Einzelbild herunterladen
 

Nr. 373 46. Jahrgang

9. Beilage des Vorwärts

Sonntag, 11. August 1929

Die Gewerkschaften und die Republik .

Um den sozialen Staat.

Von Fritz Tarnow .

Wer Geschichte begreifen will, darf nicht mit dem Zeit­maß des täglichen Lebens messen, sondern er muß das der Geschichte zur Hand nehmen. Nach einem Jahrzehnt demo­fratisch- parlamentarischer Republik sind gewiß noch viele unserer sozialen und politischen Wünsche unerfüllt geblieben und der wirklich soziale Staat mit sozialistischer Wirtschaft liegt immer noch in der Ferne. Aber nichts wäre für den weiteren Fortschritt gefährlicher, als das Erreichte unter­chätzen und nicht sehen zu wollen, welche tiefgreifenden Wand­tungen im Gefüge des Staates und der Gesellschaft bereits eingetreten sind. Der Unmut, daß es zu langsam vorwärts geht, muß verfliegen, wenn wir den zurückgelegten Weg und Die Zeitspanne, die dafür gebraucht wurde, mit den Augen der Geschichte betrachten. Das gilt für die ge wertschaft­liche Arbeiterbewegung vielleicht in einem noch höherem Maße als für die politische. Fast erscheint es heute unglaublich, daß erst 60 Jahr verflossen sind, seit

der alte Obrigkeitsstaat

den Arbeitern überhaupt erlaubte, sich zu organisieren. Dabei waren die ersten Jahrzehnte noch ganz ausgefüllt mit ver­zweifelten Rämpfen um die nackte Eristenz und das tatsäch

Theodor Leipart

Vorsitzender des ADGB.

liche Recht zur Ausübung der Koalition. Nicht nur das Unternehmertum warf sich dem mit unmenschlicher Brutalität entgegen, auch der Staat hielt seinen ganzen Verwaltungs-, Polizei- und Justizapparat gegen die Arbeiterbewegung ständig in Atem. Und als troßdem unter unsäglichen Mühen und Opfern ein halbes Hunderttausend Arbeiter in den Ge­werkschaften beieinander waren, schlug die Staatsgewalt mit der Knute des Sozialistengeseges furzerhand die Organisationen und das Koalitionsrecht wieder entzwei.

den Unternehmern wahrhaftig nicht einerlei, auf welcher Seite die Staatsgewalt steht. Wie immer man diese Rolle des Staates im ersten Jahrzehnt der Republik be­urteilen mag, so können doch nur ganz strupellose Dema­Beziehung der heutige Staat zu seinem Borteil ganz erheb gogen oder Narren zu leugnen wagen, daß sich in dieser lich von dem verflossenen unterscheidet. lich von dem verflossenen unterscheidet. Das parlamenta­rische Regierungssystem auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechtes und in einem Lande mit politischer Boltsmehr­heit gestattet feiner Regierungsmacht eine so grundsätzlich arbeiterfeindliche Politik, wie sie sich der Obrigkeitsstaat er­lauben fonnte. Die Garantien, die durch das verfassungs­mäßige Recht der Volksmehrheit gegeben sind, sind so wirk­jam, daß auch eine Bürgerblockregierung nichts riskieren Herzens und der kapitalistischen Interessen zu folgen. Die fonnte, der Arbeiterschaft gegenüber einfach der Stimme ihres Gewerkschaften befinden sich deshalb heute bei den direkten Auseinandersetzungen mit dem Unternehmertum dank der Staatsumwälzung

oder überhaupt nicht begreifen fönnen. Nur dadurch ist es möglich, daß die Kommunistische Partei ihre Anhänger Seite an Seite mit der monarchistischen Reaktion zu Sturm­angriffen gegen den republikanischen Staat führen kann. wollt, durch ihre eigene Entwicklung, der sie nicht entrinnen Die tapitalistische Wirtschaft kommt, wenn auch unge= tann, der Unterstellung unter die Gesellschaftskontrolle ent­gegen. Die individuelle Unternehmerwirtschaft hat sich bereits weitgehend umgewandelt zu follettivistischen Wirt­schaftsformen. Parallel damit ist zwangsläufig die Berbundenheit von Staat und Wirtschaft immer inniger und so stark geworden, daß beide Teile ohne­dem nicht mehr lebensfähig wären. Je weiter die Organi­fation der Wirtschaft fortschreitet, um so größer werden die Einfluß auf die Wirtschaftsführung und auf die Wirtschaft Möglichkeiten der Staatspolitik und der Gesellschaftsorgane, selbst zu nehmen.

Die Periode der vom Staate unabhängigen Wirtschaft ist endgültig vorbei und fann nicht mehr wiederkehren. in einer wesentlich günstigeren Pofition als früher. Der Einfluß des Staates auf die Wirtschaft wird in der Zu­Die gefeßliche Regelung des Tarifvertrags- funft immer mehr wachsen, gleichviel welches Staatsregime rechtes, die Neuregelung des Arbeitsrechtes am Ruder ist. Die Frage ist nur, wie dieser Einfluß aus­und der Arbeitsgerichtsbarkeit sowie das Schlichtungswesen das trotz aller berechtigten Rritif im einzelnen von den Gewerkschaften als wertvolles Hilfsmittel im Arbeitstampfe anerkannt und aus denselben Gründen von den Unternehmern wütend befämpft wird­sind erst in der Republik geschaffene Stügen, um die Rampf­erfolge auch zu sichern.

Wer unmittelbar von der Staatsumwälzung die Geburt der sozialistischen Gesellschaft erwartet hat, mag ent­täuscht worden sein, daß auf dem Gebiet der sozialen Gesetz gebung und Einrichtungen viele Wünsche noch nicht erfüllt find. Wer aber die geschichtlich notwendige Entwicklungszeit mit in Rechnung setzt und unvoreingenommen die sozialpoli­tischen Leistungen der Republik prüft, wird zugeben müssen, daß immerhin ganz Außerordentliches geschaffen worden ist. Dabei darf natürlich auch nicht übersehen werden, daß die Zerrüttung der Wirtschaft und die schwere finanzielle Be­drängnis in der Nachkriegszeit die fachlichen Voraus segungen für eine Erweiterung der sozialen Politik und Fürsorge sehr start beschränkten. Um so höher muß es ge­mertet werden, daß die verarmte Republif in ihrer Sozial­politit immer noch turmhoch über dem reicheren Obrigkeits­staat steht und eine Reihe wichtiger Gewerkschaftsforderungen erfüllt hat, die früher unter besseren Berhältnissen stets mit der Begründung abgelehnt wurden, daß sie wirtschaftlich und finanziell nicht tragbar feien.

geübt wird und wem er zugute fommt. Die Leute um 5ugenberg sind sich der Bedeutung dieser Frage durch­aus bewußt, wenn sie fieberhaft daran arbeiten, den Funda­geht vom Bolte aus" zu beseitigen. Es wäre nachgerade an mentalsatz der republikanischen Verfassung ,, die Staatsgewalt der Zeit, daß alle Teile des Proletariats ebenso klar erkennen würden, um was es geht.

Hebung der Lebenslage der breiten Masse für das gesamte Nie zuvor war der gewerkschaftliche Kampf um die Gesellschaftsleben von so entscheidender Bedeutung als in der gegenwärtigen Zeit der fieberhaften Rationalisierung und Er­weiterung der produktiven Kräfte.

Deswegen ist das Problem der Massentauffraft zum Zentralproblem der Gesamtwirtschaft und damit die Unterstützung des gewerkschaftlichen Kampfes zu einer dringenden Pflicht der Gesellschaft und des Staates geworden. Wir müssen allerdings von der Republik erwarten, daß sie sich im zweiten Jahrzehnt ihres Daseins dieser Pflicht noch beffer bewußt wird. Die Republik wird sich dieser Aufgabe bewußt werden müssen, wenn

die proletarische Volksmehrheit

die Macht begreift, die ihr durch die Weimarer Verfassung in Die Arbeitszeitgefeßgebung auf der Grund- die Hand gegeben ist. Es ist aber ein Verhängnis für die lage des Achtstundentages, das Betriebsrätegesez, deutsche Arbeiterschaft, daß ihr vom alten Regime die Auf­die neue Arbeitsgerichtsgefeggebung, die Or- fassung, daß Staat und Arbeiterklasse unversöhnliche Gegen­ganisation des Arbeitsmarftes und der Arbeitsfäße seien, so nachhaltig eingebleut worden ist, daß heute noch ämter, die Versorgung der Kriegsopfer und viele den Weg auch zum neuen Staate nicht finden können. ganz besonders die Arbeitslosenversicherung kennzeichnen die wichtigsten Ergebnisse aus der sozialpoliti Das gestattet der Reaktion und den fapitalistisch interessierten schen Werkstatt der Republik , neben dem Wiederaufbau und Minderheitsschichten noch immer, eine politische Rolle zu der Verbesserung der aus der Vorkriegszeit übernommenen spielen, die ihr nach der demokratischen Verfassung nicht mehr Sozialversicherung, der Berbesserung des gejez zutommt, die sich aber unheilvoll auch bei der Gestaltung der lichen Arbeiterschußes und manchem anderen. sozialen Verhältnisse auswirkt. Schon die bloße Tatsache, daß Unsere Forderungen gehen auf allen diesen Gebieten weiter, als die Gesetzgebung auch im neuen Staate bisher zu gehen bereitgewesen ist. Das darf uns nicht hindern, anzuerkennen, daß die Republit auf dem Wege zum sozialen Staate doch schon ein sehr weites Stück über die Linie des alten Staates hinaus vorgeschritten ist. Der alte Staat schaltete die Gemert­schaften von der

Einflußnahme auf die Staatspofifit und verwaltung Wohl erwies sich dieser Schlag für die Gewerkschaften deffen Organisationen die engste Fühlung unterhielt, die fyftematisch aus, während er mit dem Unternehmertum und ebensowenig tödlich wie für die Partei. Allen Verfolgungen, manchmal hart bis an die Grenze eines Hörigkeitsverhält Auflösungen und Bestrafungen zum Troß hatten die Gewerfnisses ging. Die Republik erkennt im Artikel 165 ber schaften am Ende des Ausnahmegesetzes 300 000 Mitglieder. Die Bewegung war mit dem Polizeifnüppel nicht mehr tot­zuschlagen. Auch in der Folgezeit bemühte sich die Staats­gewalt ebenso eifrig wie vergeblich, die Ausdehnung der Ge­werkschaftsbewegung zu verhindern. Aber das alles war doch nur möglich, indem die Gewerkschaften einen erheblichen Teil ihrer Kräfte für die Sicherung der eigenen Eristenz auf­wenden mußten und für ihre eigentlichen Aufgaben stark be­

hindert waren.

Die Erinnerung an diese Zeit der Bedrückung und Ber­folgung durch den Staat dürfte heute nicht überflüssig sein. Gewiß, auch wenn etwa die freiheitlich- demokratische Staats­form noch einmal von der reaktionär- obrigkeitlichen abge­löst werden könnte, würden die Gewerkschaften nicht mehr beseitigt werden können. Aber das Maß von Freiheit, daß fie für ihre Tätigkeit im Staate finden. ist von so entscheiden­der Bedeutung für die Erfolge ihres Kämpfens, daß fein ver­antwortlicher Gewerkschaftler sich danach sehnen wird, noch einmal die alten Zeiten zu durchleben.

Es liegt an ihren speziellen Aufgaben, daß das Interesse der Gewerkschaften noch stärker als das der Partei auf die demokratische Staatsform gerichtet ist. Die Ge­werkschaften können ihre Mitgliedermassen nicht mit Zukunfts­hoffnungen befriedigen, und es ist deswegen fein Zufall, daß die Kommunist en troß ihrer rein negierenden Ein­stellung zur Staatspolitik zwar ihre politische Partei auf rechterhalten fönnen, daß aber alle ihre Bersuche der gemert­

schaftlichen Organisation jämmerlich gescheitert sind. Auch die kommunistischen Arbeiter verlangen von ihrer Gewert schaft mehr als bloße Kritik an der kapitalistischen Ordnung.

Sie wollen

fatsächliche Gegenwartserfolge sehen, und selbst der radikalste kommunistische Arbeiter weiß die erweiterten Möglichkeiten, die den Gewerkschaften dafür in der Republik geboten sind, gegebenenfalls durchaus zu schäzen.

Für die Gewerkschaften ist es bei ihren Rämpfen mit

Weimarer Berfassung die Organisationen der Arbeit­nehmer und ihre Gleichberechtigung ausdrücklich an, nicht nur bei der Regelung der Lohn- und Arbeits­bedingungen", sondern ebenso bei der gesamten wirtschaftlichen Entwidlung der produt tiven Kräfte mitzumirten".

hinaus, was bisher erfüllt worden ist. Nur erst ein bescheide­Diese große Verheißung geht allerdings weit über das ner Anfang ist da: die gefeßliche Betriebsver­tretung, der vorläufige Reichswirtschafts­rat, bie Beteiligung der Gemertschaften an einer Reihe öffentlich- rechtlicher Einrichtungen und ihre Mitwirtung in wirtschafts- und sozial­politischen Ausschüssen zur Beratung der Staats­organe. Das sind alles nur erst Ansätze, deren praktische Be­deutung vorläufig ebensowenig überschätzt werden darf, wie ihre grundsägliche Bedeutung unterschätzt werden sollte. Denn

es find

Anfäße zur Demokratisierung der Wirtschaft, die ihre Fortsetzung finden müssen, wenn die demokratische Republik am Leben bleiben soll. Auf die Dauer sind eine demokratische Staatsverfassung und eine autokratische Wirt­schaftsverfassung miteinander nicht vereinbar, woraus sich denn auch die starten Spannungen erflären, denen wir fort gesetzt im politischen Leben ausgesetzt sind. Wer nicht will, daß die politische Demokratie wieder rüd­wärts revidiert werden soll, muß mit Hand anlegen, um auch die Wirtschaftsverfassung in der Richtung zur Demokratie vorwärts zu treiben. Es gibt im bürgerlichen Lager viele aufrichtige Freunde der politischen Demokratie, die diesen Zu sammenhang noch nicht begriffen haben. Aber ebenso auch umgefehrt: Wer die Umgestaltung der Wirtschaft von der Diktatur des kapitalistischen Systems zur Demokratie des Sozialismus will, muß die demokratische Staatsverfassung gegen jeden Angriff verteidigen. Hier sind es wiederum Teile der Arbeiterschaft, die diese Konsequenz nicht deutlich genug

Das Berliner Gewerkschaftshaus

die soziale Oberschicht den heutigen Staat mit derselben Leidenschaft bekämpft wie die flaffenbewußte Arbeiterschaft den alten Staat, sollte die Augen darüber öffnen, daß nun die Verteidigung der Republit zu einer wichtigen Aufgabe des proletarischen Klaffentampfes geworden ist.

Arbeiterschaft begreifen. Der Kampf zwischen Obrigkeits Das sollte nicht zuletzt die gewerkschaftlich organisierte staat und Republit ist nur die andere Seite desselben Kampfes, den sie tagtäglich mit dem Unternehmertum aus+ aufechten hat, des großen Kampfes zwischen Rapital und Arbeit. Gewiß ist die Republik noch fein Boltsstaat, wie wir ihn uns wünschen. Aber in ihr liegt be­reits das Fundament eines fünftigen sozialen Staates: das volle Selbstbestimmungsrecht eines Boltes gleichberechtigter Staatsbürger. Es hieße, den Glauben an die Richtigkeit unserer sozialen Idee aufgeben, wenn wir daran zweifeln wollten,

daß auf diesem Fundament der soziale Staat erftehen muß!