, ungeheure Arbeitslosigkeit fällt dem bettelarmen Lande zur Last.
9. Der Einjährig- Freiwillige Titularforporal Moritz Hedyt bat so lange Rajernenarrest, bis er das rechtzeitige Nachhausegehen gelernt hat.
10. Nachdem sich herausgestellt hat, daß der Wallach Bri. mus" eine Stute ist, heißt er von morgen an ,, Katilina".
11. Bestraft wird der Infanterist Wenzel Asmeier der zweiten Kompagnie, weil er den Tod seiner Tante als den seiner Mutter ausgob, denselben zwei Jahre zurückverlegte und dadurch vier Lage Urlaub hercusschund.
12. Bestraft wird der Gefreite Georg Rotgerber derselben Kompagnie, weil er aufreizende Lieder jang, wozu ich, auch das Lied rechne: So lange der Bauch in die Weste past, wird feine Arbeit angefaßt."
13. Der Vortrag des Herrn Stabsarztes Dr. Cifen fimmel über das Thema: Wie bleibe ich immer gefund?" muß wegen Erfrantung des Herrn Stabsarztes abgesagt werden.
In einem Militärspital ging noch alles streng militärisch zu. Der: Ranonier hatte strengen Befehl, im Bette liegen zu bleiben. Aber da kam seine Braut zu Besuch, und als sie fortging, ist Seidi aufgeftunden, hat sie hinausbegleitet und auf der Stiege von ihr Abschied genommen. Das hat aber der Herr Stabsarzt gefehen. Am nächsten Tag ist schon im Befehlsbuch gestanden: Bestraft wird der Kanonier Seidl mit einem strengen Berweis, weil er mit einem Frauenzimmer auf der Stiege ſtehend statt im Bette liegend
angetroffen wurde."
Solche Regimentsbefehle fönnen jetzt in Budweis nicht mehr vorkommen, denn feit zehn Jahren ist ja die Militärsprache tschechisch!
Berlin und Wien tönnen voneinander lernen und tun es auch seit Jahren durch gegenseitige Besuche von Referenten, Aus schüssen und Betriebsräten. Manche Einrichtung wird in einer Stadt von vier Millionen größer sein als in einer von 1,8 millionen, aber manche fann wohl in der fleinen Großstadt besser sein als
in der anderen. Darüber merden Boß und Seit schon einig
merden.
Was uns speziell angeht, so missen wir im Namen der Million sozialdemokratischer Wähler Groß- Berlins zu sprechen, wenn mir die Wiener Genossen um die so viel größere Einigkeit der österreichischen Arbeiter, um ihre berühmte Organisation und um all das beneiden, was die Sozialdemokratie schaffen kann, menn die Arbeiterschaft gefchloffen hinter ihr steht. Das Beispiel des roten Wien sollte den arbeitenden Massen aller Länder zu denken r. bn. geben.
Ein Erzieher vom alten Schlage.
Auf das merkwürdige Tagebuch eines schwäbischen Behrers, das im Allgemeinen Anzeiger der Deutschen von 1820 veröffentlicht wurde, wird in Reclams Universum hingewiesen. Dieser Pädagoge hatte alle die Arten und Ziffern der Schulstrafen, die er in einer fünfzigjährigen Lehrtätigkeit verabreicht hatte, sorgfältig auf gezeichnet. Die Aufstellung gewährt einen Einblick in frühere Formen der Erziehung, die Schauder ermeden. Da werden folgende Zahlen angeführt: Stopfnüffe 1115 800, Handschmisse. 176 716, Alapfe und Snipje 20 989, Maulschellen 10 235, Dhrfeigen 790, Stockschläge 1572, Rutenhiebe mit der Hafelgerte 124 010, fräftige Mahnungen 22 763; unter diesen fräftigen Mahnungen oder ,, Notabenes", wie er sie nennt, sind Klapse mit Bibel, Gesangbuch oder Katechismus zu verstehen, die damals noch ziemlich schmere Bücher waren. Die Rute folange mit erhobenen Armen hochhalten zu laffen, bis hände und Kniee zitterten, hielt er 1707 mal für an gebracht. In 777 Fällen mußten ungezogene Jungens auf Erbsen und in 636 Fällen auf der scharfen Kante eines Holzstüdes thien. Die Strafe, auf dem Esel zu reiten und zum Gespött der Mitschüler zu dienen, wurde von ihm 5001mal verhängt. Alles in allem bat ber fleißige Bädagoge 1 480 983 Strafen ausgeteilt, aber mies viel Bildungsstoff er den Kindern auf diese Weise übermittelt und welchen veredelnden Einfluß er auf ihren Charakter ausgeübt hat, darüber schweigt die Buchführung dieses Schultyrannen, der vor 100 Jahren wohl noch nicht zu den Seltenheiten gehörte. Abteilungtür Sozialrecht an der Kölner Universität.
Am Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften in Köln ist die Abteilung für Sozialrecht( als dritte Abteilung) begründet worden zu ihrem Direktor wurde Professor Dr. Th. Brauer, der zuletzt an der Technischen Hochschule in Karlsruhe gewirtt hat, ernann