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Beilage

Mittwoch, 19. Juni 1929

Der Abend

Shalausgabe des Vorwärts

Die schwere schwere Stunde

Unterzeichnung im Spiegelsaal

Wir entnehmen nachstehende Schilderung, die aufgerufen, die mit uns im Kriege gestanden hatten.( Nur China   hatte Grund einer längeren Unterredung mit Reichskanzler Ge­am Vormittag erklärt, daß es die Unterzeichnung wegen der Ent­noffen Hermann Müller   geschrieben wurde, dem scheidung über das Schantung- Gebiet ablehnen würde.) Zunächst Buch: Viktor Schiff: So war es in Versailles  ..."( Ver: Amerika   mit Wilson, Lansing, House, White und Blyß, dann die lag J. H. W. Diez Nachf. Vertreter Englands Lloyd George  , Bonar Lam, Balfour   usw. sowie der britischen   Dominien, dann die Franzosen Bichon, Tardieu, Kloz, Jules Cambon  -, die Italiener, die Belgier Clemenceau  , usw. Nach der Unterzeichnung

Nach wenigen Stunden Schlaf mußte ich am Vormittag des 28. Juni eine Fülle von diplomatischen Angelegenheiten, meist Formalitäten, zusammen mit den Herren von Haniel   und Lersner erledigen. Die Vollmachten wurden übergeben und bald danach als in Ordnung befunden zurückgebracht. Man bat Dr. Bell und mich um die Ueberlassung unserer Privatsiegel, um den Unterzeichnungs­aft ain Nachmittag zu erleichern. Jeder Vertrag trägt nämlich nach der internationalen diplomatischen Tradition neben den Unter­schriften auch das persönliche Siegel des Unterzeichners. In diesem Falle, so vermutete ich, wollte man sich durch die vorherige Be­forgung des Siegels gegen irgendwelche befürchteten Ueberraschun­gen der letzten Minute schützen.

Bald nach dem Mittagessen mußten wir uns auf den schweren Sung orbereiten. Das diplomatische Zeremoniell sicht für solche feierliche Gelegenheiten besondere Kleidungsvorschriften vor: Gehrod und Zylinder. Wir mußten uns also zunächst noch umkleiden. Nan war es soweit.

Gegen 2.45 Uhr erschienen, wie vereinbart, vier Oberste der alliierten Armeen im Hotel des Réservoirs: ein Amerikaner, ein Engländer, ein Franzose und ein Italiener. Sie sollten unsere mili­tärische Ehreneskorte bis zum Spiegelsaal bilden. Zwei Autos warteten vor der Tür. Da das Hotel ohnedies fast unmittelbar an Den rechten Flügel des Schlosses anschließt, betrug der Weg bis zum Schloßeingang höchstens 300 Meter. Die umliegenden Straßen waren hermetisch abgesperrt. Nach wenigen Sekunden Fahrt waren wir furz nach 3 Uhr im Schloffe. Man führte uns zunächst in den Saal Nattier des Schloßmuseums, geschmückt mit den Bildern dieses französischen   Malers aus dem 17. Jahrhundert. Dort legten wir Hüte und Mäantel ab. Dann ging es hinauf zum Spiegelsaal. Be­vor wir ihn betraten, immer von den vier Obersten begleitet, mußten wir einen Vorraum passieren, in dem das geladene Publikum ver­sammelt war. Es waren hauptsächlich Frauen, und zwar die Gattinnen von Marschällen, Generalen, Staatsinännern und Barla­mentariern. In dem Augenblick, wo wir diesen Vorraum betraten, entstand unter diesen Zuschauerinnen eine lebhafte Bewegung. Sie standen auf, die von den hinteren Reihen stiegen sogar auf ihre Stühle, und wir fahen, wie uns diese zum Teil ebenso reifen wie geschminkten Damen der Gesellschaft" durch ihre Lorgnetten musterten. Diese furze und unwürdige Szene rief lebhaften Un­willen bei einem großen Teil der Anwesenden hervor. Das An­standsgefühl der Mehrheit bäumte fich instinktiv gegen diese Taft­

Joſigteit auf. Es entſtand ſofort eine ſtarte Unruhe in ganzen

Saale  . Energische, ja wütende Protestrufe wurden laut: Assis! Assis!" Segen! Sezzen!" Zögernd folgten die Frauen diesen Rufen. Inzwischen waren wir in den eigentlichen Saal ge­langt, der Chef des Protokolls, William Martin, der uns im Nattier: Saal empfangen hatte, geleitete uns zu unseren Plätzen.

Im Spiegelsaal

Alle alliierten Vertreter waren bereits anwesend. Wir saßen an einer Ecke des Saales, zu unserer Rechten die Delegierten Japans  , zu unserer Linken die Delegierten Uruguays  . Kaum hatten wir uns niedergesetzt, da erhob sich in der Mitte der Quertafel Cle­menceau und erklärte in einer ganz kurzen Ansprache fast nur for­meller Art die Sigung für eröffnet. Nur der Schlußsaz betonte, daß die bevorstehenden Unterschriften die unwiderrufliche Ver­pflichtung darstellen, alle festgesetzten Bedingungen in ihrer Gesamt heit zu erfüllen" offenbar eine nochmalige Unterstreichung der Ablehnung unserer ursprünglichen Vorbehalte. Unter diesen Um­ständen habe ich die Ehre, die deutschen   Bevollmächtigten einzuladen, ihre Unterschriften auf dem mir vorliegenden Vertrage geben zu wollen." Er begleitete diesen Satz mit einer Handbewegung, die auf den kleinen Tisch hinwies, wo die Dokumente zur Unterschrift bereit lagen. Die Handbewegung demonstrierte deutlich die Be­friedigung des Regierungschefs Frankreichs   über die deutsche  Niederlage.

Ich verzichtete auf die Uebersetzung dieser Ansprache. Dr. Bell und ich standen auf und schritten durch den Saal. In diesem Augen­blick herrschte eine feierliche Stille und wir fühlten, daß tausend Blicke auf uns gerichtet waren. Am Tisch angelangt, zog ich meinen Füllfederhalter und unterschrieb, neben meinem bereits ganz am Ende des Blattes angebrachten Siegelabbrud. Es waren drei Unter­schriften zu leisten: zum eigentlichen Friedensvertrag, zum Rhein­landabkommen und zu einem Zusatzprotokoll. Nach mir Dr. Bell. Zurück zu unseren Blägen. Es war vorüber. Wie die Zeitungen berichteten war die Unterzeichnung durch die Bertreter des be­siegten Deutschlands   genau um 3 Uhr 12 Minuten vollzogen worden.

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Sehr bald hatte die feierliche Stille einer allgemeinen Un­ruhe Platz gemacht. Diese Unruhe steigerte sich bis zum Birrwarr, als einige der Delegierten auf den Gedanken kamen. Unterschriften als persönliche Andenken zu sammeln. Auf jedem Delegiertenplatz lag eine wirklich fünstlerisch gestaltete Druckzeichnung, und auf diesen Blättern wurden die Unterschriften gesammelt, allerdings nur unter den Alliierten. Anscheinend trauten sich die meisten nicht, sich an uns zu wenden. Wir beobachteten diese Szene. Schließlich tam ein Delegierter auf mich zu. Es war der Vertreter Boliviens  , Ismail Montes, und er bat mich und Dr. Bell um unsere Unterschriften. Wir entsprachen natürlich anstandslos feinem Wunsch. Durch diesen Erfolg offenbar ermuntert, wandten sich jetzt auch die zwei Bertreter Kanadas  , Doherty und Sifton, an uns mit der gleichen Bitte. Weiter kam allerdings keiner mehr. Der Unterzeichnungsaft mar unterdessen sowieso zu Ende. Er hatte taum 50 Minuten gedauert. Clemenceau   stellte fest, daß alle Unterschriften vollzogen seien und bat die Delegierten der alliierten Staaten, noch im Saale zu bleiben, bis sich die Deutschen  , die von der Militärkommission in ihr Hotel zurückgeleitet würden, entfernt hätten. Wir standen auf, die vier Obersten nahmen uns an der Schwelle des Saales wieder in Empfang.

Als wir den Schloßeingang erreichten, durchbrachen plößlich die Preffephotographen die Sperre und fnipften uns in einer Tour, während wir unser Auto bestiegen. Unter den mit der Absperrung beauftragten Offizieren entstand große Aufregung, teils weil man einen neuen Zwischenfall befürchtete, teils weil auch die Zuschauer­menge durch die durchbrochene Sperre zu laufen begann und ein allgemeines Durcheinander drohte. Inzwischen fuhren wir bereits nach dem Hotel des Réservoirs ab. Dort verabschiedeten sich mit militärischem Gruß die vier Obersten und wir begaben uns in unsere Zimmer.

Jetzt löste sich die Spannung in ganz eigenartiger Beise. Ich hatte mich seit 1% Stunden außerordentlich in der Gewalt. Bon dem Augenblick an, wo mich die Obersten in Empfang genommen hatten, bis zu dem, wo sie sich verabschiedeten, vor allem aber in

Danzig  

Das Gesicht einer Stadt

Steht man auf dem Bischofsberg, einem ehemaligen Fort der alten Festung, wo sich stilvolle Promenaden mit Sportplägen und Familienetablissements jetzt nach der Niederlegung der Be festigungen hinziehen, dann sieht man die Silhouette einer mittel­alterlichen Stadt. Gotische Türme spießen in den Himmel, und man glaubt, daß heute noch in den engen, winkligen Gassen fetten­geschmückte Ratsherren ihre Würde spazieren führen, vor der Hand­werker oder ähnliche Plebejer tief den Hut ziehen.

Ein Rothenburg  , Eschenbach oder Gosler ins Monumentale getrieben, ein Hort der Romantik und befriedeter, deutscher   Buzzen­scheibenlyrik. Und als die ruhige, schöne mittelalterliche Stadt fur­fiert Danzig   in Reiseführern und in den Herzensergießungen der Lyriker und Erzähler. Da steht ein altes Kanzelhaus, da träumt ein berühmtes Memlingbild über seine durchsonnte Vergangenheit, und die prächtigen Beischläge der Barockhäuser sehen so ratsherrlich aus, als ob sie niemals gehört hätten: Wie ist der Funk gekommen?" Ich bin nur Geld für Dollar" und andere unsterbliche, finanz­

technische Sätze.

Es ist so billig, vor Denkmälern der Vergangenheit romantisch zu werden, sie nur sentimental zu betrachten, und wenn der Be­

sucher gebildet genug ist, um zu wissen, daß der Freiherr 3oppot, dicht bei Danzig  , sein schönes Lied von dem Mühlenrad in dem tiefen Grunde dichtete, dann ist es ganz aus, dann ver= wechselt er jeden harmlosen Buchhalter mit einem Admiral der glor­reichen Hansa. Aber war denn diese Vergangenheit so idyllisch? Wer glaubt im Ernst, daß Seefahrer vom Format eines Paul Benecke  , den englische und dänische Könige fürchteten, in feinen Musestunden Rosenkränze betete oder sich mit Heldendichtungen amüsierte? Wer glaubt, daß ein Patriziat, durch Handel und rüd­sichtslose Kaperfriege reich geworden, kleinbürgerliche Idylle be= trieb, ein Patriziat, das die Herrschaft des Drdens unterminierte und den polnischen Königen nur erlaubte, sich in Danzig   mit allerlei edlen Alkoholien feiern zu lassen und mehr nicht. Eine Stadt, die bis zur Einbeziehung in das preußische Königreich immer ihre Selbständigkeit behauptete, war fein Ort beschaulicher Stille.

Ein anderes Bild. Der Dampfer fährt in die Danziger Bucht  . Bor den Passagieren liegt Zoppot  , das Ostseebad, mit seinen Parks. seinen Billen, seinen großartigen Kurhaus und Kafino anlagen, der stärkste Gegensatz zu der viel besungenen, mittelalter­

symbolische Bedeutung gewinnen in bezug auf die geistige Ein­stellung, auf die ganze Lebenshaltung der Bewohner.

Mit dem Füllfederhalter verhält sich die Sache so: schon in Weimar   war mir bekannt geworden, daß nach Berichten franzö­sischer Blätter beabsichtigt war, die Unterschriften mit einem be­sonderen Federhalter vollziehen zu lassen, den die elsaß  - lpthrin­gischen Verbände Frankreichs   und der französischen   Kolonien ge­ftiftet hätten Schon damals war ich entschlossen, dieser uns bewußt zugedaájten Demütigung vorzubeugen, indem ich mit meiner Füll feder unterschreiben würde. Dr. Bell besaß feine. Aber um sich zu sichern, nahm er aus dem Hotel einen gewöhnlichen 5- Pfennig­Federhaiter mit, den er in Zeitungspapier rollte und in seine Gehrlichen Silhouette. Entgegengesetzte Pole der Architektur, die faſt rocktasche steckte. Er zog ihn erst heraus, als wir aufgerufen wur­den, und damit unterzeichnete er Ob die Ankündigung der fran­ zösischen   Blätter den Tatsachen entsprach, weiß ich nicht. Jedenfalls lagen vor jedem Delegierten ein Federhalter und ein Tintenfaß, so daß wir auch ohne die elsässisch- lothringischen Verbände versorgt gewesen wären. Meine Füllfedergeschichte wurde in den Berichten der Presse der ganzen Welt sorgsam registriert und vielfach fom­mentiert. Ein Pariser Blatt brachte eine an sich recht mäßige fari­taturistische Zeichnung, die aber mit einer zwar boshaften, aber wirklich wizigen Erflärung versehen war: Das letzte Manöver der Boches Hermann Müller   unterzeichnet mit Geheimtinte"( ,, encre invisible"... Auf den Gedanken war ich allerdings nicht ge=

fommen...

Indessen hatte der Unterzeichnungsaft seinen Fortgang ge­nommen. In rascher Reihenfolge wurden die 26 Staaten auf

Danzig   wurde, als es dem preußischen Staat eingefügt war, eine ruhige Handelsstadt, verwurzelt in alter Tradition und Kultur, eine Stadt von bügerlich- liberaler Lebensform, nicht besonders hohenzollernwütig, auch nicht besonders bürgerstolz und Kompro­missen nicht abgeneigt. Ueber der Stadt lag der Hauch eines Dorn röschenschlafes, die Ahnung einer Stagnation. Das Leben lief in den eingefahrenen Geleisen ohne erschütternde Auf­regungen weiter. Auf die Herrenzeit folgte das Biedermeier. Und dann tam der Versailler Vertrag. Danzig  , zur selbständigen Stadt erklärt, von einem fremden Staat umflammert, mußte auf der Hut sein, mußte seine Selbständigkeit behaupten nicht mehr mit der Waffe wie zur Ordenszeit, sondern durch mehr oder minder mit der Waffe wie zur Ordenszeit, sondern durch mehr oder minder diplomatische Verhandlungen in Genf   und in Warschau  . Ein deutsch­

der Stunde, in der ich den tausend Blicken im Spiegelsaal aus­gesetzt war, hatte ich eine Maske der rein geschäftsmäßigen Korrekt­heit angenommen. Nichts in meiner Haltung, in meinem Gang, in meinem Blick, in meinen Bewegungen sollte zu irgendwelchen Deutungen Anlaß geben. Ich wollte den tiefen Schmerz des deut­ schen   Bolkes, das ich in diesem tragischen Augenblick vertreten mußte, nicht den gierigen Blicken unserer bisherigen Feinde preis­geben. Das war mir nicht mur äußerlich gelungen int Temps" und in anderen Blättern wurde ausdrücklich betont, daß es unmöglich gewesen wäre, irgend etwas aus unseren Blicken und Bewegungen herauszulesen sondern ich hatte es bei der Durch führung dieses Vorsatzes sogar so weit gebracht, alle inneren diese Haltung kostete, das sollte ich erst merfen, als ich wieder allein Regungen zu unterdrücken. Welche ungeheure Nervenanspannung mar. In derselben Sekunde, in der ich in meinem Zimmer Hut und Gehrock ablegte, um mich umzukleiden, strömte der Schweiß aus allen Boren in einer Weise, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Das war eben die physische Reaktion, die dieser unerhörten

psychischen Belastungsprobe unmittelbar folgte. Und nun erst fühlte ich. daß ich die schwerste Stunde meines Lebens hinter mir hatte.

Rückkehr

Bald danach erschien der französische   Oberst Henry und über­brachte mir die Note Clemenceaus, in der die Aufhebung der Blockade für den Tag angekündigt wurde, an dem Deutschland   den Vertrag ratifiziert haben würde.

Bon französischer Seite wurde uns dann nahegelegt, noch die folgende Nacht in Versailles   zu verbringen und erst am nächsten Morgen heimzufahren. Begründet wurde diese Anregung mit dem starten Zuftrom von Fremden in Versailles  , deren Heimbeförderung große Schwierigkeiten bereite. Ich bat iedoch dringend, noch am gleichen Abend heimzufahren. Ich war zwar sehr müde, aber ich wollte so schnell wie möglich fort von Versailles  . Diesem Wunsche wurde sofort entsprochen. Wenige Stunden später erfolgte die Ab­fahrt vom Bahnhof Noisy- le- Roi  . Ich hatte allen deutschen   Presse vertretern anheimgestellt, im gleichen Sonderzuge. heimzureifen, und alle waren dieser Einladung gefolgt. Auch der Gesandte von Haniel  , dem ich am Nachmittag den durch den Rücktritt Langwerths von Simmern freigewordenen Staatssekretärposten angeboten hatte und der schließlich das Angebot annahm, reiste mit uns zurück.

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In der Dämmerung setzte sich der Zug in Bewegung. Als es dunkel wurde, sahen wir in den Dörfern die ersten Raketen und Feuerwerkskörper, mit denen dieser Tag für Deutschland   ein Tag tiefster Trauer, für die siegreichen Länder ein Tag der Freude gefeiert wurde. gefeiert wurde. Plößlich praffelten gegen die Fenster meines Wagens Steinschläge. Die französischen   und englischen Offiziere stürzten aufgeregt in den Salonwagen herein, sie wollten die Not­bremse ziehen und den Zug anhalten lassen, um die Täter feft­zustellen. Ich beruhigte fie und bat sie, davon abzulaffen. Wegen des Streiches irgendwelcher dummer Jungen sollte nicht gleich wieder ein diplomatischer Zwischenaft entstehen.

nationaler Senat tat sein Bestes, um verheißungsvolle Keime der Berständigung zu ersticken, und die sozialdemokratische Regierung, die jetzt Danzig   hat, versucht erfolgreich die Geleise wieder frei zu machen.

Aus einem Oberbürgermeister wurde ein Staatsmann, Deutsche  verwandeln sich in Danziger Staatsangehörige. Man fühlt sich ver­einsamt in der Diaspora und entdeckt in sich nationalistische Herzens­wünsche, die man bis dahin nicht kannte. Die beschauliche Ruhe ist jedenfalls dahin, das Gesicht Danzigs   zuckt nervös, und diese Zuckungen wurden immer stärker, je weiter die Inflation fortschritt, denn Danzig   steht plötzlich im Mittelpunkt des Todes­reigens, den die polnische und deutsche   Mark in schöner Harmonie aufführen. Es gibt hier keine Devisensperrgesetze wie in Berlin  oder in Warschau  . Jede Baluta kann frei gehandelt werden und außerdem in jeder Höhe, und nun verändert sich das Bild der Stadt täglich. Kleine Zigarrengeschäfte werden Wechselstube. Polnische und deutsche Banken kaufen Häuser auf und etablieren sich für die Ewigkeit, eine Industrie gründet sich. Im Spielflub, vorher unmoralisch, und nachdem sich der Staat mit 60 Prozent an der Einnahme beteiligt hat, unantastbares Heiligtum, werden die nach­börslichen Dollarkurse festgesetzt Der Dollar ist das Zeichen, in dem alles siegt, und man singt: Ach, wenn er doch immer so bliebe!" Was ist davon übriggeblieben?

An den Schnittpunkten großer Straßen, auf bedeutenderen Plätzen, stehen Verkehrsschupos mit ernsten Gefichtern und regeln

den Verkehr. d. h. der Verkehr regelt eher ihre Bewegungen, die übrigens ebenso eraft verlaufen wie die eines Berliner   Verkehrs­dirigenten. Dasselbe Bild wie in jeder deutschen   Mittelstadt  : das Auto zeigt an, wohin es fahren will, und der Schupo ebnet ihm väterlich die Wege. Die Galerie schöner Inflationswagen ist ver­schwunden. Stolze Banffirmen haben sich wieder in Zigarren­geschäfte, Cafés oder Papierwarenhandlungen zurückverwandelt. Aufgestockte Gebäude der Dresdener Bank und der Discontogefell­schaft warten darauf, daß in ihren überflüssigen Räumen sich das beliebte rege Leben entwickeln möchte. Ein phantastischer Traum ist durch die Einführung der Guldenwährung zerstört worden. Aber verschiedene Erinnerungen sind geblieben.

Der Gulden fam zu spät. Als er im Herbst 1924 feierlich pro­klamiert wurde, hatte die Inflation die Vermögen guter Steuer­zahler bereits restlos aufgefressen. Jetzt muß der Staat zur Strafe Unterstügungen zahlen, von denen niemand leben kann, und die Steuerfraft der Bevölkerung zeigt keine gefchwellten Muskeln. Eine Scheinblüte in der Inflation eröffnete die Aussicht auf eine leise rosig angetuschte Zukunft, die jedoch immer mehr von Wetter­wolfen verdunkelt wird. Danzig   war eine Handelsstadt, und dem Handel fehlt jetzt das Hinterland und damit der Lebens­nerv, und selbst der Transiiverfehr scheint bedroht durch den pol­nischen Hafenbau in Gedingen. Vieles wäre vielleicht besser ge= worden, wenn ein demokratisch- sozialistischer Senat in der Regie­rung geblieben und nicht von engstirnigen Nationalisten bald nach der Etablierung des Freistaats abgelöst worden wäre.

Die Erinnerung an eine große Vergangenheit, die kulturelle Busammengehörigkeit mit Deutschland  , die Aussichten, die die In­flation eröffnete, die Isolierung und die Gefahr einer allmählichen Bolonisierung bestimmen die Atmosphäre dieser schönen, under­geßlichen Stadt und schaffen eine Nervosität, die bis zum Kriege in Danzig   unbekannt war. Man will einen ideellen Zu sammenhang mit dem Mutterland, man will hier auf exponiertem Bosten seine Eigenart behaupten. Deshalb die Danzig  - Ausstellungen im Reich, deshalb die vielen deutschen   Kongresse und deshalb auch die diesjährige Boltsbühnentagung in Danzig  . Felix Scherret,