Nr. 575* 46. Jahrgang
8. Beilage des Vorwärts
Sonntag, 44. August 4S2S
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Reichsverfaffung und Wirffchastsdemokratie.
Politisch« Demokratie gewährleistet ihrer Idee nach vollkommene Gleichberechtigung aller Bürger. Jeher Volksgenosse hat genau gleiche politisch« Rechte. Herr Krupp von Bohlen ist genau so mit einer Stimme an der Bildung der Organ« der Staatsgewalt beteiligt, wie der am schlechtesten Bezahlt« seiner Arbeiter, und Fürst und Altgras zu Solm-Reifserscheidt-Krautheim und Dyck g«> nau so wie ein Landarbeiter au» seinem Gut oder der kleinste Pächter. Diese grundsätzliche, durch die demokratische Verfassung gewährleistet« politisch« Gleichberechtigung bedeutet aber keines» falls, doh alle Bürger auch tatsächlich den gleichen Anteil an der politischen Macht haben und daß sie in gleichem Matz« frei ssnd. Es handelt sich gar nicht um die sogenannt«..natürliche"' lln- gleichheit wegen der Verschiedenheit der persönlichen Eigenschasten, insbesondere wegen der Unterschiede der Begabungen. Fast in jedem Betrieb« kann man mehrere Arbeiter finden, die mindesten» nicht weniger begabt sind als ihre Unternehmer. Die tatsächliche Ungleich- heit und auch die in der Demokratie vorhanden« Unfreiheit lehr vieler politisch freier und gleichberechtigter Bürger entsteht infolge der wirtschaftlichen Struktur der kapitalistischen Gesellschaft und kann nur durch ein« grundlegende Aenderung dieser Struktur überwunden werden. Dies ist der große Gedanke des Sozialismus, den man als den wirtschaftsdemotratischen G«- danken des Sozialismus bezeichnen darf, da es sich dabei um die Ergänzung und Vollendung der Demokratie durch den demo- krotischen Aufbau de» wirtschaftlichen System» handelt. Gewiß noch kein Gozialismuö. In Deutschland besteht seit zehn Iahren«ine demokratisch« Reichsverfasiung. Nach dem Gesagten vorsteht es sich von selbst, daß man diese Verfassung verschieden beurteilen wird, je nachdem man sie ausschließlich unter dem Gesichtswinkel der politischen Demokratie betrachtet oder aber auch nach ihrer wirtschaftsdemo» kratischen Bedeutung prüft. Für dies« letzte Betrachtung kommen vor allem IS Artikel(Art. 1S1 bis IKS) des fünften Abschnittes des zweiten Hauptteiles der Verfassung in Frage, d. h. des Abschnittes, der dem Wirtschaftsleben gewidmet ist. Professor Anschütz sagt in seinem Kommentar zur Reichsverfasfung von diesem Ab» schnitt, daß„kein Teil der Verfassung... so ausgeprägt sozia» l i st i s ch« Züge wie dieser" zeig«.„Wenn irgendwo, sagt er weiter,„so mußte es sich hier zeigen, wie weit der Einfluß der sozialistischen Gedanken im neuen Deutschland reicht Und e» läßt sich nicht leugnen, daß dieser Einfluß sehr weit reicht. Vieles von dem. was in diesem Abschnitt steht, ist rein sozialistisch gedacht." Gewiß ist auch dieser Abschnitt nicht ein Teil einer sozialisti» schen Verfassung, und„vieles von dem. was in diesem Abschnitt steht", steht vorläufig nur auf dem Papier. Der Abschnitt ist keinesfalls Ausdruck einer einheitlichen und konsequenten sozia» listrschen Auffassung. Einheitlichkeit und Konsequenz fehlen ihm überhaupt am stärksten. Fast in jedem Satz sind d'« Spuren eine» Kompromisses sichtbar. Fast keine Formulierung ist völlig ein» deutig. Die„sozialistischen Züge" und die Zugeständnisse an die überlieferte bürgerlich-kapitalisttsche Wirtschaftsausfassung stehen nebeneinander ohne organische Verbindung, die ja auch unmöglich wäre. Dieses Kompromiß ist in der Zeit entstanden, als die Ueber» zeugung. daß die kapitalistische Wirtschaft nicht in ihrer früheren reinen Form bestehen kann, sehr weit verbreitet war. und als sich auch viele bürgerliche Polittker und Wirtschaftler zum Grundsatz der Sozialisierung bekannten. In dem am 16. November 1318(1318!) erschienenen Ausruf zur Gründung der Demokratischen Partei hieß es:„Die Zett erfordert eine neue soziale und wirtschaftlich« Polttik. Sie er» fordert, für monopolistisch entwickelte Wirtschaftsgebiete die Idee der Sozialisierung aufzunehmen..." Weiter wurde gesagt, daß„die internationale Durchführung eines sozialisti» schen Mindestprogrammes" notwendig sei. Es ist nicht uninter- essant, hier einig« Unterschriften anzuführen: Bernhard Dernburg , Bergrat Georg Gothein und D r. Hjalmar Schacht . Bank» d i r e k t o r. Vieles ist seitdem ganz anders geworden! Eine Kritik des 5. Abschnittes, die dessen Kompromißcharakter. Widersprüche und den rein deklarativen Ekarakter mancher Be- stimmungen(„Eigentum verpflichtet") aufzeigt, ist lehr leicht und in gewissem Sinne völlig berechtigt. Eine solch« Kritik läßt aber noch kein abschließendes Urteil über die Bedeutung dieses Teiles der Reichsverfassung zu. Man muß vielmehr sogar die Frag« auf- werfen, ob nicht in diesen„Mängeln" der große Vorzug der Der- sassung besteht? Logisch einwandsrei aufgebaut, hätte der Abschnitt über das Wirtschaftsleben entweder zu einer konsequenten sozio. listischen Verfassung werden können, und dann wäre er der Ent- Wicklung angesichts der Machtverhältnisse vorausgeeilt. Oder aber
Von Georg Decker . man hätte«in geschlossene» System von Normen schaffen müssen. E» ist schon ein« Tatsache von nicht geringer Bedeutung, daß die Reichsoerfassung in sich kein« Hindernisse für die sozialistisch« Gesetz» gebung enthält. Auf Grund der Verfassung kann das Reich durch ein einfaches Gesetz„für die Vergesellschaftung ge» eignet« privat« wirtschaftliche Unternehmungen in Gemeineigentum überführen. Es kann sich selbst, die Länder oder die Gemeinden, an der Verwaltung wirtschaftlicher Unternehmungen und Verbände beteiligen oder sich daran in anderer Weis« einen bestimmenden Einfluß sichern"(Art. 1S6). Die Weimarer Verfassung hat den Weg der Sozialisierung vorgezeichnet: sind die Sozialisierungsversuche gescheitert, so lag das weniger an den Mängeln der Verfassung, sondern es geschah wegen der vor- handenen machtpolitischen Verhältnisse und in ge- wissem Sinne trotz der Verfassung. Ein« sozialistisch« Mehrheit im Reichstag wird immer von den entsprechenden Bestimmungen der Verfassung Gebrauch machen können. Es ist schon ein g«waltiger Fortschritt, daß die Weimarer Verfassung , in einer Uedergangszeit entstanden,«ine Verfassung für die Bedürfnisse der Neber« gangszeit ist, aber lein Instrument für die Erhaltung der tapitaUstifchen Ordnung. Der Wert diese» Teil« der Bersassung liegt aber nicht nur im Negativen, nicht bloß darin, daß er tein« speziellen Bestimmungen zum Schutz de» Kapitalismus und keine Hemmungen für die Durch» führung der Sozialifierung enthält. Er enthält auch einig« Be» stimmungen von großem positiven Wert, nämlich einige Ansätze der wirtschaftsdemokratischen Entwicklung, die auch eine un> mittelbar« und kein« geringe praktische Bedeutung haben. So ist für die soziale Versicherung der Grundsatz der„maßgebender Mitwirkung der Versicherten"(Ar, tikel 161) jetzt verfassungsmäßig festgelegt. Wenn im Art. 163 dos Recht auf Arbeft proklamiert wird(„jedem Deutschen soll die Mög» lichteit gegeben werden, durch wirtschaftlich« Arbeit seinen Unter» hall zu erwerben"), so ist da» leider nicht mehr als ein« von vielen schönen Deklarationen: es ist ab«? nicht unwichtig, daß im gleichen Artikel die Arbeiislosenfürforge zur Pflicht des Staate» gemacht wird:«foweft ihm(d. h. jedem Deutschen ) angemessene Arbeitsgelegenheft nicht nachgewiesen werden kann, wird für seinen notwendigen Unterhall gesorgt". In diesem Falle haben wir ein Beispiel dafür, wie die deklarativ« Anerkennung eines sozialistischen Grundsatzes zwar keinesfalls fein« Derwirtlichung bedeutet, aber dennoch sehr wichtig« jozialpolftische Folgen haben kann. Bon besonderer Bedeutung für die wirtschaftsdemokratische Ent» Wicklung sind zwei Grundfätz«, die in der Verfassung festgelegt sind, und zwar der eine, der Grundsatz der Parität im Art. 165, als eine obligatorische Norm, und der ander«, der Grundsatz der Wirtschaft- lichen Selbstverwallung im Art. 156, nur als Anerkennung eines bestimmten Rechtes, nicht aber als Festlegung der Pflicht des Staates. Der Grundsatz der Parität, der auch das Mitbestimmungs - recht der Arbeitnehmer begründet, ist in folgendem Satz formuliert: „Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberech» t i g t in Gemeinschaft mft den Unternehmern an der Regelung der Lohn, und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirt- schaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken". Von diesem Grundsatz werden Im gleichen Artikel erstens die Arbeiterräte und zweiten» die Wirtschaftsräteorganisationen ab- geleitet. Au» den Gründen, auf die wir hier nicht eingehen können, sind von der ersten von Kiefen Organisationen nur ihre unterste (Betriebsräte) und von der zweiten ihre oberste(Reichs- wirtfchaftsrat) Stufe verwirklicht worden.*) Der Grundsatz der Parität ist kein sozialistisches Prinzip, da er das Bestehen der kapita» listijchen Wirtschaftsordnung mit ihrer Klassenschichtung zur Vor- aussetzung hat. Die in der kapitalistischen Wirtschaft gegenüber» stehenden sozialen Gruppen werden nach diesem Grundsatz als gleich- berechtigt auf den Gebieten der Sozial- und Wirtschaftspolitik an- erkannt. Di« sozialistisch« Wirtschaft wird dagegen nicht das Pro- blem der Mitbestimmung der Ausgebeuteten, sondern das Problem
*) Sehr treffende Bemerkungen über den Ausbau der Organi- sationen der Arbeiterrät« findet man im gedankenreichen Aufsatz von E. Frenkel„Kollektive Demokratie" im Auguschest der„Gesellschaft".
Das Werk müssen wir selbst vollbringen!
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der Zusammenarbeit der gleichberechtigten Träger verschiedener Funktionen in der Gemeinwirtschaft zu lösen haben. Jedoch ist der Grundsatz der Parlkäl eine wichtige Etappe der wirtschaftsdemokratischen Entwicklung als eine wesentliche Ein- fchränkung der Despotie der Unternehmer— durch die Betriebsräte im Betriebe, durch die paritätisch zusammengesetzten Organe aus den breiteren Gebieten der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Man darf diese Etappe mit der konstitutionellen Monarchie, als einer Uebergangsform vom Absolutismus zur polittschen Demokratie, ver- gleichen. Seine praktische Bedeutung gewinnt dieser Artikel der Verfassung namentlich durch die in ihm ausgesprochene Anerkennung der Organisationen. („Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt.") Auf Grund des Art. 165 habe» die Gewerkschaften da» Recht, bei der Entscheidung aller sozial, und wirtschastspolitischen Fragen, an allen offiziellen Stellen, wo die Vertreter der Unter- nehmer herangezogen werden, in gleicher Stärke vertreten zu sein. Die Wirtschast wird im Staat nicht mehr durch die Unternehmer allein repräsentiert, sondern durch die Unternehmer und Arbeit- nehmer. Wenn z. B. von den Vertretern der Industrie und des Handels die Rede ist, so müssen e, die Vertreter de? Unternehmer und der Arbeitnehmer sein. An dieses in der Verfassung festgelegte Recht de? Gewerkschaften muß immer ermnert werden. Der Grundsatz der wirtschafklichen Selbstverwaltung perbindet den Grundsatz der Parität und Mftvestimmung mit dem demokratischen Aufbau einzelner Zweige der Wirtfchaft. Im Art. 156 heißt es:„Das Reich kann... zum Zwecke der Gemein- Wirtschaft durch Gesetz wirtschajtttch« Unternehmungen und ver- bände auf der Grundlage der Selbstverwaltung zusammenschließen mit dem Ziel, die Mitwirkung aller schaffenden Volksteile zu sichern, Arbeitnehmer und Arbeitgeber an der Ber - Wallung zu beteiligen und Erzeugung, Herstellung, Verteilung, Verwendung, Preisgestaltung sowie Ein» und Ausfuhr der Wirt- schaftsgüter nach gemeinwirtschaftlichen Grundsätzen zu regeln." Wenn durch Betriebsräte, obwohl noch kein« Bet-riebsdemokratie, aber wenigstens eine Art der„konstitutionellen Fabrik" geschaffen wird, so kann auf dem im Art. 156 gezeichneten Wege eine„kon- stitutionell« Industrie"(oder überhaupt ein„konstitutionelles Ge- werbe") geschaffen werden. Gleichzeittg würde aber der Aufbau der Wirtschast dadurch demokratisiert werden, daß sich die Organe der wirtschaftlichen Selbstverwaltung durch die organisatorische Unter- ordnung unter den demokratischen Staat zu Organen der Gemeinwirtschost gestalten sollen. Gegen die Anwendung des Begriffes„Selbst- Verwaltung" in diesein Zusammenhange werden nun Bedenken gellend gemacht: es wird nämlich der Befürchtung Ausdruck ge- geben, daß die Unabhängigkeit der Gewerkschaften eingeschränkt werden kann, wenn solche Organe als Selbswerwaltungsorgane be- trachtet werden. Als Grund für die Möglichkeit dieser Einschränkung wird angegeben, daß die Selbstverwaltungsorgane notwendigerweise der Staatsaufsicht unterliegen müssen, die sich auch auf die Organi- sationen als Träger der wirtschaftlichen Selbstverwaltung erstrecken würde. Dieser Einwand beruht aber auf einem Jrrrum. Die Selbst- Verwaltung setzt zwar die Staatsaufsicht über die Organe, ober keinesfalls über die Organisationen, denen Vertreter dies« Organe bilden, voraus. Die kommunale Verwaltung unterliegt der Staats- kontrolle, dicht ober die Parteien, deren Fraktionen in Stadt- Parlamenten die kommunalen Verwaltungen wählen, auch nicht diese Fraktionen. Die Sclbswerwalwng besteht vielmehr eben darin, daß die Verwaltungsorgans durch die unabhängigen Körperschaften ge- wählt werden. Es ist selbstverständlich, daß die Organe der wirt- schaftlichen Selbstverwaltung unter der Staatsaufsicht stehen müssen: daraus darf ebensowenig die Notwendigkeit der Staatskontrolle der Verbände abgeleitet werden, wie aus der Staatsaussicht über die kommunalen Verwaltungen Staatskontrolle der politischen Parteien. Wir besitzen zurzeit zwei wirtschaftliche Selbstverrvaltungskörper, nämlich Reichskohlenrat und Reichskalirot, so daß der in der Der- sassung festgelegte Grundsatz der wirtschaftlichen Selbstverwaltung nicht auf dem Papier stehengeblieben ist. Die Tätigkeit der beiden genannten Körperschaften wird öfters einer berechtigten Kritik unterzogen. Man darf aber behaupten, daß der Grundsatz selbst sich trotzdem als gesund und fruchtbar erwiesen hat. Es genügt, hier als«in Beispiel anzuführen, daß in der zweiten Hälfte 1926 und in der ersten 1927 die Erhöhung der Kohlenpreise durch das Bestehen des Reichskohlenrates verhindert wurde, von sehr großer Bedeutung für die günstige allgemeine Konjuntwr- etitwicklung war. Die Idee der wirtschaftlichen Selbstverwaltung hat ohne Zweifel eine dauernde Bedeutung, da sie bei dem Aufbau der Gemeinwirtschost ein« große Rolle spielen wird. Di« wirtschaftliche Selbstverwaltung wird im Aufbau der demokratischen, d. h. in ihrer Vollendung der sozialistischen Wirtschaft ebenso notwendig fein, wie die kommunal« Selbstverwaltung im Aufbau de» demokratischen Staates notwendig ist. Durch die kommunale Selbstverwaltung läßt sich die wirtschaftliche Selbstwerwaltung nicht ersetzen. E» liegt aus der Hand, daß die wirtschaftliche Verwaltung z. B. der Leuna -Werk« nicht zur Kompetenz der Merseburger Kommunalverwaitung ge- hören kann, sondern zur Kompetenz des Selbstoerwoltungskörpers der chemischen Industrie gehören muß. Auch die beste Verfassung wirkt nicht von selbst, jede gibt ober Ansätze für das Handeln der Im Staate vorhandenen Kräfte. Wir sehen, daß die Weimarer Verfassung einig« sehr wert. voll« Ansätze für zukunftsreiche Entwicklung im Sinne der Demo- kratisterung der Wirtfchaft enthält. Die Reichsverfasfung erschöpfend auszunutzen, zu ergänzen und zu vollenden, ist die Aufgabe der Soziold«mokroti« und der Gewerkschasten. S, ist kein Zufall, bah fetzt auf der bürgerlicheo Seite soviel werk auf die„Auslegung" der Verfassung gelegt wird: man versucht auf diese Weise, die ver- sassung faktisch grundlegend umzugestalten und aus der Verfassung der llebergangszelt eine Verfassung der bürgerlich-kapitalisiischen Ordnung zu machen. Es gilt für uns jetzt als eine dringende Aus- gäbe, dlese versuche abzuwehren und darüber hiuav» zu einer politischen Vfsensive üb«rzugeh«a mit dem Ziel, obengeschilderte, in ihrer Tendenz wirtschastvdemokrnttjch« vestimmungen der Versassvng zu venvlrNicheo und weiter auszubauen.