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Jlr. 337* 46. Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Sonntag, 21. Juli 1929

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Man nehme einen kleinen Jungen, den Schlüsiel zum Trockenboden, einen Korb mit Wäsche, den Klammerbeutel und die Wäscheleine, und gehe auf den Bode n. Nur zaghast wird der kleine Junge den Boden betreten, das unheimliche Halbdunkel macht aus jedem alten Bettgestell, jedem verrosteten Waschständer ein drohendes Gespenst. Die seltsame Atmosphäre des Dach- geschosses steigert nur noch die Spannung, dieser Geruch von dörrenden Balken, moderndem Kalk und trockenem Staub. Dazu schaukeln bedenklich die altersschwachen, splittrigen Dielen. Am liebsten möchte der kleine Junge umkehren. Aber er kommt nicht los von einer grauen, blinden Glasscheibe, die eine Eisen- schiene als Schwanz hat. Er wittert irgendein Geheimnis jenseits dieser Scheibe, etwas, wo man ganz nahe den Bögeln sein kann, turmhoch über alle Menschen. Die Bodenluke wird geöffnet. Ein Freudenschrei grüßt den dicken Sonnenstrahl, der im Nu olle Staubkörnchen tanzen läßt, und endlich kommt der beglückende Moment, wo sich das Kind durch die Luke zwängt und sich dann nicht mehr satt sehen kann. Was kümmert es in diesem Augenblick der beschmiert« Anzug? Gedämpft dringt der Straßenlärm hinauf. Das Brummen des bremsenden Straßenbahnwagens ist kaum zu hören, am lautesten ist noch ein Bierwagen, der über das schwere Kopfpflaster rumpelt. Ein sechsrädriger Autobus sieht wie eine Streichholzschachtel aus. In einer Nebenstraße huscht eine winzige Frau vor einem winzigen Auto über den Damm. So weit der Blick reicht, liegt vor dem Kinde ausgebreitet sein erträumter Puppenst.aai. Ueber glühendheißen Dachziegeln zittert die Luft. Selbst die Schornsteine scheinen müde geworden zu sein: wie wahllos hingestellt« Kisten stehen sie schwerfällig auf den Dächern herum. Drüben hat man tausend Waben eines riesigen Bienenkorbes aufgestellt, aber es ist kein Bienenkorb, nur ein G e st e l l für L i ch t r e'k l a m e. Nebenan gurrt und gluckst es.Warum lassen Sie die Tauben denn nicht raus?" ,�)ach, dann hätte ich die Tauben das letztemal gehabt. Ich habe doch nur sechs, aber der da drüben hat so seine vierzig Stück. Wenn ich nur die Klappe aufmache, dann sind meine bei dem großen Schwärm da drüben. Ich kann doch nicht jeden Abend auf ander Leute Dächer herumkrauchen und mir meine Tauben wieder zusammensuchen.' Im nächsten Satz erfahren wir. daß der Mann, der die vierzig Taubenda drüben' hat, alt ist. Schmidt heißt, in einer Mühle arbeitet, na ja, und um das Futter für seine Tauben sich kein« grauen Haare wachsen lasten braucht. Wir haben schließlich vom alten Schmidt das Bild eines ganz großen Knickstiebels, der offensichtlich niemandem etwas zuleide getan hat,

aber die vierzig Tauben, das ist zu viel. In seiner Straße rangiert er ungefähr in der Kategorie der Vorbestraften. Schmidts Tauben amüsieren sich. Dick aufgeplustert sitzen sie an der Dachrinne und denken weder ans Säen nach ans Ernten. Wozu arbeitet der alte Schmidt auch in der Mühle. Aus Langeweile schubsen sie sich. Zwei unternehmen eine Kletterpartie zum Dachfirst, ein dicker Kröpser balanciert den Giebelrand entlang. Er muß in dem Taubenschlag etwas zu sagen . haben, die einfachen Tauben gehen ihm auch sichtlich aus dem Wege. Besondere Funktionen scheinen diese nicht zu haben, es sei denn, das systematisch« Weißfärben der einen Dachecke. Vielleicht treibt der alt« Schmidt auch einen schwunghasten Handel mit Taubenmist. Nebenan sorgt sich ein Radiobastler. Ja, misten Sie, wenn e» mir wie meinem Nachbar nur aus Berlin und Königswu st erhausen ankäme, dann genügt natürlich der Anschluß an die Gas- und Wasterleiwng. Zur Not hört man auch noch Daventry oder Wien . Aber man will doch auch die anderen Sender mal hören, und da habe ich eben meine Hochantenne. Gewiß muh so ein Ding gebaut sein, nach allen Regeln der Kunst sogar, sehen Sie sich doch nur das Gestrüpp ringsum an. Kein Mensch braucht das mehr, seitdem die Detektor- apparate überholt sind. Damals spannte sich ja noch jeder seine fünfzig Meter Draht hier oben aus. Jetzt beherrschen das Feld,' der

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Mann meinte natürlich die Dächer,nur noch die Bastler- k a n o n e n.' Wir dachten bei uns, wenn es dem Mann nur nicht so geht wie dem alten Schmidt, aber es ist ja auch dafür gesorgt, daß die Hochantennen nicht in den Himmel wachsen. Denn im nächsten Radiogeschäst prangt ein Reklameschild:Einwandsreier Fernempfang mit 3 Meter Draht.' Bald werden die Dächer ihre Ruhe wiederhaben. Bei den �Gutsituierten". Das sind dieProletarier' unter den Dächern. Auf der Dächern der, sagen wir mal,gutsituierten Häuser' wird es dafür um so lebendiger. Denn Dachgärten sind heute die große Mode. Grandios, was ein Warenhaus im Süden der Stadt, viertausend Quadratmeter groß und zweiunddreißig Meter über der Straße dort oben hinsetzen ließ. Ueberspannt vom strahlenden Sonnenhimmel, dessen Blau unserem Auge wie Silber erscheint, geziert mit leuchtenden Blumenbeeten, die sich zwischen Felsgestein zu kleinen Hügeln türmen und umrahmt von dem erdrückenden Häusermeer der Weltstadt. Wer achtet zum Beispiel unten in der Hetze des Alltags auf die darbenden Bäume längs des Straßendammes, von hier oben ge- sehen werden Straßen, wo noch Bäum« stehen, zu Alleen eines Märchenlandes. Rolltreppen und Fahrstühle wetteifern, ganze Karawanen in den sechsten Stock zu schaffen. Wer zum ersten- mal oben ist, achtet nicht auf Musikkapellen und Kaffee- t a s s e n, als wäre die Bastion ein Magnet, so zieht sie jeden an. Und Proletarierfrauen mit sorgendurchfurchten Gesichtern stehen neben zufriedenen Bllrgerfrauen und beginnen zu raten, was wohl die Reichstags- und was wohl die Domkuppel ist. Als ob die Menschen aufleben, sobald man sie aufs Dach setzt! Der Dachtgarten eines anderen Warenhauses am Dönhoffplatz steht den A n g e- stellten des Hauses zur Verfügung. Es ist übrigens kein aus- gesprochener Dachgarten, wenn er auch im siebenten Stock ist. Es ist mehr ein« groß« Freifläche mit vielen Liegestühlen, um die natürlich jeden Tag ein erbitterter Kampf entbrennt, wenn die Verkäuferinnen Tischzeit haben. Auch hier ein unersättlicher Hunger nach Luft und Sonne. Bei den, Aristokraten". Im Westen sind dieAristokraten' unter den Dachgärten, mondäne Oasen, errichtet auf Hotel- oder Caföhauspalästen. Lautlos gleitet der Lift zum Dach, besten Zementboden schwere Teppiche verkleiden. Die Wände sind mit Kupferplatten ausgelegt, über einem dunkelblauen Glasbassin spielt eine Fontäne, gelbe und rote Blumen in silbernen Vasen zieren die schneeweiß gedeckten Tische, weich und grau sind die Polstersessel. Nicht einmal die natürliche Schönheit des Himmels kann man hier gebrauchen, man hat sich einen eigenen gemacht aus blauem Glas, mit großen und kleinen Sternen drauf. Abends tanzt man in Diner-Dreß und tief- ausgeschnittenen Kleidern nach einer schmeichelnden Zigeunermusik. Das Häusermeer interessiert nicht sonderlich. Was ist das schon, geschwärzte Ziegel in diesiger Luft, oder der Mann vielleichr dort hinten, der sich jetzt das Hemd auszieht, weil er es beim Teeren des Daches vor Hitze nicht mehr aushalten kann...

von A.M.FreY-

Copyright 1929 by Qastav Kiepenheuer Verlag A.-a, Berlin

Die drei essen von richtigen Tellern, mögen sie auch nur mit einer alten Zeitung abgewischt worden sein; sie trinken etwas dazu, das Apfelwein sein soll, einen Cidre, und der Schaffner kommt in Laune, während er so dasitzt, Rock offen, Hose entriegelt, als wäre er bei Weib und Kind. Er holt sein griffestes Messer aus der Tasche und stochert behaglich die Reste des Esiens aus den Zähnen zusammen. Er sagt unter einem Rülpser, den er gut erzogen mit den Fingern zudeckt:Hurenhäuser soll's ja hier in Masse geben.' Warum? Willst du hin?' grinst der Gefreite.Ich darf euch aber heute nicht mehr aus dem Haus lassen." Da wissen sie mit einem Schlag wieder, daß keine Minute ihres Lebens ihnen gehört. Reisende, abgestiegen in einer Art von kleinem Hotel? Keine Spur! Gefangene des Krieges ehe sie noch der Gegner gefangen hätte. Ist es da gemessen an der Freiheit, nach der man sich sehnt nicht eigentlich gleichgültig, von welcher Seite man gefangen- gehalten wird? Der das denkt, ist Funk. Aber der Schaffner Holzer sagt: ..Zu den Huren? Ich will weiß Gott nicht zu ihnen, mein Lieber. Ich frag nur, weil ich davon gehört Hab und weil ich's nicht Hab glauben wollen, weil's eine Schand' ist. Mächst am End' du hin, Stöger?' Der kleine Bader schüttelt erschrocken den Kopf. Seine Blicke klagen.Ich Hab ein treues Weib und neun herzige Kinder,' sagt er in einem Ton, als lese er den Satz ab aus der Romanfortsetzung seiner Zeitung in Altötting . Die anderen lachen. Der Schaffner schlägt ihm auf die Schulter:Neun Kinder? Kamerad, da hast du das deine geleistet. Den schäbigen Rest brauchst du nicht bei den Weibern in Lille zu verplempern.' Aber von Rest will der Bader nichts hören.Ein zehntes

ist unterwegs," erklärt er mit demütigem Stolz.Und ich weiß nicht, ob es das letzte sein wird. Unserem Herrgott ist ein schönes Eheleben wohlgefällig.' Sie lachen noch mehr über ihn. Der Gefreite sagt: Stimmt schon nicht das mit dem Herrgott mein ich: das mit den Weibern . Es gibt Häuser für Offiziere und Häuser für Mannschaften. An guten Tagen stehen sie vor den Türen an, wie unsere Frauen daheim vor den Geschäften, wenn's was Rares zu kaufen gibt. Was willst du auch machen hier, damit du nicht verreckst vor Langerweile? Ein Späßchen muß der Mensch haben, und ausräumen muß er von Zeit zu Zeit auch einmal." Ich glaub, die ganz vorn sind," sagte der Schaffner an- griffslustig,die brauchen nicht viel ausräumen, weil nicht viel in sie hineingeräumt wird. Aber ihr hier hinten, ihr freßt immer noch gut und reichlich, und ihr schlaft bequem. Das gibt böse Träume.' Du kannst dich ja vor die Haustür auf die Steinplatten legen," höhnt der Gefreite. Das tu ich nicht. Aber mein Gerstl verläppern, das tu ich auch nicht." Er wird großartig, er übersieht den Gefreiten, er wendet sich an die zwei Schicksalsgenossen:Jetzt, wo wir einmal da sind, wollen wir unsere ganze Kraft dem Bater- lande weihen, was Kameraden?" Der Bader stimmt zaghaft zu, Funk sagt gar nichts, aber der Gefreite dreht ärgerlich die fliegenverdreckte elektrische Birne aus der Leitung und befiehlt ins Dunkel hinein: Jetzt müßt ihr schlafen gehen. Morgen früh um sieben muß ich euch abliefern." Madame hatte sich gleich zurückgezogen, nachdem sie mit Einkassieren fertig war. Sie tappen an einer Kammer vorbei, aus der fettige Schnarchtöne quellen. Sie sind wieder oben in ihrem Zimmerchen und liegen bald auf den Gestellen, die Betten sein sollen. Sie wanken und ächzen schwachbeinig und ausgeleiert umher wie Schiff- chen im Sturm. Das meine geht auf und ab wie eine Wiege," meckert der Schaffner.Du wirst alleweil mehr zum Deppen bei dem Betrieb, Hab ich's nicht immer gejagt. Jetzt legen's dich gar in eine Hutschen, wie einen Säugling. Mein Lieber, wenn s' bei die Huren drüben auch solchene Betten haben, nacha dersst dich aber festklammern am Weib, sonst fliegst aus'm Sattel." Niemand antwortet.

Der Bader hat einen Rosenkranz zwischen den gefalteten Händen. Betet er oder schläft er schon? Funk liegt lange wach. Er hört Geräusche aus Neben- Häusern, Gesang, Gepolter. Er hört den Tritt einer Wache auf dem Pflaster. Er hört einen Hund heulen, erst nah und kurz, dann immer ferner und zunehmend kläglich. Ein Zug pfeift, Bahnwagen rollen, erst verschlafen, dann hastiger, dann prallen Puffer in einem unbeschwingten Klang grell aufein- ander. Es folgt ein Stöhnen, als hatten sich die Wagen der Räder verrenkt. Vielleicht bereitet sich der Zug, der uns hergebracht hat. darauf vor, wieder heimzufahren. Die Wursthäute, die Zigarettenschachteln, um unsere vermehrt, fahren nach Hause. Wir nicht. Wir für lange nicht. Ach was, welch ein Optimis- mus, sagen wir doch gleich: vielleicht nie mehr. Er horcht neuerdings. Nun ist die Stadt still. Er hört nichts mehr. Doch er hört: mit versteckter Gewalt den nächtlichen Himmel weich erschüttert vom Geschützdonner. Er hört es in den Schlaf hinein, zu jeder Minute des unerquicklichen Schlummers, als die große, den ganzen Raum erfüllende Drohung, die nicht mehr weichen soll. Er träumt, aber eigentlich ist es kein Traum, denn es ist ja kein Schlaf, daß der Himmel selber feuert, und daß Gott ein Artillerist geworden ist. 4. Sie sitzen wieder einmal in der Bahn, aber in einer Feld- bahn. Es geht sehr provisorisch zu mit den Weichen und den Schwellen und dem kreischenden, wildgeschüttelten Wagen- Material, das in einer lächerlichen Hast, ohne recht von der Stelle zu kommen, dahinzottelt. Es ist vom Gegner über- nommenes ausgeleiertes Zeug ältester Sorte. Die Franzosen haben dir ein Gelump im Berkehr!" mißbilligt der Schaffner.Das wenn wir daheim unfern letzten Bauern zum Umeinanderkutschieren anbieten wollten, die würden uns selber damit in die Hölle schicken." Kann sein, daß nun wir darin zur Hölle fahren, denkt Funk. Also nicht nur Sanitätskompaanie, sondern zur Infanterie! Denn mittlerweile ist offenbar geworden, wohin sie trans- portiert werden. Die Liller Kommandantur hat ihnen neue Ausweise gegeben, darauf steht, daß sie einer selbständigen bayerischen Reservedivision angehören und innerhalb dieses Verbandes einem Infanterieregiment.(Forts, folgt.)